Zwischen Hoffnung und Realität

Regisseur Marcus Vetter schildert in seinem Dokumentarfilm "Cinema Jenin" den Wiederaufbau des gleichnamigen Filmtheaters im Westjordanland. Es ist ein Projekt zwischen Hoffnung und Kriegsrealität. Von Bernd Sobolla

Natürlich wäre "Cinema Jenin" ohne den Film "Das Herz von Jenin" nie entstanden. Im Mittelpunkt dieses Films steht der Palästinenser Ismail Khatib, dessen 11jähriger Sohn Ahmed 2005 durch die Kugel eines israelischen Soldaten in Jenin zu Tode kam. Um die Spirale des Hasses zu durchbrechen, entschloss sich Khatib damals, die Organe seines Sohnes israelischen Kindern zu spenden. Marcus Vetter und sein Partner Leon Geller begleiteten Ismael Khatib 2008 mit der Kamera auf einer Reise durch Israel, um jene Kinder zu besuchen, die mit den Organen seines Sohnes leben. Der Film "Das Herz von Jenin" gewann 2009 den "Cinema for Peace Award" und 2010 den Deutschen Filmpreis. Ein Film, der zudem weltweit die Herzen der Kinobesucher eroberte.

Am Abend, als "Das Herz von Jenin" 2008 in Jenin gezeigt wird, schlendern Vetter und Khatib durch die Straßen von Jenin und entdecken die Reste des "Cinema Jenin", das 1987 während der ersten Intifada geschlossen wurde und seither leer steht. Marcus Vetter kommt die Idee, das alte Filmtheater wieder aufzubauen: "Wenn man so viele Filme gemacht hat, wird einem klar: Ein Kinofilm bewegt vielleicht viele Zuschauer, aber vor Ort ändert sich nichts". Angezogen von den Widersprüchen und Widerständen im Nahen Osten und gemeinsam mit Ismael Khatib und Fakhri Hamad, dem Übersetzer von Ismail, will er deshalb mit dem Aufbaue des "Cinema Jenin" ein ambitioniertes Kulturprojekt in Angriff nehmen. Dass er die Arbeiten dazu mit der Kamera begleitete und von Aleksei Bakri und Mareike Müller filmen lässt, versteht sich von selbst.

Ein Zeichen der Hoffnung

Marcus Vetter; Foto: © Senator Filmverleih
Der Filmemacher Marcus Vetter behielt seine Vision im Blick: Das Kino wurde mit der Hilfe dutzender palästinensischer und ausländischer Freiwilliger wieder aufgebaut. Heute umschließt der Komplex einen Kinosaal mit 350 Sitzen, ein Freilichtkino im angrenzenden Garten, ein Café, ein Gästehaus, eine Filmbibliothek und ein Tonstudio.

​​"In Palästina gab es früher viele moderne Kinos. Die Menschen standen Schlange, um Filme zu sehen", heißt es am Anfang des Films. "Frauen trugen Miniröcke statt Kopftücher. Wir stellen uns vor, wie es wäre, wenn in Jenin wieder Filme gezeigt würden. Wir haben einen gemeinsamen Traum". Doch zunächst ist der Traum unter einer zentimeterdicken Staubschicht verschüttet. Die Mauern sind marode und aus den übriggebliebenen Kinositzen stechen die Spiralen hervor. Durch zerborstene Fenster kommen einige Sonnenstrahlen hindurch und beleuchten das Elend. Und plötzlich, fast wie zum Trotz, schreckt die Kamera zwei Tauben auf, die in die Höhe steigen.

Es ist ein Zeichen der Hoffnung. Doch der Aufbau ist extrem mühevoll. Und wenn Marcus Vetter fragt, ob denn das Projekt von den Mächtigen in Jenin unterstützt wird, bekommt er meist ein "Nein, ich glaube nicht" zu hören. Vetter bleibt stur: "Wir versuchen es trotzdem!" Hier muss man einfügen, dass Jenin mit seinem Flüchtlingslager, aus dem viele Selbstmordattentäter kamen, als Terrorhochburg galt.

Mit Geldern aus Deutschland (das Auswärtige Amt unter Frank Walter Steinmeier unterstützte das Projekt nachhaltig), der palästinensischen Autonomiebehörde und Spenden wird das Projekt angeschoben. Dann kommen viele freiwillige Helfer aus der ganzen Welt nach Jenin. Doch die Widerstände in den eigenen palästinensischen Reihen sind stark. Die Palästinenser stehen dem Projekt zwar wohlwollend gegenüber. Aber die Initiatoren sind ihnen nicht politisch genug. Einige befürchten gar, dass ein neu eröffnetes Kino eine Art Normalisierung vorgaukeln würde, die schlicht nicht existiert.

Kein Kino für den Frieden

Cinema Jenin; Foto: © Senator Filmverleih
Seit zwei Jahrzehnten ungenutzt: Das "Cinema Jenin" wurde Anfang der 1960er Jahre gebaut und war bis zu seiner Schließung beim Ausbruch der ersten Intifada 1987 eines der größten und bemerkenswertesten Kinos in Palästina.

​​Da unter den Palästinenser ein großes Misstrauen gegenüber allen "Friedensaktivitäten" herrscht, wird "Cinema Jenin" nicht als "Cinema for Peace" vorgestellt, sondern als ein großes kulturelles Projekt. "Wir wollten in Jenin ein Kino aufbauen, das den Bewohnern ihre Würde wieder gibt. Die Israelis bezeichnen die Palästinenser oft als Kulturbanausen, was sie ganz bestimmt nicht sind", erläutert Marcus Vetter. "Wenn sich das einmal durchgesetzt hat und das Kino eine eigene Seele hat, kann es ein großer Erfolg werden".

Der Film schildert das langwierige Ringen um das ungewöhnliche Projekt: Immer wieder geht es um Geld, tauchen plötzlich weitere Besitzer des Gebäudes auf, die Ansprüche anmelden. Bereits unterzeichnete Verträge müssen überarbeitet und erweitert werden. Und Marcus Vetter ist oft der Verzweiflung nahe. Außerdem müssen er und seine Partner im Bürokratie-Dschungel des Palästinensergebietes Misstrauen und Vorurteile überwinden. Was zuweilen recht komisch wirkt, wenn zum Beispiel längst zugesagte Gelder nicht überwiesen werden und man zum x-ten Mal bei der Autonomiebehörde vorstellig wird.

Als Israel dann Ende 2008 in den Gaza-Streifen einmarschiert, taucht zwangsläufig eine entscheidende Frage auf: Soll das "Cinema Jenin" ein Instrument des Widerstandes werden oder geht es einfach "nur" darum, ein gutes Kino zu etablieren? Schließlich wird das Filmtheater im August 2010 wiedereröffnet. Zur Einweihungsfeier kommt unter anderem Zakariya Zubadi, der Leiter der al-Aqsa-Brigaden. Er nimmt auf dem Podium Platz und spricht davon, dass er seine Pistole (wie immer) auch hier im Kino bei sich habe. Ein Happy End ist unter diesen Umständen natürlich nicht möglich. Und acht Monate später wird Juliano Mer-Khamis von Unbekannten ermordet. Der Leiter des "Freedom Theaters Jenin" unterstützte die Macher des "Cinema Jenin" von Anbeginn. Sein Tod erschüttert alle und zeigt, wie weit Jenin von Normalität entfernt ist - auch nach der Eröffnung des "Cinema Jenin".

Bernd Sobolla

© Deutsche Welle 2012

Redaktion: Arian Fariborz/ Qantara.de