Wenn Musik ein Leben rettet
Schnee bedeckt die Straßen Wiesbadens, dämpft die Geräusche der belebten Stadt. Einzig das Knirschen von Schritten dringt deutlich hervor. Ein junger Mann geht die Wilhelmstraße entlang. Er wickelt seine dünne Jacke enger um die schmalen Schultern, zieht die Nase hoch.
"Können wir das noch mal machen?", fragt der Kameramann bei den Dreharbeiten zum multimedialen DW-Special "Nach der Flucht" und winkt dem jungen Mann zu. Der sprintet zurück auf seine Startposition für den Gang vor der Kamera. Er hat Geduld. Trotz der klirrenden Januarkälte und seiner laufenden Nase.
Hier und doch nicht hier
"Wenn ich diese Straße entlang laufe, muss ich immer an Damaskus denken", erzählt er im Interview. "Ich muss daran denken, wie meine Frau und ich durch die Altstadt spazierten. Wir dachten, wir hätten unendlich Zeit."
Das Damaskus, das Aeham Ahmad kannte, existiert nicht mehr. Unzählige Bomben sind darauf niedergeprasselt, Kämpfer sind durch die verwinkelten Straßen gezogen, haben geplündert und getötet. Aeham Ahmad hat sich lange nicht von der Zerstörung einschüchtern lassen. Fast täglich hat er mit seinen Freunden sein Klavier in die Ruinen gezogen und gespielt, um den Menschen und vor allem den Kindern Mut zu machen. Freunde filmen ihn dabei. Über das Internet wird er als "Pianist aus den Trümmern" weltweit berühmt.
Er spielte und spielte: gegen den Hass, den Krieg, den Hunger. Eines Tages schlug eine Granate ganz in seiner Nähe ein. Dabei verletzte er sich an einer Hand und im Gesicht, er kam nur knapp mit dem Leben davon. Eine Narbe oberhalb der Augenbraue und seine triefende Nase zeugen davon. Die wird er seitdem nicht mehr los.
Ein schicksalhafter 27. Geburtstag
Viel schlimmer als das sind manche Erinnerungen: "Zeinab war ein kleines Mädchen, das immer zum Singen kam. Eines Tages wurde sie von einer verirrten Kugel getroffen, direkt neben meinem Klavier. Sie war sofort tot." Nach diesem Tag wollte Ahmad nicht mehr spielen. Aber seine Freunde baten ihn, nicht aufzugeben. Und so machte er weiter bis zu jenem schicksalhaften Tag im April 2015. Ein Freund und sein Vater begleiteten ihn.
Es war Ahmads 27. Geburtstag. Als sie das Klavier von Aeham Ahmad über einen IS-Checkpoint schmuggeln wollten, stellten sie die Kontrolleure mit ihren Kalaschnikows zur Rede. Die Kämpfer verbrannten das Klavier, denn Musik ist für sie Frevel. Ahmads blinder Vater stellte sich schützend vor seinen Sohn und dessen Freund und behauptete, das Klavier gehöre ihm und er kenne die jungen Männer nicht. Das verhinderte möglicherweise Schlimmeres.
Die Angst, die Ahmad damals empfunden haben mag, spricht noch immer aus seinen dunklen Augen. Sie wird ihn vermutlich niemals gänzlich verlassen. Im Gespräch ist er trotzdem offen und jungenhaft. Kommt er erst einmal in Fahrt, redet er wie ein Wasserfall und lacht sogar. Doch von jetzt auf gleich bricht sich dann wieder die Wehmut Bahn. Etwa wenn er auf seine Eltern zu sprechen kommt, die noch immer in Jarmuk sind. Oder seinen Bruder Alaa, der seit 2013 vermisst wird.
Geboren und aufgewachsen ist Aeham Ahmad in eben jenem Flüchtlingscamp im Herzen von Damaskus. Er gehört der palästinensischen Minderheit in Syrien an. Sein Vater, ein blinder Instrumentenbauer, förderte früh Ahmads musikalisches Talent: Ab seinem fünften Lebensjahr erhielt er Klavierunterricht und studierte später Musik in Damaskus und Homs. Pianist zu werden, war aber nie sein Traum. Eher der seines Vaters.
Pianist wider Willen
Nachdem das Klavier zerstört war, packte Ahmad die Angst. Gemeinsam mit seiner Frau Tahani und den beiden kleinen Söhnen Ahmad und Kinan trat er die Flucht an. Die Familie kam nicht weit: Soldaten griffen sie auf und sperrten sie in ein Gefängnis vor den Toren Damaskus', ein. Erst nach mehreren Tagen kamen sie wie durch ein Wunder frei.
Danach trafen sie die schreckliche Entscheidung: Tahani und die Kinder gingen zurück nach Damaskus, Ahmad floh allein gen Westen – über die Türkei, Griechenland, Serbien, Kroatien und Österreich. Im September 2015 erreichte er München und wurde von dort aus Olpe, Kirschheim, Münster, Gießen, schließlich der hessischen Landeshauptstadt Wiesbaden zugeteilt.
Gäbe es den Krieg nicht, so hätte die Welt womöglich nie von Aeham Ahamd erfahren. Und hätte er seine berührende Musik nicht mit der Welt geteilt, so hätte er vielleicht auch nicht so schnell Fuß gefasst in Deutschland.
Seine Musik öffnete ihm Türen
Aeham Ahmad hatte auch durch seine Videos von Anfang an "Freunde" in Deutschland. Und so luden ihn berühmte deutsche Künstler, etwa Herbert Grönemeyer oder Judith Holofernes, zu Gastauftritten ein. Nach und nach gelang es Ahmad, mit seiner Musik Geld zu verdienen und sich eine Existenz in Deutschland aufzubauen.
Im August 2016 ging sein größter Wunsch in Erfüllung: Nach einem langen Jahr der Trennung konnte er seine Frau und die beiden Kindern wieder in die Arme schließen. Die Familie lebt mittlerweile gemeinsam in einer kleinen Wohnung in Wiesbaden.
Doch trotz seiner musikalischen Erfolge, befürchtet Aeham Ahmad, dass das Interesse an ihm irgendwann abebben könnte und er als Pianist nicht mehr erfolgreich sein wird. "Irgendwann werde ich wieder Falafel verkaufen oder so. Ich bin Aeham Ahmad aus Syrien. Ohne meine Story will man auch meine Konzerte nicht mehr!" Abgesehen davon gebe es ja noch die Handverletzung durch die Granate. Damit könne er nie ein Konzertpianist werden.
Technisch mag er eingeschränkt sein, aber seine virtuosen, sehr emotionalen Stücke berühren die Menschen, da wo es darauf ankommt: Genau im Herzen. Und so wird der "Pianist aus den Trümmern" vielleicht irgendwann einfach der Pianist Aeham Ahmad sein.
Annabelle Steffes-Halmer
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