Finger weg von unserer Revolution!
Baha Taher, geboren 1935, begleitete erst als Journalist, dann als Schriftsteller mit politischer Ambition sämtliche Umbrüche in Ägypten. Er war Mitbegründer der Graswurzelbewegung "Kifaya", die ein Ende des Regimes Mubarak forderte und den Grundstein für die Januar-Revolution legte. Wir treffen uns in Leipzig, wo Taher sein nun auf Deutsch erschienenes Buch "Die Oase" vorstellt, für das er 2008 mit dem International Prize for Arabic Fiction ausgezeichnet wurde. Herr Taher ist sehr freundlich und höflich, wir gehen spazieren, setzen uns dann aber in ein Café, da er starke Schmerzen in den Beinen hat. Ein Venenleiden verhinderte zu seinem großen Bedauern, dass er während der Revolution, auf die er so lange gewartet hatte, täglich auf dem Tahrir-Platz sein konnte.
Herr Taher, am Mittwoch (23.5.2012) begannen die Wahlen um das Amt des ägyptischen Präsidenten. Erstmals in der Geschichte des Landes gab es ein Fernsehduell. Haben Sie es gesehen?
Baha Taher: Natürlich, ganz Ägypten saß vor dem Fernseher. Die Cafés waren überfüllt, die Leute gieren nach politischer Transparenz, so etwas gab es in Ägypten schließlich nie.
Dreizehn Kandidaten traten bei der Wahl an. Warum wurde ausgerechnet dem Liberalen Amr Moussa und dem Islamisten Aboul Fotouh ein Fernsehduell gewährt?
Taher: Man sagte, sie stünden ganz oben auf der Liste, aber das stimmt nicht. Vielleicht sollen sie durch das Duell zu den wichtigsten Kandidaten gemacht werden.
Möchten Sie einen von beiden als neuen Präsidenten sehen?
Taher: Nein, ich finde Hamdeen Sabahi am besten. Er ist säkular und hat immer
gegen das Regime Mubarak gekämpft. Meine Frau spricht nicht Arabisch, aber als sie ihn einmal reden sah, sagte sie: Schau dir seine Gestik und Mimik an, der ist gut. Doch er wird nicht gewinnen, denn er ist nicht reich.
Das ist ein Kriterium?
Taher: Natürlich! Ganz Kairo ist mit Wahlplakaten gepflastert, aber ich muss mir wirklich Mühe geben, um irgendwo das Gesicht von Sabahi zu finden.
Wer bezahlt die Plakate der Muslimbrüder?
Taher: Das wüssten wir alle gern. Sie behaupten, das Geld komme von den Wählern. Also ich habe Sabahi noch kein Plakat bezahlt!
Vielleicht die Saudis?
Taher: Es gibt dieses Gerücht. Und auch jenes, dass die Mubarak-Anhänger viel Geld für ihre Kandidaten ausgeben. Bei dieser Wahl weiß niemand, ob das Geld aus dem In- oder Ausland kommt. Das verunsichert die Menschen.
Mahmud, der Protagonist Ihres Romans "Die Oase", ist frustriert wegen der politischen Verhältnisse. Er möchte sie verändern, doch das gelingt ihm nicht. Sie haben das Buch 2008 geschrieben, angesichts der derzeitigen Verhältnisse erscheint es fast prophetisch.
Taher: Das mag sein, aber ist Literatur nicht immer prophetisch?
Jedenfalls ist der Revolutionsenthusiasmus inzwischen einer starken Ernüchterung gewichen. Sind auch Sie enttäuscht?
Taher: Nein, denn jede Revolution in der Geschichte hatte ihre Höhen und Tiefen, und so ist es eben auch in Ägypten. Wir sind noch mitten drin in der Revolution, und deshalb sollte man nicht ständig über sie urteilen. Ansonsten leidet man entsetzlich bei jedem Rückschlag, wird pessimistisch und freut sich wie verrückt über alle Erfolge - so ist das jedenfalls bei mir.
Sie sind Ihr ganzes Leben lang politisch gewesen, und trotzdem nimmt Sie das so mit?
Taher: Ich war ungeheuer glücklich, als die Revolution ausbrach, und habe in diesen Wochen so viel Freude erlebt, dass es für zehn Leben reichen würde. Da übertreibe ich wirklich nicht. Danach fingen die Probleme an, denn der Revolution fehlte die Durchsetzungskraft.
