Ton für Ton auf dem Weg zu Allah
Beim ersten Gig gibt es im Publikum schon ein paar erstaunte Blicke. Wer schon einmal die "Osmanische Herberge", Deutschlands bekanntestes Sufi-Zentrum, besucht hat, weiß dass Lebensfreude hier Gesetz ist. Doch "Peacock Butterfly" kreischen wie auf einem Hard-Rock-Konzert. Der Bassist der Band hat die Mütze tief ins Gesicht geschoben und wedelt mit den Haaren. "Bismillah-ir-Rahman-ir-Rahim" dröhnt es aus dem Mikrofon.
Das Publikum sitzt auf Stühlen und im Schneidersitz vor der Bühne. Ein paar Dutzend Zuschauer wippen mit, etwas verhalten. Die Männer tragen einfache Wollgewänder und Turbane, die um einen Spitzhut gewickelt werden.
In diesem Moment betritt Sheikh Hassan Dyck die Halle. Der Leiter der Herberge hat einen Turban auf, der genauso weiß ist wie sein langer Bart. Durch kreisrunde Brillengläser blickt er in die Runde.
Plötzlich reckt der Sheikh die Hand empor und schwingt sie wie ein Metal-Fan, der zum Takt seiner Lieblingsgruppe rockt. Dann fordert er die Menge zum Tanzen auf. Mit langem Gesicht imitiert er die schüchternen Zuschauer. Bald springen die ersten auf und hüpfen auf den Teppichen. Über ihnen, an der Decke, Koranverse. Ein hölzerner Mihrab weist in der Ecke die Richtung nach Mekka. Bunt gepinselte Ornamente verzieren die Fenster.
"Das Herz des Islam"
Einmal im Jahr am letzten Wochenende vor Ramadan lädt die Osmanische Herberge ein, Vielfalt zu kosten. Zum "Sufi Soul Festival" teilen sich Hardrocker und Liedermacher, pakistanische Folklore und arabischer A-Capella-Gesang zwei Tage lang die Bühne. Sufis, Anhänger des mystischen Pfads im Islam, reisen dafür aus ganz Europa an. Auch ein paar Nachbarn aus dem Umkreis sind nach Kall-Sötenich gekommen. Das Zentrum der Nakschbandi-Sufis in Deutschland liegt in einem Dorf in der Nordeifel, etwa eine Stunde Autofahrt von Köln.
"In jedem Dorf auf der Welt sind die Menschen misstrauisch", meint Sheikh Hassan in der Gaststube der Herberge. Sein Zentrum steht allen jederzeit offen. Und doch kommen nur wenige von außerhalb. Die Sufis müssen vielen hier wie Außerirdische erscheinen. Lange Bärte und bunte Turbane kennt man sonst nur vom Karneval.
Die Nakschbandiyya ist ein Sufiorden, der seinen Ursprung in Zentralasien hat. Während die meisten Sufiorden ihre Gründung auf Ali, den Schwiegersohn Muhammads, zurückführen reicht die Ordenslinie der Nakschbandis bis zum Propheten selbst zurück. Spirituelles Oberhaupt des Nakschbandi-Hakkani-Zweigs, zu dem das Zentrum in der Eifel gehört, ist der auf Zypern residierende Großsheikh Nazim.
Sheikh Hassan, der als Stellvertreter des Großsheikhs in Deutschland fungiert, hat sich ein Glas Leitungswasser geholt. Er ist bescheiden und authentisch. Früher saßen an den altbackenen Holztischen Kegelspieler. Damals war die Osmanische Herberge noch ein Landhotel. Heute gibt es orientalische Sitzkissen, arabische Kalligraphie und Schwarztee in Gläsern.
Sheikh Hassan, gebürtig Peter Dyck, kam im Studium über indische Musik zum Islam. Noch heute tritt er mit seinem Cello auf. Bei seinen Konzerten verbindet er Sufi-Weisheiten mit Streicherklängen. "Sufismus ist das Herz des Islams. Sufismus ohne Islam geht nicht und Islam ohne Sufismus geht auch nicht", sagt Sheikh Hassan. Es brauche im Glauben Regeln genauso wie die Liebe und einen mystischen Kern. "Es ist wie bei einer Kokosnuss: Die süße Milch wird von einer harten Schale umgeben, durch die man zunächst vordringen muss." Toleranz ist für Sheikh Hassan oberste Tugend, eine Grundvoraussetzung des Sufi-Weges. Ohne Toleranz gibt es für ihn kein Menschsein.
