Algeriens unabhängige Kunst-Avantgarde
Ob Algier, Oran oder Tizi Ouzou: Mit unabhängigen Ausstellungen, experimenteller Musik, bildender Kunst, Kino und digitalen Projekten beschreitet eine neue Generation algerischer Künstler:innen alternative Wege – eine Dynamik, die aus einem spezifischen soziopolitischen Kontext hervorgegangen ist.
Seit der Hirak-Protestbewegung 2019 und der Covid-19-Pandemie stehen viele Künstler:innen in Algerien zwar vor großen Herausforderungen; es fehlt an Finanzierung und die Meinungsfreiheit ist stark eingeschränkt. Doch gerade deshalb nutzen sie verstärkt soziale Medien, um ihr Publikum zu erreichen und ihre Arbeit zu promoten.
Unabhängiges Kino
Zu den bekanntesten Gesichtern des unabhängigen Kinos gehört der Regisseur und Produzent Aissa Ben Said (41). 2016 gründete er die Produktionsfirma Nouvelle Vague Algérienne (Algerische Neue Welle), die sich auf soziale Themen und Perspektiven junger Leute konzentriert. 2018 rief er zudem das Souk Short Festival ins Leben, das erste Kurzfilmfestival in seiner Heimatstadt Souk Ahras.
Er habe „gelernt, (sich seine) eigenen Möglichkeiten zu schaffen, starke Produktionsnetzwerke aufzubauen und mit den vorhandenen Ressourcen zu arbeiten, ohne Kompromisse bei der künstlerischen Qualität einzugehen“, sagt Ben Said gegenüber Qantara.
Seine Vision spiegelt sich in seinen Filmen wider, etwa in „Ein Schrei ohne Echo“ (2010), einem Film über marginalisierte Musiker:innen in Souk Ahras, oder auch im Spielfilm „Cilima“ (2018), der seine Vision einer neuen algerischen „Welle“ veranschaulicht, die den Mangel an staatlicher Unterstützung für aufstrebende Talente überwindet.
Einen Wendepunkt in seiner Karriere markierte sein Film „Ein Mann, zwei Theater“ (2016) über die Beziehung zwischen Kunst und Freiheit, der auf internationalen Filmfestivals gezeigt wurde. Seine Mission sei es, „jungen Talenten zu helfen, sich in einer globalen Sprache auszudrücken, mit einer starken algerischen Note“.
Für Ben Said ist das unabhängige algerische Kino „ein fruchtbarer Boden“, der nur bestellt werden müsse. „Es gibt einen enormen Durst nach Ausdruck und Kreativität und danach, neue Wege der Produktion, des Geschichtenerzählens und des Vertriebs zu finden“, sagt er.
Neue Räume für die Kunst
Im Bereich der bildenden Kunst sticht das Studio XBM in Algier als alternativer Ort hervor. Es bringt Künstler:innen mit unabhängigen Kurator:innen und Manager:innen zusammen und beherbergt vielfältige Projekte junger Menschen.
Sid Ali El Mohri (32), bildender Künstler und XBM-Mitglied, beschreibt sich selbst als „besessen“ von Kommunikation. „Kommunikation ist entscheidend für das menschliche Leben. So viele Probleme lassen sich mit einem einzigen ehrlichen Wort oder einer klaren Formulierung vermeiden“, sagt er.
El Mohri sieht audiovisuelle Kunst als Sprache, die Betrachter:innen emotional tief berühren kann. Für ihn ist ein Video oder Foto nicht nur eine Aufnahme; es ist eine parallele Realität, die im Kopf der Betrachtenden verweilt und unabhängig vom Künstler, der sie geschaffen hat, weiterlebt.
„Ich bin ein Beobachter“, fügt er hinzu und erklärt, wie die Linse seiner Kamera die Details des städtischen Lebens einfängt: Gebäude, Autos, Himmel, Spiegelungen und sogar die Bewegungen der Menschen auf der Straße.
El Mohri ist überzeugt, dass die Gesamtheit der Details und ihr Zusammenspiel unbewusst die Identität einer Stadt prägt. Daher beschränkt er sich nicht auf die Aufnahme einzelner Bilder, sondern stellt thematische Serien mit klaren Botschaften zusammen.
In einem seiner Foto-Projekte hat El Mohri Wandbilder dokumentiert, die Fußballfans an die Wände von Algier gemalt haben – eine Ausdrucksform, in der er „ehrliche Symbole der Identität und Zugehörigkeit“ sieht.
Die unabhängige algerische „Underground-Szene“ sei ehrlicher als der Kulturbetrieb des Mainstreams, der auf protzige Außenwirkung fixiert sei, glaubt El Mohri. In Graffiti, Slogans und Sprüchen sieht er die „nackte Wahrheit – die Stimmen von Menschen, die sich exponieren, fernab von jeder politischen, finanziellen oder religiösen Agenda“.
