Zeigt endlich Haltung!

Die Fassade eines Gebäudes mit einem Schild an den Fenstern, auf dem steht: "Euer Schweigen bedeutet Mitschuld".
Palästina-Protest an der HU Berlin, Mai 2024. (Foto: Picture Alliance / Middle East Images | S. Frank)

In der Islam- und Nahostforschung in Deutschland wird politische Neutralität hochgehalten. Dabei betonen sowohl die westliche Philosophie als auch die klassische islamische Tradition: Wissen bringt ethische Verpflichtungen mit sich. Eine Intervention.

Essay von Dina Wahba

Deutsche Akademiker:innen sind oft stolz auf ihre Wissenschaftlichkeit, verstanden als konsequente Forschungspraxis, die als objektiv und politisch neutral gilt. Die Geschichte zeigt jedoch, dass Wissenschaft nie wirklich frei ist von gesellschaftlichen oder politischen Einflüssen. 

Der Historiker Steven Shapin erinnert uns in „Never Pure“ daran, dass wissenschaftliche Forschung immer in bestimmten Zeiten, Kulturen und Machtstrukturen verankert ist. Was als wissenschaftliche „Wahrheit“ gilt, ist durch Förderung, Ideologie und gesellschaftliche Interessen geprägt. Die Vorstellung einer neutralen, unpolitischen Wissenschaft ist eine historische Fiktion. 

Die Behauptung einer reinen Objektivität kann verschleiern, dass Forschung auch unbewusst den Status quo zementieren kann. Konsequente Wissenschaft verlangt Ehrlichkeit und Offenheit in Bezug auf Beweise und Argumentation; sie verlangt nicht, angesichts menschlichen Leids auf moralische Urteile zu verzichten. 

Neutralität ist oft eine rhetorische Haltung, die wissenschaftlicher Arbeit den Anschein von Objektivität verleiht, gleichzeitig aber bereits bestehende Werturteile und Interessen verdeckt. 

Nirgendwo wird dies deutlicher als in der deutschen Nahostforschung, wo die Wahl von Forschungsthemen, -rahmen und -terminologien von politischer Bedeutung ist. Insbesondere in der Debatte über Palästina wird hier oft das Argument der wissenschaftlichen Neutralität zur Rechtfertigung von diskursiver Inaktivität herangezogen. 

Doch wenn sich Wissenschaftler:innen auf ihre Neutralität berufen, übersehen sie: Ihre Weigerung, sich zu positionieren, führt unter Umständen dazu, dass sie sich automatisch auf die Seite der Mächtigen stellen und damit eine Mitschuld tragen. 

Wissen heißt Verantwortung – bei Arendt wie im islamischen Denken

Die deutsche intellektuelle Tradition selbst bietet Instrumente zur Kritik der Neutralitätstheorie. Die Politikwissenschaftlerin Hannah Arendt argumentierte, Denken sei keine trockene intellektuelle Übung, sondern eine moralische Aktivität – eine, die unerlässlich sei, um politische Katastrophen zu verhindern.

Arendt reflektierte über die „Banalität des Bösen“ im Totalitarismus und wies darauf hin, dass großes Übel möglich wird, wenn Menschen sich weigern, ihr Handeln kritisch zu hinterfragen oder Recht von Unrecht zu unterscheiden. 

Anders ausgedrückt: Sich des Denkens (und damit auch des Urteilens) zu enthalten, ist bereits eine Entscheidung – eine, die es ermöglicht, dass Unrecht ungehindert fortbesteht. 

Arendts Erkenntnis erlegt Wissenschaftler:innen eine moralische Bürde auf: Wenn wir denken, müssen wir auch urteilen.

Eine ähnliche Ethik durchzieht die islamische intellektuelle Tradition. Wissen (ʿilm) bringt taklīf mit sich – Verpflichtung oder ethische Verantwortung. Das klassische islamische Denken betrachtet Wissen nicht als Macht, die nach Belieben eingesetzt werden kann, sondern geht davon aus, dass Wissen dem Wissenden Pflichten auferlegt.

Wissen, losgelöst von ethischer Verantwortung, ist aus islamischer Sicht keine Tugend, sondern Verrat. Der Kerngedanke deckt sich mit dem von Arendt: Echtes Verständnis führt zu der Notwendigkeit, sich zu kümmern und zu handeln.

