Ein Jahr neues Syrien
Nach mehr als 13 Jahren Krieg war es so weit: In den Morgenstunden des 8. Dezember 2024 brachte eine Rebellenallianz unter Führung von Hai'at Tahrir al-Scham (HTS) Syriens Langzeitherrscher Baschar al-Assad zu Fall. Der Diktator floh nach Moskau.
Mehr als eine Million Syrerinnen und Syrer sind seither in ihre Heimat zurückgekehrt. Doch der Hoffnung auf einen Neuanfang stehen massive Gewaltausbrüche gegenüber. Die neuen Machthaber wecken Zweifel daran, ob sie tatsächlich zu inklusiver Regierungsführung bereit sind.
Wie läuft der politische Übergang, Frau Asseburg?
Seit dem Sturz Assads gestaltet die HTS-Elite den Übergang. Im Januar wurde Ahmed al-Scharaa zum Übergangspräsidenten ernannt. Das Parlament und die Baath-Partei wurden aufgelöst, die Verfassung von 2012 annulliert und die Auflösung der Milizen (s. unten) angekündigt. Al-Scharaa versprach neben einem inklusiven Übergangsprozess auch Maßnahmen zur juristischen Aufarbeitung.
Tatsächlich sind Meilensteine erreicht worden: Im Februar fand ein nationaler Dialog statt; Mitte März folgte eine Verfassungserklärung und Ende März nahm eine Übergangsregierung ihr Arbeit auf. Im Mai wurden eine Nationale Kommission für Übergangsjustiz und eine für Vermisste und Opfer des Verschwindenlassens etabliert. Im Oktober fanden (indirekte) Wahlen des Übergangsparlaments statt.
Im Vordergrund steht jedoch die Machtkonzentration beim Präsidenten al-Scharaa. Die Verfassungserklärung, die eine Übergangsperiode von fünf Jahren vorsieht, erwähnt demokratische Prinzipien, bestimmt aber nicht das Volk als Souverän. Sie stattet den Präsidenten mit viel Macht aus; Parlament und Justiz kommen eingeschränkte Kontrollfunktionen zu.
Auch wenn in der Übergangsregierung elf von 23 Minister:innen aus der Zivilgesellschaft stammen oder als Technokrat:innen gelten und drei schon vor 2011 Minister waren, werden die Schlüsselressorts (Außen, Innen, Justiz und Verteidigung) von HTS-Politikern kontrolliert.
Das Außenministerium hat zudem ein Generalsekretariat für politische Angelegenheiten eingerichtet. Es soll politische Aktivitäten und Veranstaltungen innerhalb Syriens überwachen. Damit übernimmt es nicht nur teilweise die Aufgaben der Baath-Partei, es nutzt auch – symbolisch brisant – deren Büros und Gebäude.
Der versprochene nationale Dialog und eine Aufarbeitung von Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen haben für die neuen Machthaber keine Priorität. So wurde die Dialogkonferenz im Februar binnen zwei Tagen abgehalten. Die Teilnehmenden waren so kurzfristig eingeladen worden, dass viele aus der Diaspora nicht anreisen konnten. Vertreter:innen etwa der Autonomen Administration von Nord- und Ostsyrien (AANES) blieben außen vor.
Die Zuständigkeit der Kommission für Übergangsjustiz beschränkt sich auf Verbrechen des Assad-Regimes. Dabei wären eine umfassende Aufarbeitung und ein inklusiver nationaler Dialog zentral für eine gesellschaftliche Aussöhnung und die Eindämmung der Selbstjustiz.
Was ist aus den Milizen geworden, Frau Aldoughli?
Die Integration bewaffneter Gruppen in den Staatsapparat ist nicht abgeschlossen und bleibt fragil und uneinheitlich. Trotz der im Januar 2025 angekündigten vollständigen Integration der Gruppen unter dem Verteidigungsministerium zeigt die Realität ein anderes Bild: einen Flickenteppich aus zwanzig neu benannten „Divisionen“, die vor allem um siegreiche Rebellengruppen herum aufgebaut wurden.
Kommandopositionen werden eher durch Verhandlungen zwischen den Fraktionen als nach institutionellen Kriterien vergeben. Dabei spielen die Netzwerke lokaler Machthaber und auch externe Unterstützung, zum Beispiel durch die Türkei, eine Rolle. Viele Einheiten behalten ihre ursprüngliche Loyalität, Kommandostrukturen und Sicherheitsideologien bei. Dies hat zu einer Streitmacht geführt, die nominell vereinheitlicht, funktional jedoch hybrid ist.