Weil es keinen Anführer gab?
Taher: Das war einerseits positiv, postmodern eben. Aber viele sprangen auf den Zug auf und versuchten, die Führung zu übernehmen: Islamisten, die Armee, Anarchisten. Zum Glück sind die Revolutionäre der ersten Stunde noch da. Sobald jemand versucht, ihnen die Revolution zu stehlen, setzen sie sich zur Wehr, auch wenn sie mit ihrem Blut dafür bezahlen.
Es wird wieder viel davon auf den Straßen vergossen. Verabredet man sich zu den Demonstrationen noch immer übers Internet?
Taher: Nicht nur, denn es kommt vor, dass die Feinde der Revolution unter falscher Identität in den einschlägigen Foren unterwegs sind. Man kann nicht mehr sicher sein, wer was schreibt. Wichtig wäre aber auch, dass Europa und Amerika uns in Ruhe lassen.
Wieso das?
Taher: Bei jeder Revolution, die es bisher bei uns gab, mischten sie sich ein und machten alles kaputt. Als die aktuelle Revolution ausbrach, hielten Amerika und Europa erst zu Mubarak. Als klar war, dass sie nicht aufzuhalten ist, bekamen plötzlich wir Unterstützung. Was ist der wahre Standpunkt des Westens? Worin besteht sein Interesse? Ich für meinen Teil kann das nicht beantworten.
Im Westen sind viele der Ansicht, dass der Islam nicht mit Demokratie vereinbar sei.
Taher: So ein Quatsch, die Türkei und Malaysia zeigen das Gegenteil. Wir sollten alle Buddhisten werden, das wäre wohl einfacher.
Hat die Revolution das Arbeiten der Schriftsteller verändert?
Taher: Wissen Sie, ich habe drei Zensursysteme erlebt, eines war schlimmer als das andere. Unter König Faruk wurden Dinge, die dem Zensor nicht gefielen, geweißt. Das konnte ein Satz sein, aber auch eine ganze Seite. Unter Sadat lautete die Regel: Man kann alles veröffentlichen, hat aber die Folgen zu tragen, also Gefängnis, oder man wurde nicht für seine Arbeit bezahlt, was bedeutete, dass man seinen Beruf über kurz oder lang an den Nagel hängen musste.
Sie gingen damals als Übersetzer nach Genf, kehrten aber nach acht Jahren zurück . . .
Taher: . . . und erlebte die perfideste Form der Zensur, nämlich jene der Massen, sie besteht bis heute. Mubaraks Anordnung lautete: Lasst sie das sagen, was sie wollen. Doch wenn man sich in die Politik einmischt, dann bezahlt man das unter Umständen mit dem Leben. Man ist also sein eigener Zensor, muss selbst entscheiden, wie weit man gehen kann, und das ist am schlimmsten.
Denken Sie an Nagib Machfus, er wurde 1994 von einem Islamisten mit einem Messer angegriffen. Das Gefängnis kann man überleben, keinen Lohn für seine Arbeit zu bekommen, auch. Aber die Zensur der Massen kann tödlich sein. Es ist eine Schlacht, und deshalb stehe ich hinter Hamdeen Sabahi, denn er verteidigt die Werte der Zivilgesellschaft.
Was können Sie derzeit nicht mehr schreiben?
Taher: Ich schreibe alles, ich unterwerfe mich nicht, lieber sterbe ich. Aber ich weiß, dass einige Schriftsteller sich dieser Gefahr sehr, sehr bewusst sind, sie erhalten Drohbriefe. Das wirkt sich auf ihre Arbeit aus, sie verändern sich.
Wie verändern sie sich?
Taher: Sie werden religiöser, zumindest tun sie auf einmal so.
Gibt es Bücher, die wichtig waren für die Revolution?
Taher: Es sind eher Schriftsteller. Die jungen Leute vom Tahrir-Platz glauben an bestimmte Schriftsteller und Dichter. Für die Revolutionäre sind diese die einzigen Wahrhaftigen im Land, sie teilen ihre Ideale. Sie haben den Eindruck, mit ihnen in einem Boot zu sitzen.
Welche sind das?
