„Kairo, wie ich es kenne, ist in Gefahr“

Qantara: In Ihrem jüngst auf Englisch erschienenen Roman „The Dissenters“ geht es um eine Frau, deren Leben durch Veränderungen der politischen Verhältnisse geprägt ist. Durch diese Protagonistin schreiben Sie über Geschlecht, Glaube, Freiheit und Verlust. Wer sind die Dissident:innen in diesem Roman, und welche Botschaft soll er vermitteln?
Youssef Rakha: Ich wollte mit dem Roman zweierlei erreichen. Erstens wollte ich auf eine Art und Weise über die Revolution von 2011 sprechen, die über Aktivismus hinausgeht. Ich greife dafür 70 Jahre zurück, um den Kontext zu verdeutlichen und zu verstehen, was zuvor passierte. Zweitens ging es mir darum, eine Frauenfigur aus der Generation meiner Mutter zu portraitieren. Diese Figur verkörpert die ägyptische Identität.
Ich würde dabei nicht von einer Botschaft des Romans sprechen, eher von Fragen – Literatur wirft immer Fragen auf. Zentral ist, dass alle Romanfiguren Dissident:innen sind: der Buder, der für den Geheimdienst arbeitet, wendet sich gegen die Familie; der Vater ist ein politischer Dissident; die Mutter lehnt den Sozialismus des Vaters genauso ab wie den politischen Status Quo und die Tochter widersetzt sich der Mutter.
Sie springen beim Erzählen zwischen verschiedenen Zeiten. Warum haben Sie für den Roman diese Struktur gewählt? Was verbindet Ihrer Meinung nach Vergangenheit und Gegenwart?
Die Verbindung ist mit Blick auf die politischen Implikationen interessant. Ich selbst habe als Autor realisiert, dass ich über die Gegenwart schreiben möchte. Doch dafür muss ich diese kontextualisieren, historisch und in der fiktionalen Welt, die ich erschaffe.
Der Diskurs über die Revolution im Januar 2011 war überwiegend aktivistisch und neoliberal geprägt. Ein Problem dabei ist, dass Situationen und Phänomene tendenziell behandelt werden, als existierten sie in einem Vakuum. Dadurch verlieren sie an Bedeutung. Mein Versuch, in der Dokumentation eines Moments auch dessen Vorgeschichte mit einzubeziehen, wurde zu einem strukturellen Aspekt des Romans. Die beiden Zeitebenen spiegeln zudem die Entwicklung der Hauptfigur wider.
Der Arabische Frühling war für mich persönlich eine große Lernerfahrung; ich realisierte, dass viele meiner Annahmen über die ägyptische Gesellschaft nicht stimmten. Deswegen halte ich es für wichtig, den Kontext des Aufstands in der modernen Geschichte Ägyptens zu thematisieren. Wenn man beispielsweise über die Idee des Fortschritts nachdenkt, ist es faszinierend, dass sich seit den 1950er Jahren in einigen wesentlichen Punkten nur wenig verändert hat.

2016 sagten Sie im Interview mit Qantara, dass Sie durch das Schreiben auf Englisch, versuchen, eine gewissen Distanz zu dem zu schaffen, was in Ägypten vor sich geht. Haben Sie deswegen auch „The Dissenters“ auf Englisch verfasst?
Ich denke, damals habe ich einfach auf Englisch funktioniert. In der Zeit nach der Revolution fühlte ich mich vom Milieu der arabischen Literatur entfremdet, aus politischen Gründen. Manche störten sich daran, dass ich die Machtübernahme der Islamisten (den Muslimbrüdern unter Präsident Mohammed Mursi, Anm. der Red.) offen ablehnte. Gleichzeitig veränderte sich die Zusammensetzung und Struktur der Kulturszene bereits, vielleicht fiel sie auch bereits auseinander.
Die Ambition, einen ägyptischen Roman auf Englisch zu schreiben, hatte ich schon länger. Mit „The Dissenters“ bekam ich die Gelegenheit. Auf Englisch zu schreiben hat den interessanten Vorteil, dass man den Nationalismus umgeht, der dem modernen Standardarabisch inhärent ist.
Selbst wenn man gegen Nationalismus anschreibt oder sich über ihn lustig macht, ist die nationalistische Perspektive tief in der Sprache verankert. In anderen Sprachen muss ich diese ideologischen Vorzeichen nicht mitdenken, ich kann mich also aus einer neutraleren Perspektive mit der Realität auseinandersetzen.
Kairo spielt eine zentrale Rolle in Ihrer Arbeit. Was zeichnet Ihre Beziehung zu dieser Stadt aus?
Ich habe festgestellt, dass ich außerhalb von Kairo nicht schreiben kann – egal, in welcher Sprache. Ich dachte, es ginge nur um Kairo als Ort. Dann wurde mir aber klar, dass es auch um die Zeit geht – die Art und Weise, wie Zeit in Kairo erlebt wird. Natürlich ist Kairo eine riesige und unglaublich vielfältige Stadt. Mein Kairo ist nur ein winziger Teil davon und auch wenn es von den schlimmsten Nöten abgeschirmt bleibt, ist es doch repräsentativ für das Ganze.
Angenommen, ich verkörpere eine bestimmte Version des Ägyptischen, dann manifestiert sich das auch in der Kombination von Raum und Zeit, die mein Kairo sind. Ein Aspekt davon, vielleicht der wichtigste, ist, dass ich – wie Kairo – gezwungen bin, eine Moderne anzunehmen und zu nutzen, die von Natur aus gegen mich als arabischen Muslim voreingenommen ist. Sie ist darauf ausgelegt, mich zu erobern und zu kontrollieren, anstatt mir zu dienen. Ich kann sie nicht vollständig annehmen, aber ich kann auch nicht ohne sie überleben.
Dieses Dilemma repräsentiert Kairo, es ist in jedem Aspekt des Lebens in der Stadt präsent. Es ist in gewisser Weise auch mein zentrales Thema und spiegelt eine Spannung in mir selbst wider.

