Test - Zeitalter der Identität
Der Dialog zwischen den Religionen ist zu einem harten Geschäft geworden in einem Moment in der Geschichte, den unsere Nachfahren vielleicht einmal das «Zeitalter der Identität» nennen werden. In dieser Epoche der Unterscheidung, in der «die anderen» gegen «uns» stehen, erscheint ein Austausch über Gemeinsamkeiten für die einen kurios oder exotisch. Für andere mag er eine vergebliche Mühe sein. Eine unüberhörbare Minderheit empfindet diesen Dialog sogar als Bedrohung, weil sie ihr Geschäft mit der Angst vor «den anderen» macht und eine gelingende Verständigung nicht ins Bild passen würde.
Als die größten Antagonisten werden im globalen «die und wir»-Spiel die christliche Welt und die islamische Hemisphäre betrachtet. Das hat unter anderem etwas mit dem Bestseller von Samuel Huntington zu tun, der die entscheidende Schlacht der Zukunft als einen «Kampf der Zivilisationen» in der Konfrontation des Halbmonds mit dem Kreuz vorhergesagt hat. So einfach ist es nicht, denn ein Blick über den monotheistischen Tellerrand hinaus weist zum Beispiel nach Indien, wo eine nationalistische Regierungspartei die Identität der größten Demokratie der Erde als hinduistisch festlegen und damit die muslimische Minderheit treffen und stigmatisieren will.
Was ist eigentlich Religion?
Dieses Zeitalter der Identität fällt zusammen mit einem Moment in der Geschichte, in dem viel von der «Wiederkehr der Religion» die Rede ist. Das neuzeitliche, europäische Diktum vertrat die These, dass mit der Zunahme an Bildung und Wohlstand die Säkularisierung der Welt und der Gesellschaft voranschreiten werde, bis Religion am Ende verschwunden sein würde.
Das Problem dieses Theorems war und ist, dass es nicht klar herausstellt, was eigentlich mit Religion gemeint ist. Nur so lässt sich die Diskrepanz erklären zwischen der Tatsache, dass sich sogenannte christliche Werte in Umfragen im Abendland grossen Zuspruchs erfreuen, während zeitgleich die religiöse Praxis, der Kirchgang, auf ihren tiefsten Stand seit der Französischen Revolution gefallen sein dürfte.
Beides wird unter den Begriff Religion subsumiert. Und weil eben nicht geklärt wurde, welche Art und Weise von Religion mit dem Siegeszug der Moderne verschwinden würde, ist bis heute auch unpräzise, was eigentlich mit Säkularisierung gemeint ist.
Um welche Religion geht es, wenn von Religion als Identität gesprochen wird, beispielsweise im Begriff des christlichen Abendlands? Im katholischen Polen wird offen Stimmung gegen syrische Flüchtlinge gemacht, obwohl das Oberhaupt der katholischen Kirche, Papst Franziskus, alle Pfarreien und Klöster in der Alten Welt angehalten hat, eine syrische (muslimische) Flüchtlingsfamilie aufzunehmen.
Diese Ablehnung gegenüber Flüchtlingen muslimischen Glaubens in Polen muss aus caritativer Sicht als brutal gelten, genauso wie islamische Kleriker in Ägypten als zynisch, wenn sie die Flüchtenden aufrufen, nach ihrer Ankunft die Gesellschaften Europas zu islamisieren. Welches Christentum spricht da? Welcher Islam?
Es geht also in beiden Fällen nicht um caritative, sondern um politische Religion. Politische Religion leistet, dass die Zusammenarbeit von Menschen in Gruppen durch Regeln strukturiert wird, die über das aktuelle Hier und Jetzt hinausweisen. Gesellschaften erzeugen und brauchen solche Narrative, die sie zusammenhalten. Der Historiker Yuval Harari bezeichnet in seinem Buch «Sapiens» zwei Erzählformen für die Entwicklung und den Fortbestand unserer Art als entscheidend: Tratsch und Mythologie, kurz gesagt: «Brangelina» und Paradiesgarten.
Ziel ist die Legitimation von politischer Ordnung, einer Ordnung, die für Herrschende und Beherrschte gleichermassen Zugehörigkeit stiftet. Politisch-religiöse Narrative schliessen sich gegenseitig aus, die bestimmenden Erzählungen von Christentum und Islam sind verschieden. Sie leben von dem Glauben an die Auserwähltheit der eigenen Gruppe. England ist ein Beispiel hierfür. Im Land sah man sich lange als legitimer Nachfolger der biblischen Stämme Israels. Heute noch wird in einem Lied herbeigeschmettert, dass Jerusalem das nächste Mal bitte auf den saftigen Weiden Britanniens gegründet werden möge.
