Eine spannungsreiche Geschichte
Glauben Sie, dass dieses Buch heute einen Beitrag zur Verständigung zwischen Juden und Muslimen leisten kann?
Benjamin Stora: Ich glaube nicht, dass historische Forschung im Speziellen oder akademische Forschung im Allgemeinen allein dazu geeignet sind, negative Erinnerungen zu beseitigen, denn zur Versöhnung sind in erster Linie politische Gesten unerlässlich. Und doch existiert seit inzwischen 50 Jahren ein solches Manko in dieser Hinsicht, ein solch tiefer Graben des Missverstehens zwischen Juden und Muslimen – und de facto ein Verschwinden der Minoritäten (vor allem der jüdischen und christlichen) aus der öffentlichen Sphäre der muslimischen Gemeinschaft –, dass bereits ein solches Unternehmen, also die Rekonstruktion der gemeinsamen Geschichte, einen fast schon subversiven Akt darstellt. Heute haben viele 20-jährige oder 30-jährige Muslime noch nie einen jüdischen Mitbürger in ihrem näheren Umfeld gesehen. Erzählt man ihnen dann, dass in den arabischen Städten einst Juden und Muslime friedlich nebeneinander lebten, können sie es kaum glauben, dass es so etwas je gegeben hat. Sie halten das für blanken Revisionismus.
Und doch gibt es durchaus noch Menschen, die sich an diese Phase der Koexistenz erinnern können. Wurde ihr Wissen denn nicht an die nachfolgenden Generationen weitergegeben?
Stora: Natürlich gibt es Familien, die mit den jüdischen Gemeinschaften zusammenlebten und sich gewiss auchdarüber unterhielten. Gleichzeitig ist die Mentalität der jüngeren Generationen derart verhärtet, dass solche alten Familientraditionen oftmals nicht ernst genommen werden. Diese Geschichten aus der Vergangenheit werden stattdessen als übertrieben und verfälscht abgelehnt oder als nostalgische Schwärmerei alter Menschen abgetan, die den Geist der heutigen Zeit nicht verstehen würden und die Geschichte nachträglich beschönigten. Und genau das ist es, was die Rekonstruktion der Geschichte und der Erinnerung zu einer politischen Tat werden lässt.
Dürfte die von Ihnen herausgegebene Enzyklopädie folglich nicht auch negative Reaktionen bei der arabischen Leserschaft hervorrufen?
Stora: Nun, dazu müsste das Buch erst einmal ins Arabische übersetzt werden. Das dies bisher noch nicht geschehen ist, hat mehrere Ursachen: finanzielle Gründe, aber auch ideologisch bedingte Blockaden spielen hierbei eine Rolle. Die größte Herausforderung besteht darin, Leute in der arabischen Welt zu finden, die in der Lage sind, als Vermittler zu dienen. Schließlich gibt es im Maghreb nur relativ wenige bedeutende Historiker, die sich auf die arabische Welt spezialisiert haben und die dies übernehmen könnten. Und diesen wird von der Seite der Politik nicht getraut, bevorzugt diese doch in der Regel die Sicht arabischer Nationalisten oder islamistischer Ideologen und nicht die kühle Interpretation von Fakten durch Menschen, die in der Lage sind, über den Tellerrand der Ideologie hinauszuschauen. Aber es gibt glücklicherweise noch einige Persönlichkeiten, und nicht wenige von ihnen haben auch an unserem Buch mitgewirkt.
In dem von Ihnen herausgegebenen Buch ist mitunter von einer "Beschleunigung der Geschichte" die Rede. Was genau ist damit gemeint?
Stora: Die Trennung der beiden Sphären begann im 19. Jahrhundert mit dem Grémieux-Dekret während der Kolonialzeit (in diesem Dekret wurde festgelegt, dass die etwa 35.000 Juden in der französischen Kolonie Algerien als französische Staatsbürger anerkannt werden, nicht aber die Angehörigen der dort lebenden arabischstämmigen Bevölkerungsmehrheit; A. d. Ü.). Mitte des 20. Jahrhunderts aber beschleunigte sich dieser Prozess. Es geht also darum zu verstehen, wie es möglich war, dass in diesem so kurzen Zeitraum von 50 Jahren die 13 Jahrhunderte der Koexistenz ausgelöscht werden konnten und was die Ursachen hierfür waren.
Es gibt verschiedene Episoden, bei denen die Verantwortung für die Geschehnisse hauptsächlich Europa zugeschrieben werden kann: die Entstehung des arabischen Nationalismus und die Tatsache, dass sich dieser irgendwann gegen sich selbst richtete; die Geburt des Zionismus; die Gründung Israels und die arabisch-israelischen Kriege; Kolonisierung und De-Kolonisierung. Hier kamen viele einschneidende Prozesse zusammen, was zu der rasanten Verschärfung führte, wie sie dann zu beobachten war. Und doch: der religiöse Faktor war niemals der entscheidende. Wäre dies der Fall gewesen, hätte die Beziehung zuvor doch nicht diese lange Zeit gehalten. Es war vor allem der politische Aspekt, und nicht der religiöse, der letztlich dann zur Trennung beider Gemeinschaften geführt hat.
Welchen historischen Ansatz verfolgen Sie mit Ihrem Werk?
Stora: Es gibt bereits sehr viele Geschichtswerke, die sich mit dem Islam und mit dem Judentum beschäftigen, aber nur sehr wenige Bücher setzen sich mit dem Verhältnis beider Religionen auseinander. Was dieses Werk deshalb so besonders macht, ist, dass es den Begriff eines gemeinsam genutzten Raumes einführt. Es fragt nach den besonderen Beziehungen religiöser Gemeinschaften und vergleicht die Standpunkte beider Gruppen bei besonders sensiblen Themen. Ich denke hier etwa an die Arbeit zweier Historiker, einen Palästinenser und einen Israeli: Elias Sanbar, der über die "Nakba" (die Katastrophe für die Palästinenser) schrieb und Denis Charbit, der sich der Geschichte des jüdisch-palästinensischen Konflikts angenommen hat. Diese Art der komparativen Geschichtsschreibung ist wirklich innovativ. Vor dem Hintergrund der großen Spannungen zwischen den Gemeinschaften wurde dieser Ansatz allerdings nie wirklich von allen Seiten akzeptiert. Zunächst schien es, dass wir damit deren Ablehnung riskierten.
Interview: Nathalie Galesne
Übersetzung aus dem Englischen von Daniel Kiecol
© Babelmed/Qantara.de 2014
Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de
Abdelwahab Meddeb & Benjamin Stora (Hg.): "Histoire des relations entre juifs et musulmans des origines à nos jours"; Albin Michel Editions, 1.200 Seiten, Paris 2013