Wie hat sich die Literaturszene in Kairo in den letzten Jahrzehnten verändert, beispielsweise im Vergleich zu den Jahren unter Mubarak?
Mein Eindruck ist, dass die sozialen Bewegungen ab 2005 eine vielversprechende Dynamik entfachten. Literatur wurde Teil der sozialen Struktur, und es entwickelte sich eine Leser:innenschaft für interessante Bücher, unabhängig von Verkaufszahlen und Profit. Das setzte sich bis zur Revolution fort.
Danach achtete niemand mehr auf Literatur; alles drehte sich um Aktivismus und Politik. Als sich dann wieder eine Literaturszene formte, war sie komplett kommerzialisiert. Sie hatte sich sehr ähnlich entwickelt wie das Verlagswesen im Westen, nur dass die arabische Leser:innenschaft sehr viel kleiner ist.
Ich hörte zum ersten Mal, dass ernstzunehmende und gefeierte Autor:innen von Verlagen abgewiesen wurden – einfach, weil keine hohen Verkaufszahlen zu erwarten waren. Auch politische Zugehörigkeiten veränderten die Szene. Man musste Teil der Gruppe sein, um Aufmerksamkeit zu bekommen und das hat offensichtlich viele entmutigt, während andere einfach links liegen gelassen wurden.
Im Moment gibt es sehr wenig finanzielle Mittel und wenig Energie, um eine wie auch immer geprägte Literaturszene aufzubauen. Es gibt einige wenige Initiativen, die vielversprechend sind, zum Beispiel der Waziz-Verlag, der sich zu einer einflussreichen Marke entwickelt hat. Sie haben einige tolle Bücher veröffentlicht und betreiben den notwendigen Aufwand, um ihre Autor:innen zu unterstützen und deren Bücher zu bewerben. Ich denke, an diesem Beispiel können sich andere orientieren – ein Modell, das mit kapitalistischen Normen verträglich genug ist, um sichtbar zu sein, aber trotzdem über kapitalistische Logiken hinausgeht.
Wie würden Sie die Situation in Ägypten allgemein beschreiben? Welche Rolle spielt das Land als kulturelles und politisches Zentrum der arabischen Welt?
Ich denke, es ist kein kulturelles Zentrum mehr – ich weiß jedoch auch nicht, ob es überhaupt noch eines gibt in der heutigen arabischen Welt. Geld und kulturelle Produktion sind auf jeden Fall anderswo präsenter als hier. Geopolitisch wird Kairo zentral bleiben, aber kulturell fehlt jede Unterstützung.
Staatliche Förderung gibt es nicht mehr, alle staatlichen Gelder fließen in Immobilienprojekte außerhalb der Stadt. Die kommerzielle Szene fördert kulturelle Produktion als solche nicht, es sei denn, das Geld kommt von anderswo, das hat seinen eigenen Preis. Früher gab es zudem eine viel größere NGO-Szene, viele Stiftungsgelder wurden zur Unterstützung kultureller Aktivitäten verwendet. Im Moment habe ich das Gefühl, dass Kairo, wie ich es kenne, in Gefahr ist, dass es verdrängt und untergraben wird.
Glauben Sie, dass die Ägyptische Revolution in mancher Form noch anhält?
Ich finde, die eigentlich interessante Frage ist: „Was ist die Revolution?“ Wenn wir sie durch Aktivismus, Neoliberalismus und den Arabischen Frühling definieren, dann ist sie gescheitert. Sie hat es nicht geschafft, Veränderung herbeizuführen. Meiner Meinung nach ist sie auch daran gescheitert, eine Vision zu entwickeln, die in irgendeiner Weise erstrebenswert gewesen wäre. Sie hat es versäumt, sich mit Fragen wie Persönlichkeitsrechten oder Glaubensfreiheit zu befassen; sie hat sich sogar mit dem theokratischen Faschismus arrangiert.
Doch die Revolution im Sinne eines andauernden Kampfes für persönliche Freiheiten und für Raum, um so zu leben, wie wir es wollen – das, so hoffe ich, gibt es weiter. Im Moment ist es aufgrund der regionalen und globalen Situation sehr schwer zu erkennen, wie sich Dinge verbessern könnten, doch das bedeutet nicht, dass unser Wille, uns zu befreien, verloren geht.
Dieser Text ist eine Übersetzung des Englischen Originals, übersetzt von Clara Taxis.
© Qantara