Diese politische Auserwähltheits-Rhetorik gelangte im Bauch der «Mayflower» an die Ufer der Neuen Welt. Wenn Ronald Reagan die USA die «scheinende Stadt auf dem Berge» nannte, dann nutzte er eine politisch-religiöse Sprache, die innerhalb seiner Zielgruppe verstanden wird und so Identität bewahrt.
Der Sozialpsychologe Henri Tajfel hat in seinen Studien zur sozialen Identität in den 1970er Jahren herausgefunden, dass bereits Kinder imaginierte Mitspieler der eigenen Gruppe gegenüber denen einer gegnerischen Mannschaft bevorzugen. Artverwandt hierzu kann das vom französischen Philosophen René Girard herausgestellte Motiv von Gesellschaften gelten, einen Sündenbock von der Gruppe abzutrennen und an ihm ein Exempel zu statuieren. Dies mit dem Ziel, den Frieden in der Mehrheitsgruppe zu bewahren oder wieder herzustellen.
Die eigene Identität durch Herabsetzung der anderen oder die strafende Verbannung eines Sündenbocks stärken zu wollen, das haben archaische und hochtechnisierte Gesellschaften immer noch gemein. Es ist der Stolperstein für jeden Dialog und eine Ironie der Geschichte, dass etablierte Religionen heute gegen trennende Narrative arbeiten, an deren Ausgestaltung sie in der Vergangenheit massgeblich beteiligt waren.
Wenn der Papst sich mit den höchsten Vertretern anderer Religionen zum interreligiösen Gespräch trifft, dann wittern die Hardliner auf beiden Seiten den Verrat an der eigenen Weltanschauung, an der eigenen politischen Religion. Auch hier geht es nicht um Spiritualität oder um private Frömmigkeit. Denn die Mystiker, die am ehesten diese Form von Religion spiegeln, können vollkommen damit auskommen, dass keiner der Glaubenden letztlich um «Gott» weiss. Es versteht sich, dass die mystischen Strömungen der Religionen, wie die Sufis im Islam beispielsweise, genau wegen dieser entwaffnenden Unorthodoxie bisweilen argwöhnisch beäugt, wenn nicht gar verfolgt wurden.
Überlebte Werturteile
Der Säkularismus seinerseits hat für unser Zeitalter der Identität keine Lösung anzubieten, weil die institutionelle Trennung von staatlichen und religiösen Institutionen diese archaische Auffassung des «die und wir» und die Sündenbock-Praxis nicht aufheben kann. Die religiösen Erzählungen einer Gesellschaft machen nicht vor Parlamenten und Gerichten halt, weil sie selbst politisch sind und so über Teilhabe, legitime Machtausübung und Zugehörigkeit befinden.
Die Frage, ob Islam und westliche Demokratie zusammengehen, ist ein Beleg dafür. Hier wird den Muslimen die Loyalität abgesprochen, die man bei den Eigenen als selbstverständlich voraussetzt. Denn Muslime teilten nicht dieselbe Geschichte wie die Menschen im Westen, heisst es als Begründung. Weil diese archaischen Vorstellungen heute noch Macht haben, löst der Verweis auf die säkulare Natur der liberalen Demokratie die Vorbehalte gegenüber der Loyalität von Muslimen in der westlichen Welt auch nicht automatisch auf. Wir haben allen Grund zu glauben, dass ähnliche Mechanismen auch in anderen Kontexten wie in Indien am Werk sind.
Der interreligiöse Dialog hat nur dann eine Chance auf Erfolg, wenn seine Akteure aus der Geschichte geerbte Werturteile nicht am Kochen halten, so wie es sich Populisten und Demagogen wünschen, sondern mit einem sinnstiftenden Erzählmotiv aufwarten, welches das «die und wir»-Schema ein für alle Mal überwinden kann.
Alexander Görlach
Alexander Görlach, Linguist und Theologe, forscht derzeit als Gastwissenschafter am Center for European Studies an der Harvard University im Bereich Politik und Religion. Er ist Senior Fellow des Carnegie Council for Ethics in International Relations und Autor für die «New York Times».
BU: Die eigene Identität durch Herabsetzung der anderen oder die Verbannung eines Sündenbocks zu stärken, das haben archaische und hochtechnisierte Gesellschaften immer noch gemein.