Aus der Sufi-Nische zum Festival-Hit

Das Schallen der Kastagnetten ist zu hören, bunte Fahnen tauchen im Stadttor auf und schließlich kommen sie zu unterschiedlichen Rhythmen in die Altstadt von Essaouira getanzt, die Gnaoua-Bruderschaften. Jede Bruderschaft mit einer individuell gestalteten Djellaba, einem bodenlangen Überwurf. Gemein sind ihnen nur die Filzhüte, deren Bommel sie stetig um den Kopf kreisen lassen.
Mit dieser Parade hielt im Juni zum 26. Mal die Magie des „Gnaoua and World Music Festival“ Einzug in das von dicken Stadtmauern umgebene Essaouira an Marokkos Atlantikküste. Das Festival ist das Heimspiel des Gnaoua, ursprünglich eine durch Musik begleitete Sufi-Praxis der gleichnamigen ethnischen Gruppe und mittlerweile auch eine international gefeierte Musikrichtung.
„Mit dem Gnaoua ist immer eine spirituelle Begegnung verbunden“, meint Houssam Gania. Er tritt bei der Eröffnung auf dem am Hafen gelegenen Moulay-Hassan-Platz in einer himmelblauen Djellaba mit seinem Guembri auf, einem Saiteninstrument speziell für den Gnaoua.
Seine ebenfalls in blau gehüllten Mitspieler spielen die Qraqebs, Kastagnetten, die schallend den sich stetig beschleunigenden Takt angeben. Ganias roter Guembri fällt aus dem farblichen Rahmen. Mit seinem dumpfen Klang hat er eine beruhigende Wirkung, die im Kontrast zum aufgeregten Spiel der Kastagnetten steht.

Tradition trifft Spiritualität
Die wohligen Klänge aus dem Guembri hervorzulocken und somit die Gnaoua-Truppe anzuführen, das macht Houssam Gania zum Gnaoua-Maâlem, einem Gelehrten dieser Musik. Gleichzeitig ist Gania aber auch ein spiritueller Maâlem, aus einer Gnaoua-Familie aus Essaouira, die seit Generationen den spirituellen Gnaoua praktiziert. „Nicht ich habe den Gnaoua ausgewählt, sondern der Gnaoua mich. Durch meine Familie und meine Umgebung war mein Weg vorbestimmt“, erklärt er.
Um ausschließlich im musikalischen Sinne Maâlem zu sein, muss man nicht aus einer traditionellen Gnaoua-Familie stammen. Auch andere können mit dem Guembri eine Gnaoua-Gruppe gründen. Mit Asmaa Hamzaoui und Hind Ennaira haben es auch zwei Frauen zum Status der musikalischen Maâlema geschafft.
Der Zuwachs der Gnaoua-Community der letzten Jahre kommt nicht von ungefähr, sondern ist das Verdienst des „Gnaoua and World Music Festival“, meint die aus Tanger stammende Maha Marouan im Gespräch mit Qantara. Sie beschäftigt sich an der Pennsylvania State University mit den Überschneidungen von Ethnie, Geschlecht und Religion in Afrika und in der afrikanischen Diaspora.
Bevor das Festival der Gnaoua-Musik den Weg in die Popkultur bereitete, seien die Gnaoua eine marginalisierte Gruppe gewesen, die ursprünglich durch den Sklavenhandel aus Westafrika nach Marokko gekommen waren, erklärt Marouan. Seit der Abschaffung der Sklaverei in Marokko 1920 verdienen sie ihren Lebensunterhalt mit Zeremonien und Spektakeln.

Das bittere Erbe der ehemaligen Sklaven
Im südöstlich gelegenen tunesischen Gouvernement Medenine erschloss die Musik den sozial marginalisierten Schwarzen nach ihrer Freilassung aus der Sklaverei den Weg zu etwas mehr Selbstbestimmung. Doch damit gibt sich die jüngere Generation heute nicht mehr zufrieden. Von Marta Scaglioni
In den 1990ern gründete die marokkanische Geschäftsfrau Neila Tazi das Festival. Durch das Interesse, das der Globale Norden in der Folge am Gnaoua entwickelte, fing auch die marokkanische Mehrheitsgesellschaft an, sich differenziert mit dem Gnaoua auseinanderzusetzen. „Alles, was in Europa oder den USA angesagt ist, kommt auch in Marokko in Mode“, ist Marouans Fazit.
Gnaoua als Spiegel gesellschaftlicher Veränderung
„Der Gnaoua ist etwas ganz Besonderes für mich, es ist etwas, das aus meinem Innersten kommt“, beschreibt Houssam Gania im Gespräch mit Qantara. In Turnschuhen und Alltagskleidung erklärt er geduldig die Essenz des Gnaoua. „Viele Marokkaner schätzen den Gnaoua, aber es gibt auch Menschen, die ihn als Hexerei verstehen und ablehnen.“
Ursprünglich ist die Gnaoua-Musik Bestandteil einer nächtlichen Zeremonie, die sich über mehrere Stunden hinzieht, und dazu dient, Besessenheit oder negative Energie auszutreiben. Dazu beschwört der Maâlem gemeinsam mit den Moqaddimas, sich in Trance tanzenden Frauen, Dschinns und andere religiöse Figuren herauf.

