Armee des Schreckens
Sein Gesicht ist auf Postern, Hemden, Cupcakes und auf Transparenten und Plakatwänden im ganzen Land zu sehen. Das Bild des ägyptischen Präsidenten, des ehemaligen Armeechefs Abdel Fattah al-Sisi wurde bereits von vielen politischen Mitläufern und Unterstützern der Militärs zur Ikone erklärt, noch bevor er seine Präsidentschaftskandidatur bekanntgegeben hatte. Dies geschah inmitten einer nationalistischen Grundstimmung, kurz nachdem Mohammed Mursi im Sommer 2013 aus dem Amt vertrieben worden war.
Zur gleichen Zeit wie der einsetzende "Sisi-Personenkult" bildete die Graffiti-Kunst im Land ein politisches Gegengewicht und zeigte die andere Seite des Umsturzes – die des großen Blutvergießens, das auf die Abdankung Mursis folgte. "Al-Sisi ist ein Mörder" wurde von Anhängern Mursis und der Muslimbruderschaft überall in Kairo an die Wände gesprüht; und dieser Satz findet sich noch heute, selbst nahe des Präsidentenpalastes. Einige der Al-Sisi-Plakate weisen große Spritzer blutroter Farbe auf, was auf die Hinterlassenschaften seiner Kritiker hindeutet.
Auch finden sich aufwändig gestaltete Wandbilder etablierter Straßenkünstler, die ebenfalls auf die politischen Missstände in Ägypten hinweisen, die Abdel Fattah al-Sisi und seine vom Militär gestützte Regierung zu verantworten haben.
Eine Oase der Graffiti-Kunst findet sich in der Mohammed Mahmoud-Straße im Zentrum Kairos, unweit des Tahrir-Platzes. Hier sieht man ein Bild, das einen Soldaten zeigt, der sein Gewehr über den Rücken geworfen hat, inmitten eines Schädel-Haufens; Blut tropft ihm aus dem Mund. Das Graffiti mit dem Titel "Die Armee über alles" stammt von dem Künstler Fahmy, der auch unter dem Namen Ganzeer bekannt ist.
Stigma Muslimbruderschaft
Im vergangenen Mai fand sich sein Name auf einer von der Huffington Post veröffentlichten Liste weltweit aktiver Straßenkünstler, die die Kunstszene aufmischen und politisch äußern. Auch die regierungsnahen ägyptischen Medien sind in letzter Zeit auf Ganzeer aufmerksam geworden und beschuldigten ihn zu Unrecht, Mitglied der inzwischen verbotenen Muslimbruderschaft zu sein – ein gefährlicher Vorwurf, da die Organisation mittlerweile als Terrorgruppe eingestuft wird.
Erstmals war diese Anschuldigung von der bekannten Fernsehgröße Osama Kamal in seiner Sendung Al Raees Wel Nas ("Der Präsident und sein Volk") am 9. Mai 2014 erhoben worden. Direkt danach wurde sie in den beiden großen Tageszeitungen Youm 7 (im Privatbesitz) und Al-Gomhuria (in Staatsbesitz) wiederholt.
Ganzeer, der sich in seinen Werken oft auch kritisch mit Mursi und der Muslimbruderschaft auseinandergesetzt hat, bestreitet die Vorwürfe und antwortete mit einem Statement, dass er mit dem Titel "Wer hat Angst vor der Kunst?" umschrieb.
"Diejenigen, denen eine Verbindung zur Muslimbruderschaft und zu Mursi nachgesagt wird, werden in Massenprozessen zum Tode verurteilt, deshalb sollte mit solchen Anschuldigungen nicht leichtfertig um sich geworfen werden."
Die unbegründeten Vorwürfe werden vor dem Hintergrund einer Kampagne erhoben, bei der ägyptische, wie auch europäische, amerikanische und nordafrikanische Künstler Al-Sisi kritisieren und das brutale Vorgehen der Regierung wie die dahinterstehenden nationalistischen Haltung herausfordern. Ganzeer selbst hat Interviewanfragen in der Folge der Beschuldigungen abgelehnt, doch andere Künstler sagten gegenüber dem Online-Journal Al-Monitor, dass sie, obwohl sie um Ganzeers Sicherheit fürchteten, ihre Kampagne "Al-Sisis Kriegsverbrechen" weiterführen wollten.
Gegen das Vergessen: das Massaker von Rabia al-Adawiya
"Al-Sisi muss begreifen, dass jeder Schritt von ihm nun von einer größeren Öffentlichkeit aufmerksam verfolgt wird", bemerkt Ganzeers finnischer Mitstreiter Sampsa gegenüber Al-Monitor. "Wir werden weitermachen, bis die Politiker sich ernsthaft mit dem Massaker von Rabia auseinandersetzen, mit der Rolle Al-Sisi bei diesem Blutbad und mit dem Schicksal, das Ägypten unter seiner Herrschaft erwartet."
Auf die von großen Teilen der Bevölkerung unterstützte Absetzung Mursis folgte die brutale Einschüchterung und Unterdrückung der Kritiker der neuen Machthaber, wozu Tötungen von Mursi-Unterstützern und Masseninhaftierungen gehörten, sowie die Festnahme von Aktivisten und Journalisten.
Sampsa befand sich gemeinsam mit Ganzeer in Helsinki, als am 14. August des letzten Jahres die Nachricht bekannt wurde, dass es zu den schlimmsten Massentötungen der jüngeren ägyptischen Geschichte gekommen war, als die von Mursi-Anhängern aufgeschlagenen Protestlager Rabia al-Adawiya und Al-Nahda aufgelöst wurden.