Taher: Amal Donkol, ein Dichter meiner Generation, der in den achtziger Jahren starb. Die Leute rezitierten seine Verse über Freiheit auf dem Tahrir-Platz. Auch al-Abnoudi oder Sayed Hegab waren wichtig, und natürlich Nagib Machfus.
Aber lassen Sie mich etwas anderes erzählen, ich bin mir nicht sicher, ob der Zusammenhang stimmt, aber interessant ist es schon: In den fünf Jahren vor der Revolution verdreifachte sich der Absatz von Büchern in Ägypten und ist konstant hoch geblieben, obwohl das Lesen von Büchern in der arabischen Welt eigentlich nicht sehr verbreitet ist. Offenbar finden die Menschen in der Literatur jedoch eine Wahrheit, die ihnen ansonsten vorenthalten wird.
Was ist mit junger Literatur?
Taher: Es gibt nicht viele zeitgenössische Schriftsteller, die einen kritischen Blick auf die ägyptische Gesellschaft werfen. Zu nennen wäre aber auf jeden Fall Alaa al-Aswany.
. . . der Autor von "Der Jakubijân-Bau" . . .
Taher: Ja, der Roman ist ein Sittengemälde der ägyptischen Gesellschaft, politische Skandale werden benannt, religiöse Gebote als Vorwand für Wahnsinnshandlungen entlarvt. Al-Aswany gehörte ebenfalls zu den Begründern der Kifaya-Bewegung und war sehr oft auf dem Tahrir-Platz.
Sind auch Sie dort gewesen?
Taher: Ich war einer der Ersten, die gegen Mubarak demonstriert haben. Aber als die Sache richtig heiß wurde, machte mir mein Bein einen Strich durch die Rechnung. Ich konnte kaum noch gehen, war deshalb nur zwei- oder dreimal auf dem Platz. Der Empfang war sehr herzlich, jedes Mal. Viele Bücher, die inzwischen über die Revolution geschrieben worden sind, beginnen sogar damit, welche Bedeutung ich für die Opposition in den Jahren vor der Revolution hatte.
Glauben Sie mir, es wäre eine sehr große Ehre für mich gewesen, eine größere Rolle spielen zu können, als die Revolution endlich begann. Aber es ging eben nicht. Das Bein wollte nicht, und ich möchte auch nicht so tun, als sei es anders gewesen.
Wie wurden Sie auf dem Tahrir-Platz empfangen?
Taher: Sehr herzlich, das war unendlich erleichternd für mich. Es wäre sehr schlimm für mich gewesen, wenn die jungen Leute denken, ich unterstützte sie nicht. Dennoch fühle ich mich schuldig, weil ich nicht richtig dabei sein konnte. Das lässt mich einfach nicht los.
Im Moment sind die Muslimbrüder sehr stark in Ägypten.
Taher: Das ist auch die Schuld des Westens.
Des Westens?
Taher: Ja! In den Sechzigern gingen viele Muslimbrüder nach Amerika und Europa. Sie waren gegen Nasser und die nationalistische Bewegung. Das gefiel den Golfstaaten und dem Westen, man hat sie überall mit offenen Armen empfangen. Die Muslimbrüder konnten viel Geld sammeln, sind heute sehr reich. Mit ihrem Vermögen finanzieren sie die Gegenrevolution.
Womit wir wieder bei den Wahlplakaten wären.
Taher: Ja, vielleicht.
Und wenn ein Muslimbruder der nächste Präsident wird?
Taher: Dann wird es furchtbar werden, denn da macht die Armee nicht mit. Es gibt in Ägypten nur einen Kuchen, beide Seiten wollen ihn haben. Es wäre eine echte Tragödie.
Was wird dann aus den Schriftstellern?
Taher: Wir werden weiterhin Widerstand leisten, auch wenn wir schon einige Märtyrer zu vermelden haben. Es gibt kein Zurück. Das moderne Ägypten wurde auf den Schultern von Intellektuellen errichtet. Davon kann man nicht zurücktreten, es hat schon zu viel Blut gekostet.
Interview: Karen Krüger
© Frankfurter Allgemeine Zeitung 2012
Baha Taher: "Die Oase", Übersetzung aus dem Arabischen von Regina Karachouli, Unionsverlag 2011, 333 Seiten
Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de