Kunst könne dazu beitragen, die Gesellschaft von historischen und generationsübergreifenden Traumata zu heilen. Er kritisiert aber auch den Mangel an Mut in der lokalen Szene: „Wir müssen tiefer graben, schwierigere Fragen stellen und größere Risiken eingehen.“
Street Art als Dialog
Ein eindrucksvolles Beispiel für das Potenzial von Straßenkunst ist die Arbeit von Merine Hadj Abdelrahman (33), bekannt als „La main du peuple“ („Die Hand des Volkes“). Abdelrahman hat einen markanten Charakter geschaffen: eine deformierte Hand, die er unter anderem an Hauswände malt.
Nach seinen Erfahrungen in Galerien für zeitgenössische Kunst hatte er 2016 beschlossen, seine Kunst auf die Straße zu bringen. Dort fand er einen grenzenlosen Raum für künstlerischen Ausdruck: Jede Wand ist für ihn eine Leinwand und jede Interaktion mit Passant:innen nährt seinen visuellen Charakter, die Hand.
Die Hand ist für ihn mehr als nur ein Bild; sie ist ein soziales Symbol, das die Widersprüche der algerischen Realität widerspiegelt, wo theoretisch alle dem gleichen Gesetz unterliegen, Ungleichheit und Ungerechtigkeit jedoch fortbestehen.
Das Projekt „La main du peuple“ wurde zu einem lebendigen Dialog mit der Öffentlichkeit: Die Hand kritisiert, verspottet und reflektiert die Gesellschaft mutig und spontan. Abdelrahman beobachtet das Verhalten der Menschen und verwandelt es in einen visuellen Diskurs.
Mit der Zeit fand Abdelrahman auch Anschluss an die Underground-Elektronikszene, die er als „Nische“ mit einem „organischen“ Publikum beschreibt. Dort traf er auf gebildete junge Leute mit ausgeprägtem Bewusstsein, die Experimente und Qualität abseits von Konsumtrends suchten. Seine Botschaft an junge Künstler: „Arbeit, Geduld und Durchhaltevermögen. Die Anerkennung kommt nicht schnell, aber es ist wichtig, sich mit den Besten der Welt zu messen.“
Der Welt den algerischen Underground zeigen
In der Musikszene ist schließlich noch DJ FAËL zu nennen. Sie begann als Zuschauerin, bevor sie sich selbst hinter die Plattenteller wagte und zu einer der wenigen weiblichen Stimmen im algerischen elektronischen Underground wurde.
Ihr Einstieg in die Szene sei keine bewusste Entscheidung gewesen, sondern eher ein intuitives Eintauchen. „Elektronische Musik“, sagt sie, „hat mich vom ersten Moment an gefesselt. Ich spürte, dass das die Sprache ist, in der ich mich wirklich ausdrücken kann.“
Ihre Erfahrungen in Paris, Berlin und Amsterdam haben sie beeinflusst – nicht nur musikalisch, sondern auch durch die vielfältigen künstlerischen Räume, die sie kennenlernte. Sie wollte die gleiche Energie nach Algerien bringen, nicht indem sie Dinge kopierte, sondern indem sie etwas Lokales schuf, das den Kontext widerspiegelte.
In Algerien aufzutreten bedeutet für FAËL Stolz und Zugehörigkeit; internationale Auftritte dagegen sind eine Gelegenheit, der Welt zu zeigen, dass die algerische Szene existiert und es gilt, sich mit ihr auseinanderzusetzen.
Sie gibt zu, dass ihr Weg in Algerien hart ist, es mangele an Infrastruktur, technischen Mitteln und institutioneller Unterstützung. Doch für sie liegt „die Stärke des Undergrounds genau in diesem Mangel, in seiner Improvisation, seinem DIY-Geist und seiner Entschlossenheit weiterzumachen.“
Dass sie bei Auftritten ihr Gesicht zu verhüllt, erklärt FAËL, sei nicht auf gesellschaftlichen Druck zurückzuführen sei. Vielmehr schütze sie ihre Privatsphäre und wolle den Fokus auf die Musik richten. Als eine der wenigen Frauen in diesem Bereich sieht sie ihr Potenzial darin, andere Frauen zu inspirieren, Teil der Szene zu werden.
Zudem möchte FAËL möchte Brücken bauen zwischen der lokalen und der internationalen Szene und Türen für die Zusammenarbeit öffnen. Algerische Künstler:innen sollten aus dem Schatten treten können. „Der Weg ebnet sich langsam für eine neue Generation mit mehr Freiheit“, sagt sie optimistisch.
All diese Initiativen und Künstler:innen stellen eine Art stille Renaissance dar, angeführt von unabhängigen Kunstschaffenden. Aus der Kultur wollen sie ein Instrument sozialer und politischer Kritik machen und sie als Raum für eine neue Art von Freiheit jenseits traditioneller Schablonen neu definieren.
Was wir derzeit erleben, könnte der Beginn eines langfristigen kulturellen Wandels sein – eines Wandels, der die veränderte Beziehung zwischen algerischer Gesellschaft, Kunst und öffentlichem Raum widerspiegelt.
Dieser Text ist eine bearbeitete und leicht gekürzte Übersetzung der englischen Version. Übersetzung: Clara Taxis.
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