Grundpfeiler der militärischen Infrastruktur, wie der Militärgeheimdienst, Ausbildungsakademien und die Personalverwaltung, wurden mit Kadern aus ehemaligen HTS-Sicherheitsstrukturen wieder aufgebaut. Gleichzeitig werden ganze Regionen heute von autonomen Kommandanten dominiert, die vor Ort die tatsächliche Autorität innehaben.
Erhebliche Einschränkungen wie zerstörte Infrastruktur, das Fehlen einer einheitlichen Doktrin, tiefe ideologische Spaltungen und der Wettbewerb um Ressourcen behindern die Entstehung einer professionellen nationalen Armee. Die Integration hat zu einer Struktur ohne Zentralisierung, zu Hierarchien ohne Institutionalisierung und zu einer Einheit ohne Zusammenhalt geführt. Die militärische Fähigkeit, langfristige Stabilität zu gewährleisten, bleibt eingeschränkt.
Kontrolliert die Scharaa-Regierung ganz Syrien, Herr Bank?
Die Übergangsregierung kontrolliert nominell zwei Drittel des Landes. Das restliche Gebiet ist entweder militärisch besetzt – im Norden durch die Türkei, im Südwesten durch Israel – oder es haben die kurdisch dominierten SDF (im Nordosten) und drusische Kräfte (im Südosten) die Kontrolle.
Kurzfristig stellt sich die Frage nach der Integration der SDF-kontrollierten Gebiete. Die Verhandlungen mit der Regierung sollten bis Ende 2025 abgeschlossen sein, im Moment ist jedoch keine Einigung in Sicht. Umstritten sind weiter die Details der Integration von SDF-Kämpfer:innen in die Armee sowie Nutzungsrechte der natürlichen Ressourcen, wie Öl und Euphrat-Wasser. Die Position der Kurden ist geschwächt, da ihre Rolle als US-Verbündete gegen den IS nun vom Präsidenten Al-Scharaa selbst eingenommen wird. Pessimistische Stimmen erwarten eher den Ausbruch von Kämpfen als eine Einigung.
In der südlichen Region Suwaida ist die Lage nach der massiven Gewalt vom Juli 2025 verfahren. Die Regierung hat kurzfristig das Gebiet verloren, es finden kaum Verhandlungen statt. Suwaida wird von den Kräften des Drusenführers Hikmat al-Hidschri kontrolliert, die Versorgungssituation der Bevölkerung ist sehr schlecht. Eigentlich müsste über bestimmte humanitäre Maßnahmen eine Vertrauensbildung zwischen Regierung und drusischer Führung stattfinden, um in eine Art Vorphase zu Verhandlungen zu kommen.
Der Südwesten wird teilweise direkt von Israel mit Bodentruppen besetzt. Darüber hinaus hat Netanjahu den Süden zu einer „demilitarisierten Zone“ erklärt und kontrolliert den Luftraum. Weder hier noch in den von der Türkei okkupierten Gebieten im Norden sind schnelle Veränderungen der territorialen Kontrolle zu erwarten.
Wie ist die Lage der Frauenrechte in Syrien, Frau Hassan?
Der praktische Umgang mit Frauenfragen durch die Regierungsfraktion geht nicht über die minimale Vertretung von Frauen im Parlament, in der Regierung und in Entscheidungspositionen hinaus.
Es gibt ständige Bemühungen, Frauen aus dem öffentlichen Leben zu verdrängen, und seit einem Jahr sind Frauen täglich mit Übergriffen konfrontiert – mit Mord, Entführungen und Missbrauch. Besonders betroffen sind die Minderheiten der Alawiten und Drusen, die Opfer sektiererischer Massaker geworden sind, bei denen viele Frauen und Kinder ums Leben gekommen sind.
Die Missstände zeigen sich auch in der erniedrigenden Darstellung von Frauen in den offiziellen Medien. Entführungsfälle werden abgetan, geleugnet und die Aussagen der Opfer verdreht. Ein Untersuchungsbericht des Innenministeriums stellte die „Moral“ der entführten alawitischen Frauen in Frage und behauptete, die meisten von ihnen seien „mit ihren Liebhabern durchgebrannt“.
Darin kommt eine herabwürdigende Haltung gegenüber Frauen zum Ausdruck: Der weibliche Körper wird herangezogen, um die ganze Bevölkerungsgruppe abzustrafen. Außerdem wird den Tätern vermittelt, dass sie straffrei davonkommen.