Pakistanische Qawwali in der Eifel
Die Osmanische Herberge wurde Mitte der 1990er Jahre im Auftrag des Großsheikhs eröffnet. Vorher lebte Sheikh Hassan ein Jahr in Mekka, betrieb darauf ein Zentrum in Düsseldorf. "Manchmal frage ich mich, warum es uns gerade in die Eifel verschlagen hat!" Er zuckt mit den Achseln. Gottes Wege sind unergründlich.
Wann gibt es in einem so unscheinbaren Dorf schon einen solchen Anblick, mag man sich fragen. Im Hof der Herberge sitzen alle auf Bänken: Deutsche, Türken, Araber, Pakistanis, Afghanen und Afrikaner. Am Rand werden Falafel und Döner verkauft. Der Erlös geht als Spende an das Zentrum.
Plötzlich tönt aus einer Ecke Musik. Ein paar Sänger haben sich zusammengefunden. Hinter dem Zeltdach prasselt der Regen herunter. Afrikanische Trommeln und die rhythmischen Anschläge des Harmoniums, begleitet von lautem Klatschen, verschmelzen zu einem musikalischen Fluss. Ein pakistanischer Sufi singt dazu Qawwali-Hymnen, jene ekstatischen Sufigesänge aus dem indo-pakistanischen Raum. Die Klänge elektrisieren. Eine Hand voll Frauen tanzt ausgelassen und mit geschlossenen Augen durch das Zelt.
Am Samstagabend tritt Mahmud Sabri auf. Der Mann mit einer bunten kreisrunden Kappe auf dem Kopf ist ein Dauerbrenner des Festivals. Einst gehörte Mahmud Sabri den berühmten Sabri Brothers an. Die Gruppe, die Sabris mittlerweile verstorbenen Brüder anführten, ist in Pakistan legendär. Mahmud Sabri lässt den Qawwali seiner Familie nun in Deutschland weiterleben.
Auch Sheikh Hassan sitzt bei Sabris Auftritt auf der Bühne und wiegt seinen Kopf genüsslich im Takt. Wer die Töne von Sabri vernimmt, versteht wie untrennbar Musik und Glaube hier miteinander verwoben werden. Bis zwei in der Nacht wird der Gesang nicht abreißen.
Danach verwandelt sich die Halle der Osmanischen Herberge für ein paar Stunden in einen Schlafsaal. Überall werden Matratzen ausgerollt. Allgemeines Schnarchen erfüllt die Luft. Schon um halb vier Uhr in der Frühe gibt es ein kollektives Erwachen zum Morgengebet. Erst danach wird weitergeschlafen.
Fanatikern ein Dorn im Auge
Die direkte Gotteserfahrung der Sufis war den Dogmatikern immer schon zuwider. "Für keinen sind die Extremisten ein größerer Feind als für mich", sagt Sheikh Hassan und wirft die Hände in die Luft. Das Thema lässt ihn wütend werden.
"1300 Jahre lang hat der Islam geblüht und große Kulturen hervorgebracht. Wo in der Geschichte gibt es ein vergleichbares historisches Ereignis, das in kurzer Zeit derart erfolgreich war? Und dann kommen ein paar Menschen und erklären all das für ungültig", ruft er hervor. Damit spielt er auf die Wahhabiten und ihre Brüder im Geiste, die Salafisten, an.
Sheikh Hassan und seine Herberge haben längst Drohungen von Fanatikern erhalten. Der Sufismus ist nicht nur in Pakistan den Extremisten ein Dorn im Auge. In den vergangenen Jahren fielen dort vermehrt Sufischreine Anschlägen zum Opfer.
Eigentlich seien doch die Sufis für Deutschland die besten Partner, um Extremismus zu bekämpfen, meint Sheikh Hassan. Über die Salafismus-Debatte kann er nur den Kopf schütteln. Bisher habe die deutsche Regierung nicht mit den Nakschbandis geredet. Die Sufis würden in den Islam-Dialog gar nicht erst eingebunden.
"Wir leben im Zeitalter der Ignoranz. Der Mensch wird nicht mehr ganzheitlich gesehen", sagt Sheikh Hassan und schaut seinen Gegenüber eindringlich an. Die Osmanische Herberge möchte mit einer Kultur des Dialogs gegen diese Ignoranz wirken.
Immer wieder kommen Menschen an den Tisch, begrüßen ihren Sheikh. Der kennt hier jeden einzeln, erkundigt sich nach Familie und Wohlbefinden. Auch zahlreiche Deutsche haben über die Osmanische Herberge zum Islam gefunden. Vielen von ihnen erging es dabei wie einst Sheikh Hassan: Es war die Musik, die ihnen die Tür zum Sufismus öffnete.
Marian Brehmer
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Redaktion: Nimet Seker/Qantara.de