Ein Wissenschaftler, der um Ungerechtigkeit weiß und dennoch Neutralität heranzieht, um sich nicht engagieren zu müssen, verrät aus dieser Sicht den eigentlichen Zweck des Wissens. Neutralität wird zum Vorwand für moralische Verweigerung.  

Weitere zentrale Kritik an der Neutralität kommt aus der feministischen Erkenntnistheorie. Feministische Wissenschaftlerinnen wie Clare Hemmings argumentieren, Wissen werde verkörpert und sei emotional und affektiv aufgeladen. 

Mit ihrem Konzept der affektiven Solidarität stellt Hemmings die Vorstellung infrage, man könne (oder solle) sich von seinem Forschungsgegenstand distanzieren. Distanz erweist sich hier als politische Haltung, oft im Einklang mit dominanten Perspektiven, die das Erfahrungswissen marginalisierter Gruppen ignoriert.

Eine solche Distanz kann unbeabsichtigt eine Hierarchie zwischen dem westlichen „Wissenden“ und dem östlichen „Studienobjekt“ verstärken. Im Gegensatz dazu kann die Anerkennung von Affekt und Situiertheit zu affektiver Solidarität führen: zu einer Verpflichtung zum Wissen, die aus Zugewandtheit zu denjenigen entsteht, die erforscht werden, sowie aus dem Anspruch, ihnen beizustehen statt über ihnen zu stehen.

Neutralität ist politisch

Mit diesen Perspektiven kehren wir zurück zum Kontext der deutschen Hochschulen, speziell der Nahoststudien. Im Laufe meiner Karriere habe ich oft erlebt, wie sich hinter dem Anspruch auf Neutralität eine gewisse Komplizenschaft verbirgt. 

Viele deutsche Nahostexpert:innen – angesehene Professor:innen, Gelehrte und Analytiker:innen – beschäftigen sich mit Autoritarismus und Konflikten. Werden Gemeinschaften, die sie seit Jahren erforschen, angegriffen oder werden politische Dissident:innen aus der Region in Deutschland geschlagen und verhaftet, so äußern sie sich dazu jedoch nicht öffentlich. 

Auf Meinungsbeiträge verzichten sie; sie meiden Proteste oder Petitionen und schweigen in den sozialen Medien, während moralische Klarheit dringend notwendig ist. Einige berufen sich dabei auf wissenschaftliche Objektivität, um sich nicht äußern zu müssen. 

Das Ergebnis ist ein ohrenbetäubendes Schweigen derjenigen, die die historischen und politischen Zusammenhänge am besten kennen. 

Für mich als Nachwuchsforscherin aus Nordafrika war diese Dynamik spürbar. Ich hatte oft das Gefühl, dass unser Leid für viele deutsche Akademiker:innen nur Thema eines Aufsatzes war, nicht mehr. Die Menschen der Region waren in der deutschen Wissenschaft Analyseobjekte, nicht Gemeinschaften, mit denen man solidarisch sein konnte. 

Dies ist kein Appell an Akademiker:innen, zu Aktivist:innen im vereinfachten Sinne zu werden. Es ist vielmehr ein Aufruf, anzuerkennen, dass die Verweigerung von Engagement ein politischer Akt ist, der typischerweise den Status quo begünstigt. 

Indem sich Forschende aus dem Streit heraushalten, vermitteln sie die Botschaft, dass bestimmte Ereignisse moralisch nicht klar genug sind, um eine Verurteilung zu rechtfertigen. So wird Unrecht normalisiert. 

In deutschen politischen Kreisen sowie in den Medien kann akademische Expertise dann selektiv zitiert werden: Wenn Wissenschaftler:innen eine voreingenommene Darstellung nicht lautstark widerlegen, kann ihr Schweigen als implizite Bestätigung ausgelegt werden.

Palästina-Diskurs als Herausforderung

Deutschland steht heute vor einer demokratischen Herausforderung: Der Raum für eine offene Debatte über bestimmte Themen in Nordafrika und Westasien, insbesondere über Palästina, schrumpft.   

Unter dem Vorwand der Bekämpfung von Antisemitismus (zweifellos ein wichtiges Anliegen) haben die Behörden Maßnahmen verabschiedet, die berechtigte Kritik am Handeln des israelischen Staates mit Bigotterie verwechseln

Deutsche Gesetzgeber verwenden die umstrittene Antisemitismus-Definition der IHRA, trotz Warnungen von Menschenrechtsgruppen, dass diese missbraucht werden kann, um „berechtigte Kritik an der Politik der israelischen Regierung zu unterdrücken“. Eine Parlamentsresolution von 2025 fordert sogar ausdrücklich dazu auf, Campus-Aktivitäten von Gruppen zu verhindern, die einen Israel-Boykott unterstützen. 