Die herrschende Fraktion betreibt die systematische Ausgrenzung von Frauen und allen Stimmen, die sich dem widersetzen. Dies geschieht auf unterschiedliche Weise und beruht auf einer Weltanschauung, die Frauen als Ware oder „Eigentum“ betrachtet – als Mittel zur Befriedigung und zur Verfügung der Männer, nicht als Menschen mit Rechten und Würde.
Was Frauen heute brauchen, ist Widerstand. Frauen, feministische Aktivistinnen und Organisationen, die sich für Frauenfragen einsetzen, müssen ihre Kräfte bündeln, um den anhaltenden Verstößen Einhalt zu gebieten. Wenn wir schweigen, führt das uns alle in eine dunklere Zukunft – für uns selbst, unsere Töchter und unsere Söhne.
Jede feministische Einrichtung – sei es eine Organisation oder eine einzelne Aktivistin –, die diese Regierung unterstützt, sie zu rechtfertigen versucht oder sich aus Gründen des Selbstschutzes nicht gegen die anhaltenden Missbräuche ausspricht, macht sich mitschuldig an den Verbrechen, die gegen Frauen begangen werden.
Der feministische Kampf ist heute nicht mehr nur eine Form der Bürger- oder Menschenrechtsarbeit, sondern ein Akt des Widerstands – weder ein Luxus noch eine Wahl, sondern eine Überlebensnotwendigkeit. Ebenso ist die Zusammenarbeit mit der internationalen Gemeinschaft und mit internationalen Menschenrechts- und Frauenorganisationen unerlässlich geworden, da die Machthaber in Syrien jede zivile, politische oder auf Rechten basierende Arbeit unterdrücken, die nicht ihren Interessen dient.
Wie steht's um die Wirtschaft, Herr Daher?
Auf dem Weg zu einer wirtschaftlichen Erholung steht Syrien weiter vor Herausforderungen. Die Bedürfnisse sind enorm: Die Kosten für den Wiederaufbau werden laut Weltbank auf 140 bis 345 Milliarden US-Dollar geschätzt. Rund 16,5 Millionen Menschen benötigen humanitäre Hilfe.
Al-Scharaa hat die neue geopolitische Allianz des Landes mit den USA und seinen regionalen Partnern konsolidiert – eine Neuausrichtung, die die Tür für dringend benötigte ausländische Investitionen geöffnet hat, vor allem aus westlichen Staaten, den Golfmonarchien und der Türkei.
Jedoch bietet die Wirtschaftspolitik der Übergangsregierung nicht die notwendigen Grundlagen für einen Wiederaufbau Syriens und eine nachhaltige wirtschaftliche Erholung. In ihrem Bestreben, ausländische Investitionen anzuziehen, hat sich die Regierung einem neoliberalen Modell wirtschaftlicher Liberalisierung, harter Sparmaßnahmen und eines schrumpfenden öffentlichen Sektors verschrieben.
Diese Maßnahmen haben nichts an der Verteilung des Reichtums geändert. Die große Mehrheit der Syrer lebt weiter in Armut. Sparmaßnahmen wie die jüngste Entscheidung, die Stromsubventionen deutlich zu kürzen, drohen weite Teile der Bevölkerung weiter in die Armut zu treiben.
Gleichzeitig hat sich die negative Handelsbilanz des Landes weiter verschlechtert, was die Unterentwicklung in Sektoren wie der Landwirtschaft und dem verarbeitenden Gewerbe noch verschärft.
Darüber hinaus hat die neue Führung Maßnahmen ergriffen, die die wirtschaftliche Macht in ihren eigenen Händen konzentrieren. Dazu gehören die Vergabe staatlicher Aufträge an mit HTS verbundene Privatunternehmen sowie die Integration privater Firmen in staatliche Institutionen. Korruption und mangelnde Transparenz, die an das frühere Assad-Regime erinnern, bestehen weiter, wurden jedoch angepasst, um den neuen herrschenden Eliten zu nützen.
Welche Rolle spielen Parteien, NGOs und informelle Netzwerke, Herr Naeem?
Die neue Regierung hat nach der Auflösung von Assads Baath-Partei und anderen ihr nahestehenden Parteien einen Übergang zu einer pluralistischen Politik versprochen. Bislang wurde jedoch noch kein neues Parteiengesetz verabschiedet. Das politische Leben in Syrien ist praktisch zum Erliegen gekommen.