"Wir sahen Youtube-Clips, wo man erkennen konnte, wie Ägypter getötet wurden", erzählt Sampsa. "Wie diese Videos bei Ganzeer eine abgrundtiefe Traurigkeit und Hilflosigkeit auslösten, berührte mich sehr." Deshalb bediente er sich seiner Kunst: So etwa in Brooklyn, wo er das Bild eines jungen Ägypters schuf, der noch während er erschossen wird, ein Peace-Zeichen in die Luft hält; und in Paris, wo er die weiß gezeichneten Umrisse menschlicher Leichen mit roter Farbe ausfüllte – Symbole der bei dem Massaker getöteten Opfer.
In Finnland hatte sich Samspa bereits einen Namen gemacht, als er für Änderungen im Urheberrecht eintrat, indem er sich seiner Straßenkunst bediente. "Solche Aktionen können auch andernorts umgesetzt werden", sagt er. "Ägyptische Künstler wissen ganz besonders um die Macht, die von der Straße wie auch von der Kunst ausgehen kann."
Als im Jahr 2011 die Proteste aufflammten, die den vormaligen Präsidenten Hosni Mubarak aus dem Amt fegten, "wurde fast jedes Ereignis auf den Straßen von Künstlern aufgegriffen", berichtet Basma Hamdy, Koautor des wichtigsten Buches über ägyptische Graffiti-Kunst, "Walls of Freedom", das die Blüte dieser Kunstform seit dem 25. Januar 2011 dokumentiert."Graffiti-Kunst war niemals einflussreicher, als sie es heute in Ägypten ist", meint der der deutsche Street-Art-Künstler Don "Stone" Karl, der ebenfalls an den "Walls of Freedom" mitgearbeitet hat, gegenüber dem Magazin Al-Monitor. "Wo konnte man sonst Mütter vor Mauern voller Graffiti um ihre getöteten Söhne weinen sehen? Und wo sonst konnte man Männer sehen, die vor den Porträts ihrer Freunde beteten?"
Straßenkunst als mächtige politische Waffe
Straßenkunst ist eine mächtige politische Waffe, die schnell zur "Stimme der Ägypter" wurde, sagt Hamdy. Sie wurde zur "Zeitung der Bevölkerung", und das mit einem subversiven Einschlag, fügt Karl hinzu. "Einige Botschaften waren wirklich gefährlich, weil sie Geschichten erzählten, die vom Staat, vom Militär und von der Polizei vertuscht werden sollten."
Schon bald, nachdem die Regierung ein Gesetz gegen "missbräuchliche Graffiti" verabschiedet hatte, wenige Monate nachdem Mursi aus dem Amt gejagt worden war, stellten sich Straßenkünstler hierauf ein, indem sie noch vorsichtiger arbeiteten, immer ein Auge vor möglichen Bedrohungen. Etwas Neues aber war dies nicht: Ganzeer wurde bereits 2011 vorübergehend verhaftet, weil er Poster aufgehängt hatte, die sich gegen den Obersten Rat derStreitkräfte richteten. 2012 fand sich Ganzeer gemeinsam mit dem Künstler Ammar Abu Bakr inmitten einer Menschenmenge wieder, als sie gerade an einem Wandbild arbeiteten, das auf der Grundlage eines in Alexandria geschossenen Fotos entstand, welches zeigt, wie zwei Militärpolizisten einen Mann wegschleppen.
In seinem Blog berichtete Ganzeer von der wütenden Reaktion eines der Schaulustigen, der von ihm verlangte: "Mach das sofort wieder weg!" Daraufhin entgegnete Ganzeer: "Warum wollen Sie die Wahrheit vor den Menschen verbergen?! Lassen Sie sie doch die Wahrheit sehen! Gehen Sie nach Hause und denken mal darüber nach!" Daraufhin erwiderte der Mann: "Aber wir wollen doch blind bleiben! Wir sind nun mal eine Nation von Feiglingen, oder nicht?"
In vorderster Reihe
Straßenkünstler in Ägypten waren immer recht selbstbewusst. Selbst bei gewaltsamen Zusammenstößen mit den Ordnungskräften sprayten und malten sie in vorderster Reihe, eingehüllt in Tränengas. Aber seit der Amtsenthebung Mursis "müssen sie äußerst vorsichtig sein", sagt Karl. Die Schmutzkampagne gegen Ganzeer ist dabei nur der jüngste Versuch, die Öffentlichkeit zu spalten, ergänzt Hamdy. "Das Ganze ist ein bekanntes politisches Manöver und zielt auf Panikmache ab." Die Künstler stellten sich daher auf diese Form der Einschüchterung ein und machten trotzdem mit ihrer Arbeit weiter.
Am 19. Mai schuf Sampsa in einem Pariser Studio sein letztes Werk, das Teil der #Al-Sisis Kriegsverbrechen-Kampagne sein sollte. Das Bild, das er an Künstler in Kairo schickte, damit diese es an öffentlichen Mauern anbringen, ist eine Darstellung Al-Sisis, breit grinsend und seine dabei Goldzähne zeigend, mit einem von Napoleon bekannten Zweispitz auf dem Kopf, einem T-Shirt der Band Metallica, das an deren "Kill them all"-Tour von 1983 erinnert und mit großen gelben Mickey Mouse-Schuhen an den Füßen. In einem Disney-Schriftzug steht darunter: "Military Coup".
Shadi Rahimi
Übersetzt aus dem Englischen von Daniel Kiecol
© Babelmed/Qantara.de 2014