Tangers "Weiße Nachtigall"
Ein Jahrzehnt nach seinem Tod spricht man in Marokko wieder über Mohamed Choukri und seinen Roman "Das nackte Brot", der nach seiner Veröffentlichung auf Arabisch 1982 in den Literaturkreisen Marokkos hohe Wellen geschlagen hatte.
"Das Buch wurde in Marokko und in vielen anderen arabischen Staaten sofort verboten, als es auf Arabisch erschien. Das machte den autobiografischen Roman aber nur umso begehrter", sagt Choukris damaliger Freund, der Journalist Abdellatif Bin Yahya. "In dem Roman erzählt Choukri von seiner ärmlichen Kindheit, als er als Landflüchtling obdachlos durch Tanger irrte", so Bin Yahya weiter. "Insofern ist sein Buch auch ein Dokument der sozialen Verhältnisse in Marokko in den vierziger Jahren."
Mit "Das nackte Brot" wurde Mohamed Choukri zum berühmten Schriftsteller. Geschrieben hatte er es 1972 auf Arabisch. Sein Freund Paul Bowles, der ebenfalls in Tanger lebende amerikanische Autor, übersetzte es 1973 ins Englische, 1981 übertrug es Choukris Landsmann Taher Ben Jelloun ins Französische. Auf Arabisch erschien es erst 1982.
Schreiben als Tabubruch
Insgesamt wurde der Roman in 38 Sprachen übersetzt, auch ins Deutsche. Dass man jetzt wieder über Choukris Biografie und Bücher spricht, ist für seine Freunde und für Kulturkreise in Marokko auch Gelegenheit, ihn zu ehren – aber immer lebt dabei auch wieder die Debatte um seine Werke und seine Art des Schreibens auf, die in Marokko zumeist als Grenzüberschreitung angesehen wird.
Abdellatif Bin Yahya, der auch Vorsitzender der Mohamed Choukri-Stiftung ist, hatte jüngst die Bekanntgabe des Gewinners des "Mohamed Choukri-Preises für randständige Literatur" angekündigt. Vor kurzem hatte die Stiftung in Marokko mehrere Veranstaltungen im Gedenken an den Verfasser von "Das nackte Brot", der von 1935 bis 2003 lebte, organisiert.
Bewegt erinnert sich der 67jährige Abdallah Wahhabi an den jungen Mohamed Choukri. "Ich kannte ihn schon, als er 1967 noch durch den Socco in der Altstadt von Tanger strich", berichtet er. "Er besaß nur, was er an abgenutzten Kleidern auf dem Leib trug. Er hatte nicht einmal Geld, um sich Brot zu kaufen, und keine Wohnung. Die Armut sah man ihm deutlich an."
"Weiße Nachtigall" nannten ihn seine Freunde, zu denen Abdallah gehörte. "Choukri war erst wenige Tage in Tanger, als ich ihn zum ersten Mal traf", erinnert er sich. "Er war mit seiner Familie aus dem Rif-Gebirge gekommen. Ich lernte ihn als Menschen kennen, bevor er sich einen Namen als Schriftsteller machte."
Abdallah al-Wahhabi erinnert sich auch an die letzten Lebenstage des Autors. "An einem kühlen Abend vor etwas über zehn Jahren kam Mohamed Choukri ins Café 'Raqqasa', grüßte die Gäste und nahm im hinteren Bereich Platz. Mit einer Zigarette zwischen den Lippen bestellte er heißen Tee und begann in seinen mitgebrachten Literaturzeitschriften zu blättern. Er war schweigsamer als sonst. Als ich ihn fragte, wie es ihm gesundheitlich gehe, antwortete er nur: 'Gut.' Er machte sich scheinbar keine Sorgen über sein Ende und wusste nicht, dass er in nur wenigen Tagen aus dieser Welt scheiden würde."
Der Schriftsteller Tangers
Abseits des Lärms im Socco treffe ich in einem anderen Stadtteil Tangers Choukris Schwester Malika Chaiker, die für die gesamte Familie des Schriftstellers zu sprechen beansprucht: "Wir lehnen 'Das nackte Brot' ab", versichert sie. "Wegen der anstößigen Sexszenen darin, aber auch wegen der Weise, in der unser Vater als Gewalttäter in der Familie dargestellt wird." Sie selbst habe das Buch zwar nicht gelesen, habe aber viel davon gehört, und ihre Schwester Rahimu kenne es und habe es schon zu Lebzeiten Mohamed Choukris rundweg abgelehnt.
Auch der Mittsechziger Al-Wahhabi kennt Choukris "Das nackte Brot" und sagt dazu: „Alle seine Freunde im Socco waren sich einig in der Missbilligung dieser Autobiografie. Wir Freunde Mohamed Choukris haben ihm nie ins Gesicht gesagt, dass wir in Wirklichkeit alle verärgert über 'Das nackte Brot' waren. Aber unsere Freundschaft zur Weißen Nachtigall hat das nicht beeinträchtigt." Al-Wahhabi bereitet sorgfältig eine Kanne Tee zu und sagt lächelnd: "Choukri lebt weiter in vielen Orten und Personen im Socco. Er wird immer der Schriftsteller Tangers bleiben."
"Einmal traf ich mich mit Mohamed Choukri, und er zeigte mir einige arabische Kapitel seiner Romanbiografie", berichtet Abdellatif BinYahya. "Sie handelten davon, wie er seine Einschulung als einen der schwierigsten Momente in seinem Leben erlebte." Dann erklärt er, wie das Romanverbot letztlich zu einer großen Werbung für "Das nackte Brot" wurde.
Rote Linien
Schon die französische Übersetzung hatte unter marokkanischen Kulturschaffenden hohe Wellen geschlagen, so dass Mohamed Choukri entschied, das Buch auch auf Arabisch herauszubringen, und sofort wurde es verboten. "Das Verbot setzte sich in anderen arabischen Staaten fort", so bin Yahya. "In Ägypten erging das Buchverbot, unmittelbar nachdem eine dortige Universität den Roman in ihren Lehrplan aufgenommen hatte."
Der marokkanische Kritiker Bouchouaib Saouiri glaubt, dass es Choukris Wille zum Tabubruch gewesen sei, der ihn in "Das nackte Brot" geleitet habe. Dieser habe dann auch zum Verbot des Romans geführt, was dem Buch jedoch nur Auftrieb gegeben habe. Gerade weil es wegen seiner Gesellschaftsgefährdung verboten worden sei, habe es eine breite arabische Leserschaft gefunden.
Andererseits, so Bouchouaib, begegne der Leser in "Das nackte Brot" einer literarischen und menschlichen Erfahrung, die in einem anderen kulturellen und gesellschaftlichen Zusammenhang stehe, als man sie in Marokko heute kenne. Und auch wenn die kreativen Grenzen in Marokko relativ weit gesteckt seien, so gebe es eben doch noch rote Linien, insbesondere bei allem, was mit Moral und Religion zu tun hat. Das sehe man auch daran, welche Reaktionen es in Marokko in den letzten Jahren auf manche Filme gegeben habe.
Aziz Dariouchi
Aus dem Arabischen von Günther Orth
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Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de