Das Parlament, das in naher Zukunft konstituierend zusammenkommen soll, wird offiziell nicht auf Parteipolitik basieren. Vor diesem Hintergrund agieren viele Aktivist:innen vor allem über informelle Netzwerke, lokale Zusammenschlüsse und Berufsverbände. Die Entscheidungsfindung wird somit weiterhin von Sicherheits- und politischen Netzwerken, familiären und gesellschaftlichen Bindungen, bewaffneten Gruppierungen und lokalen NGOs mit Verbindungen ins Ausland geprägt.
Kritiker:innen der Übergangsregierung, darunter Islamist:innen, Anhänger:innen linker Ideologien oder Personen, die Sympathie für das ehemalige Regime bekunden, werden mitunter von Sicherheitskräften und mit ihnen verbundenen bewaffneten Gruppen schikaniert, kurzfristig inhaftiert oder eingeschüchtert. Obwohl Straßenproteste nicht offiziell verboten sind, kann es vorkommen, dass sie mit Repressalien beantwortet werden.
Ähnlich sieht es bei zivilgesellschaftlichen Gruppen aus. Diese können zwar Trainings durchführen, Menschenrechtsverletzungen dokumentieren oder sich für Inhaftierte einsetzen, müssen sich aber mit restriktiven Registrierungsanforderungen und Betriebsvorschriften auseinandersetzen. Die meisten arbeiten informell. Aktivisten nutzen zunehmend Exilnetzwerke und Online-Plattformen, um Kampagnen zu koordinieren, Lobbyarbeit bei ausländischen Regierungen zu betreiben und sich ein gewisses Maß an organisatorischer Freiheit fernab von möglicher Unterdrückung im Inland zu bewahren.
Wie positioniert sich Damaskus international, Herr Abdrabou?
Die neue Regierung versucht, realistischer und flexibler mit ihrem geopolitischen Umfeld umzugehen. Nach Jahren der Isolation zeigen sich Pragmatismus und ein Bewusstsein für die sich verändernden regionalen und internationalen Dynamiken. Damaskus weiß, dass das Schicksal des Landes davon abhängt, die Beziehungen zu den arabischen Staaten wieder aufzubauen und mit globalen Akteuren zusammenzuarbeiten.
Mit der Resolution Nr. 2799 des UN-Sicherheitsrats (November 2025) wurden Al-Scharaa und sein Innenminister Anas Khattab von der ISIS- und Al-Qaida-Sanktionsliste gestrichen, die Teil der UN-Terrorismusbekämpfung sind. Die wichtigsten Sanktionen der EU, der USA und Großbritanniens wurden aufgehoben; gezielte Sanktionen bleiben aber in Kraft. Gegen Personen, die mit dem Assad-Regime in Verbindung stehen, bestehen weiterhin umfangreiche Vermögenssperren.
Al-Scharaa strebt danach, Syrien wieder als regionalen Akteur zu etablieren, ohne sich vollständig von einer einzigen Macht abhängig zu machen. Im Gegensatz zur früheren Abhängigkeit von Teheran und Moskau scheint er neue Verbindungen zu Partnern wie Saudi-Arabien, den Vereinigten Arabischen Emiraten und sogar den USA aufzubauen. Der Türkei gegenüber tritt er vorsichtig auf und berücksichtigt dabei die sich wandelnde Haltung Ankaras gegenüber syrischem Territorium sowie die Dynamik an der Nordgrenze, bei der auch kurdische Akteure eine Rolle spielen.
Was Israel betrifft, so ist die diplomatische Haltung Syriens nach wie vor von langjähriger Feindseligkeit und aktuellen Vorbehalten angesichts der israelischen Militärpräsenz in der Nähe der besetzten Golanhöhen geprägt. Hinzu kommen die jüngsten Spannungen mit drusischen Geistlichen. Dennoch scheint Al-Scharaa bereit zu sein, Beobachter mit seinem Pragmatismus zu überraschen. Falls es die Umstände erlauben, könnte er für ein Abkommen mit Israel offen sein.
Al-Scharaas Führungsstil lässt darauf schließen, dass Syriens neuer Kurs den Wiederaufbau der Wirtschaft, das Anwerben von Investoren und den Dialog zur Wiedererlangung politischer Legitimität der Konfrontation vorzieht. Entscheidend ist, wie nachhaltig seine innen- und außenpolitischen Pläne angesichts der instabilen politischen und wirtschaftlichen Lage sind. Hinzu kommen die Herausforderungen durch islamistische Gruppen, die gemeinsam mit ihm gegen Assad gekämpft haben, sich aber gegen seinen pragmatischeren Ansatz stellen könnten.
Die Statements in diesem Artikel waren im Original auf Deutsch, Englisch oder Arabisch. Übersetzung durch die Redaktion.
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