Ein Stadtteil, der die Nation prägte

Ein Mann geht durch die engen Gassen des Gewürzmarktes.
Heute Touri-Ziel: das ehemalige jüdische Viertel Kairos, hier nahe Khan el-Khalili (Foto: Picture Alliance/SOPA Images/ J. Wreford)

Toleranz und Aufstieg, Elend und Auswanderung: Zwei neue Bände beleuchten die Geschichte von Kairos jüdischem Viertel. Autor Ahmed Zakaria Zaki dokumentiert, wie eng jüdisches Leben mit der Geschichte Ägyptens verwoben ist.

Von Mohamed Gamal

Die Geschichte eines Ortes wie des jüdischen Viertels in Kairo neu zu erzählen, kann hitzige Debatten auslösen – besonders in den sozialen Medien und vor dem Hintergrund des Gazakriegs. Genau das geschah, als Ahmed Zakaria Zakis Buch „Das jüdische Viertel im 19. Jahrhundert“ (حارة اليهود خلال القرن التاسع عشر) im Januar auf der Kairoer Buchmesse vorgestellt wurde. 

Einige kritisierten die Themenwahl: Das Buch solle sich besser der Geschichte Palästinas und den aktuellen Ereignissen in Gaza widmen. Andere hielten dagegen: Es sei essenziell, die Geschichte zu dokumentieren und aus ihr Lehren zu ziehen. 

In der Einleitung des Buches beschreibt Zaki seine Recherchen als „wahnsinnig“. Das zweibändige Werk behandelt die Geschichte eines Ortes im historischen Kairoer Stadtteil Gamaliya, der zwar nur wenige Quadratkilometer groß ist, aber reich an Details zum Erbe der ägyptischen Jüdinnen und Juden.  

Seine Recherchen hätten ihm vor Augen geführt, dass nahezu jede zentrale Entwicklung im modernen Ägypten ihren Ursprung in diesem Viertel habe, erklärt Zaki, Professor an der Ingenieursfakultät der Kairo-Universität, gegenüber Qantara.  

Zaki hat bereits mehrere Bücher über jüdisches Leben in Ägypten veröffentlicht. Die meisten Werke zum Thema, sagt er, würden das 19. Jahrhundert vernachlässigen und sich auf die Zeit nach dem Aufstieg der zionistischen Bewegung im 20. Jahrhundert und der Gründung Israels konzentrieren. 

„Die strategische Lage des jüdischen Viertels im Herzen Kairos”, ergänzt er, „machte es im 19. Jahrhundert zu einem kulturellen Anlaufpunkt für ausländische Reisende und Orientalist*innen – nicht zuletzt, weil viele der jüdischen Einwohner*innen Fremdsprachen beherrschten und im Geldwechsel tätig waren.“ 

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Vom Elend zum Aufschwung

Das Buch beginnt mit der Ankunft der französischen Expedition unter Napoleon Bonaparte in Ägypten 1798, ein Wendepunkt für die jüdische Gemeinschaft, die unter der osmanischen Herrschaft und deren Statthaltern, den Paschas, schwer gelitten hatte. So war es Jüdinnen und Juden verboten gewesen, Pferde zu reiten oder Waffen zu tragen – Restriktionen, die Bonaparte abschaffte, um die Gunst dieser verfolgten Minderheit zu gewinnen. 

Dennoch änderte sich die Lage im Viertel zunächst kaum, wie das Buch zeigt. Die Autoren der berühmten französischen Enzyklopädie „Description de l’Égypte” berichteten von Schmutz und Elend in den engen Gassen des jüdischen Viertels, die so eng waren, dass zwei Personen nicht gleichzeitig nebeneinander gehen konnten. 

Als nächstes führt uns Zaki in eine neue Phase der ägyptischen Geschichte: die Herrschaft von Muhammad Ali Pascha (1805–1848), dem Begründer des modernen Ägypten. Unter ihm, der religiöse Intoleranz zurückdrängte, wurden im Viertel neue Synagogen errichtet. Auch wanderten vermehrt jüdische Zuwanderer*innen ein, vor allem Jüdinnen und Juden, die vor Diskriminierung in Europa flohen. 