Inspiriert vom Göttlichen
Der marokkanische Musiker Simo Lagnawi wuchs in der Gnawa-Tradition auf und ist ein mit vielen Preisen ausgezeichneter Botschafter dieses Genres. Auch wenn er moderne Elemente in seiner Musik integriert, bleibt der Ausnahmemusiker bis heute dem traditionellen Gnawa-Erbe treu. Richard Marcus stellt sein neues Album vor.
In der Musik, der spirituellen Praxis und den Texten zeigt sich, dass der Gnaoua das Produkt des Aufeinandertreffens unterschiedlicher Kulturen ist: Gesungen wird meist in Darija, dem marokkanischen Arabisch, mit einigen Worten aus westafrikanischen Sprachen wie dem Hausa. Die spirituellen Rituale sind ebenfalls eine Mischung aus westafrikanischen Religionen, haben Elemente aus dem Judentum und werden als Sufi-Praxis definiert.
„Diese nicht-puristische Islam-Interpretation bestätigt viele Marokkaner:innen in ihrem Vorurteil, dass in Marokko als Schwarz definierte Menschen Ungläubige sind“, so Maha Marouan. In weiten Teilen der marokkanischen Gesellschaft bestehe bis heute die Annahme, dass Menschen aus Ländern südlich der Sahara Ungläubige, also Nicht-Muslim:innen, seien. Laut Marouan habe das Königreich so jahrhundertelang die Versklavung dieser Menschen gerechtfertigt. Ein Teil der marokkanischen Geschichte, der bis heute tabuisiert wird.
Das Geheimnis um die Lila-Rituale
Um ein Gespür für die umstrittenen Zeremonien, Lila genannt, zu bekommen, führt der Weg durch enge Gassen, deren feuchte Luft die heißen Juninächte auffrischt, in eine Zaouia, den Ort der spirituellen Gnaoua-Rituale.
Hinter einer grünen Metalltür eröffnet sich der Innenhof der Zaouia, an dessen Ende Maâlem Baghni mit seiner Truppe auf einem rotgemusterten Teppich sitzt. Um sie herum die Gäste des intimen Konzerts; viele wiegen mit geschlossenen Augen im Takt. Der Maâlem singt vor und die Truppe und das Publikum singen die Response, die im Innenhof der Zaouia widerhallt, während die Möwen gespenstisch darüber hinwegschweben.
Ob der Gnaoua wirklich über seinen spirituellen Rahmen hinaustreten soll, das ist unter den Maâlems umstritten. Gerade viele Maâlems der vorigen Generation waren skeptisch gegenüber dem Konzept des Festivals in Essaouira.
Ein Plakat von dem 2010 verstorbenen Maâlem Adeslam Belghiti, das zwischen den farbenfroh gefliesten Wandsäulen in einer Konditorei in Essaouira hängt, wirkt wie ein Mahnmal. Es beschreibt neben einem Schwarzweißfoto des Maâlems sein Leben und Wirken im Gnaoua-Orden. Abdeslam Belghiti setzte sich für eine puristische Ausübung der spirituellen Gnaoua-Praxis ein. Die Maâlems sollten sich auf den Erhalt der komplexen Riten, die sich in jeder Bruderschaft unterscheiden, konzentrieren.
Maryam Mtiraoui, eine tunesische Journalistin und Expertin des tunesischen Pendants des Gnaoua, Stambeli, sieht das anders: „Es ist weitsichtig, dass sich der Gnaoua in Marokko öffnet. In Tunesien ist dieser Schritt nie passiert und heute haben wir nur noch zwei Maâlems, die ihr Wissen bisher nicht weitergegeben haben. Es besteht die Gefahr, dass der Gnaoua in Tunesien bald ausstirbt.“
Offen für Fusion-Projekte
Abgesehen von der Öffnung des Gnaoua für ein breites, nicht unbedingt religiöses Publikum, trägt die Möglichkeit für Frauen und Menschen, fernab der Gnaoua-Bruderschaften Maâlems im musikalischen Sinne zu werden, zur Bewahrung der Gnaoua-Musik bei. Das Festival steht zudem für die Weiterentwicklung des Gnaoua in Fusion-Projekten, wie das von Maâlem Houssam Gania und dem renommierten Jazz-Schlagzeuger Marcus Gilmore.
Nach seinem Gnaoua-Konzert steht Houssam Gania deshalb eine Stunde später wieder auf der Bühne des gefüllten Platzes zwischen Altstadt und Hafen; diesmal in Begleitung Marcus Gilmores und Band. Als Gastgeber gibt Gania mit dem Guembri den Ton an und tritt immer wieder in direkten Austausch mit den einzelnen Jazz-Musikern. Diese scheint wiederum das Schallen der Qraqeb in den Bann gezogen zu haben, auf deren Basis die beiden Musiktraditionen kommunizieren.
Die gemeinsame Arbeit in dem Fusion-Projekt sei ihnen leicht von der Hand gegangen, erzählt Houssam Gania. „Beide Musikrichtungen haben schließlich ihre Wurzeln hier in Afrika“, sagt er und ist stolz auf die westafrikanischen Ursprünge des Gnaoua und seiner eigenen Familie.
Das ist in der marokkanischen Bevölkerung keine Selbstverständlichkeit, wie Maha Marouan herausstellt: „In Marokko gibt es diese Haltung, dass man überlegen sei gegenüber den Ländern südlich der Sahara.“ Dieser Gedanke gehe auf die Kategorisierung zurück, die die ehemalige Kolonialmacht Frankreich zwischen dem „fast-weißen“ Nordafrika und dem „schwarzen“ Afrika vorgenommen habe.
Während eine frische Meeresbrise durch das tanzende und singende Publikum fährt, geben die Musiker der Gania-Gilmore-Fusion noch einmal alles. Die Kastagnetten-Spieler beschleunigen den Rhythmus, Gilmore improvisiert kraftvoll zu deren Beat und Houssam Gania schlägt ein letztes Mal in die Saiten seines Guembris – und dann Stille und tosender Applaus.
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