In der Praxis ermutigen diese Maßnahmen Universitäten, Kulturinstitutionen und Konferenzorganisatoren dazu, Veranstaltungen präventiv abzusagen und Forschende, die sich für die Rechte der Palästinenser:innen einsetzen, auszugrenzen. 

Das Ergebnis ist eine Atmosphäre der Angst und Selbstzensur. Wissenschaftler:innen wissen, dass es sie ihre Finanzierung oder ihren Arbeitsplatz kosten kann, wenn sie offen über israelische Menschenrechtsverletzungen diskutieren – egal wie wissenschaftlich fundiert. 

Die Unterdrückung des kritischen Diskurses birgt zwei große Gefahren. Erstens schadet sie direkt den Gesellschaften der Region und der Palästinas, weil ihre Narrative und ihr Leid aus dem Raum des öffentlich Legitimen ausgeschlossen werden. Die betroffenen Gruppen bleiben in deutschen Foren praktisch stumm, ihr Leid bleibt ungesehen oder wird als undiskutierbar erachtet.  

Zweitens untergräbt die Situation wissenschaftliche Integrität und gefährdet die Gesundheit der deutschen Demokratie. Wie kann wissenschaftliche Forschung ehrlich bleiben, wenn bestimmte Schlussfolgerungen oder Themen aufgrund politischer Sprechverbote tabu sind? 

Eine Wissenschaft, die durch politische rote Linien eingeschränkt wird, hört auf, Wissenschaft im eigentlichen Sinne zu sein; sie wird zum Dogma. In einer demokratischen Gesellschaft müssen Universitäten Bastionen offener Debatten sein. Sie sind nicht dafür da, offizielle Narrative durchzusetzen. 

Das Abgleiten in eine intellektuelle Orthodoxie in Bezug auf den Nahen Osten verhindert nicht nur Gerechtigkeit für die Palästinenser:innen, sondern untergräbt auch den Grundsatz der freien Forschung, auf den alle – Forschende wie Bürger:innen – angewiesen sind.

Haltung schützt vor Politisierung

Es ist an der Zeit, dass die deutsche Wissenschaft – insbesondere weiße Forschende außerhalb der Region, die lange den Luxus einer neutralen Haltung genossen haben – ihre Verantwortung überdenkt. Neutralität kann nicht länger ein Alibi für Untätigkeit sein. Wir müssen uns wieder darüber bewusst werden, dass Wissen Verpflichtungen mit sich bringt. 

Ein Nahostexperte sollte sich, wenn er Unterdrückung oder Ungleichheit erkennt, nicht hinter wissenschaftlicher Distanz verstecken. Stattdessen sollte er seine Stimme nutzen, um das öffentliche Gewissen zu informieren. 

Denken, so Arendt, muss zum Urteilen führen: Dinge beim Namen nennen, Lügen und Vereinfachungen widerstehen und sich weigern, durch Schweigen Kompliz:in zu werden. Im islamischen ethischen Sinne bedeutet das, Wissen als eine Form des Vertrauens zu behandeln: eine amānah, für die wir zur Rechenschaft gezogen werden.  

Die Glaubwürdigkeit deutscher Nahostforschung wird nicht beeinträchtigt, wenn Wissenschaftler:innen moralische Positionen vertreten. Im Gegenteil, sie wird gestärkt. Haltung zeigt, dass unsere Arbeit auf Realität und Menschlichkeit basiert und nicht in einer Echokammer und ohne Konsequenzen entsteht.  

Forschende können methodische Konsequenz und Genauigkeit wahren und gleichzeitig die moralische Dimension ihrer Forschungsthemen anerkennen. Dies könnte uns auch gegen Politisierung immunisieren, indem es reaktionären Kräften die Macht nehmen würde, den Rahmen der Debatte vorzugeben. 

Bedenken wir die Alternative: Wenn Forschende sich nicht zu Wort melden, überlassen wir den Diskurs den Demagog:innen und Ideolog:innen. 

 

Dieser Text ist eine Übersetzung des englischen Originals. Übersetzung von Clara Taxis.

 

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