Ägypten entwickelte sich in dieser Zeit auch zu einem beliebten Ziel für europäische Reisende und Orientalist*innen. Und auch das jüdische Viertel rückte in den Fokus des Interesses. Doch seien viele ihrer Berichte geprägt von Antisemitismus, Islamfeindlichkeit oder Überlegenheitsdenken, merkt Zaki an.  

So beschrieb etwa der französische Autor Félix Mengin das Viertel folgendermaßen:  

„Die Straßen sind sehr eng, die Häuser stehen dicht beieinander, sodass sie dunkel sind und die Luft nicht zirkulieren kann, was die Bewohner*innen krank macht. Die meisten leiden an Augenkrankheiten (Entzündungen), die sich auf ihren mit Pusteln übersäten Gesichtern zeigen, die durch den übermäßigen Verzehr von Sesamöl verursacht werden.” 

Dabei war das Phänomen der Bindehautentzündung, wie Zaki betont, keineswegs auf das jüdische Viertel beschränkt, sondern unter der gesamten ägyptischen Bevölkerung weit verbreitet. Viele hätten damals das Augenlicht auf einem oder beiden Augen verloren.  

Zeugnisse der religiösen Toleranz

In einem anderen Bericht, der in dem Buch zitiert wird, erwähnt Mengin die tiefe Verbundenheit der ägyptischen Jüdinnen und Juden mit dem Viertel. Im Ausland würden sie sich nach ihm sehnen, selbst in Paris, der damaligen Hauptstadt der westlichen Zivilisation.  

Mengin erzählt von einem Gespräch mit einer jüdischen Frau, die aus Kairo nach Paris gezogen war und wehmütig sagte: „Ach, wo ist Kairo und wo ist das jüdische Viertel? Ich frage mich: Ist die Liebe zur Heimat stärker als alles andere?“ 

Der englisch-jüdische Schriftsteller (und spätere britische Premierminister) Benjamin Disraeli hielt seine Eindrücke vom Viertel ebenfalls fest, und zwar in den Worten einer Figur namens Sidonia in seinem Roman „Coningsby“: „Die Araber*innen”, schrieb er, „sind nichts als Jüdinnen und Juden zu Pferde, und alle sind im Herzen Orientale.“ 

Im Laufe der Zeit löste sich das jüdische Viertel aus der Isolation, die frühe Reisende und Orientalist*innen beschrieben hatten. Juden waren über ihre traditionellen Berufsfelder wie Geldwechsel und Spekulationsgeschäfte hinaus zunehmend auch in der staatlichen Verwaltung beschäftigt, etwa als Buchhalter und Übersetzer für ausländische Vertretungen.   

Das Buch enthält Zeugnisse der religiösen Toleranz, die die Beziehungen zwischen den Jüdinnen und Juden des Viertels und ihren muslimischen und christlichen Nachbarn prägte. Der englische Orientalist Edward William Lane bemerkte beispielsweise, dass der Rabbiner oft als Vermittler fungierte, um kleinere Streitigkeiten beizulegen, nicht nur unter den Jüdinnen und Juden selbst, sondern auch mit ihren koptischen Nachbarn im damaligen Römischen Viertel oder den Muslimen in Gamaliya. 

Cover of Jewish Quarter of Cairo book (Alrewaq publishing)
صدر كتاب "تاريخ حارة اليهود" في مجلدين باللغة العربية عن دار رواق للنشر.

Bemerkenswert ist auch ein Ereignis aus dem Jahr 1846: Auf Befehl des Militärführers Ibrahim Pascha, des ältesten Sohns Mohammed Alis, zog der Begräbniszug für den Oberrabbiner Josef Mosche al-Jazi bis zum jüdischen Friedhof im Basatin-Viertel im Süden Kairos. 

Ibrahim Pascha stellte den Juden sogar seine persönliche Kutsche zur Verfügung, um den Sarg des Verstorbenen zu transportieren, was die Aufregung in den anderen Glaubensgemeinschaften über diese für damalige Verhältnisse ungewöhnliche Beerdigung noch verstärkte. 

Das Viertel war kein „Ghetto“

Der Autor weist darauf hin, dass Kairos jüdisches Viertel nie ein „Ghetto“ war, wie es in einigen Werken über die Jüdinnen und Juden in Ägypten behauptet werde. Zaki belegt dies mit zahlreichen Beispielen. So wohnte beispielsweise ab 1870 der islamische Denker Jamal al-Din al-Afghani, der damals eine einflussreiche Rolle im kulturellen und intellektuellen Leben Ägyptens einnahm, im jüdischen Viertel. 

Al-Afghani verwandelte sein Haus in einen Treffpunkt für Intellektuelle, nachdem er keine Lehrtätigkeit an der Azhar-Universität bekam. Zu ihm strömten ägyptische Studierende und Intellektuelle, darunter Muhammad Abduh und Saad Zaghloul, der spätere Führer der ägyptischen Nationalbewegung. 

Al-Afghani war es, der in seinem Haus im Viertel den Slogan „Ägypten den Ägyptern“ prägte – ein Slogan, der später jahrzehntelang im Kampf gegen die ausländische Besatzung verwendet werden sollte. Auch jüdische und christliche Ägypter*innen scharten sich um Al-Afghani, der versuchte, die nationale an Stelle der religiösen Verbundenheit zu setzen, da er an die Einheit der drei Religionen glaubte. 

Aus dem jüdischen Viertel stammte auch einer der ersten Pioniere des ägyptischen Journalismus, Yaqub Sanu, der unter dem Namen Abu Naddara Zarqa die erste Satirezeitschrift Ägyptens herausgab. Doch schon bald wurde sie wegen ihres Spotts über den Herrscher Ismail Pascha verboten; Sanu wurde nach Frankreich verbannt. 

1879 wurde das Viertel Zeuge eines bedeutenden Ereignisses: Der Oberrabbiner unterzeichnete zusammen mit dem Mufti von Ägypten, dem Patriarchen der Kopten und einer Reihe von Vertretern der ägyptischen Nationalbewegung eine gemeinsame Erklärung. Darin sprachen sie sich gegen die ausländische Vorherrschaft über Ägypten aus, nachdem das Land in die Verschuldung bei europäischen Staaten getrieben worden war. 

20. Jahrhundert unter neuen Vorzeichen

Inmitten all dieser Ereignisse zeigt sich ein Paradox: Je stärker die jüdische Gemeinde im 19. Jahrhundert prosperierte, desto mehr wohlhabende Jüdinnen und Juden verließen die Armenviertel und zogen in vornehmere Gegenden wie Ismailia (heute Downtown) oder die Viertel im Norden Kairos. Zurück blieben die „Elenden“, wie sie genannt wurden. 

Zaki zeichnet in seinem Buch die Geschichte des Viertels bis zum Ende des 19. Jahrhunderts nach, bis zum ersten Zionistenkongress in Basel im Jahr 1897, der die Gründung eines jüdischen Staates in Palästina befürwortete.  

Dies führte auch zur Gründung der ersten zionistischen Vereinigung in Kairo, die sich hauptsächlich aus aschkenasischen Jüdinnen und Juden zusammensetzte. Im Viertel selbst, das sephardisch geprägt war, fand die Bewegung bis zum Ende des Jahrhunderts wenig Unterstützung. 

Aktuell arbeitet Zaki an einem neuen Buch, das die dramatischen Veränderungen in dem Viertel im 20. Jahrhundert nachzeichnet – vom Zustrom muslimischer Einwohner*innen über die Gründung des Staates Israel, die Auswanderung junger Juden und die Überalterung der Zurückgebliebenen bis hin zum fast vollständigen Verschwinden der jüdischen Präsenz im Viertel. 

 

Geschichte des jüdischen Viertels 1 (296 Seiten) 
Geschichte des jüdischen Viertels 2 (462 Seiten) 
Ahmed Zakaria Zaki 
Dar Al-Rawaq Verlag 2025

 

Dieser Text ist eine Übersetzung des arabischen Originals. Übersetzung: Jannis Hagmann. 

 

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