"Der Islam ist nur eine Abstraktion"

Der iranisch-amerikanische Intellektuelle Hamid Dabashi zählt zu Amerikas renommiertesten Islam-Experten und steht in der Tradition politisch engagierter Kulturkritiker. Im Interview mit Qantara.de erklärt er, wie sich der Islam in Europa durch den Einfluss der europäischen Kultur und durch Europas Muslime verändern wird. Lewis Gropp sprach mit ihm.

Hamid Dabashi; Foto: privat
"Das Unbehagen Europas mit den Muslimen, die aus Afrika, dem Nahen Osten oder aus Südasien kommen, ist ein historisches Echo seiner Angst vor Europas Osten", sagt Hamid Dabashi.

​​Im Vergleich zu Europa sind die amerikanischen Muslime in die Gesellschaft viel besser integriert. Warum ist das so?

Hamid Dabashi: Historisch gesehen ist der Anteil arabisch-muslimischer Einwanderung in die USA minimal, geradezu winzig im Vergleich zu anderen Gruppen. Außerdem kommen arabische Muslime aus wirtschaftlichen Gründen in die Vereinigten Staaten. Das Kapital ist meiner Meinung nach farbenblind und geschlechtsneutral. Die Geschichte feministischer Bewegungen ist in der ganzen Welt mit dem Bedarf nach billigen Arbeitskräften verbunden. Wenn Frauen dann auf den Arbeitsmarkt kommen, fordern sie natürlich auch mehr gesellschaftliche Rechte. Genau das gleiche trifft auf Migranten zu: Sie sind die billigeren Arbeitskräfte. Wenn du also als Libanese, Sudanese, Türke, Iraner oder Pakistani nach Amerika kommst und Arbeit suchst, hat das absolut nichts mit deiner Religion zu tun!

Europa hat dagegen seinen Mythos als homogenere kulturelle Einheit behauptet. Die Kombination eines Christentums, das sich selbst säkularisiert hat, mit – nach dem Grauen des Holocausts – der Herausbildung einer "jüdisch-christlichen" Identität hat Europas Rückgriff auf seinen Gründungsmythos bestärkt. Und dann sind da natürlich noch die Französische Revolution, die Aufklärung, die Europäischen Einigung und die post-sowjetische Rekonstruktion einer europäischen Identität.

Die historische Idee Europas ist ohnehin auf Westeuropa beschränkt. Das Unbehagen Europas mit den Muslimen, die aus Afrika, dem Nahen Osten oder aus Südasien kommen, ist ein historisches Echo seiner Angst vor Europas Osten. Zudem haben wir hier ein Problem, das seit der Rivalität von Österreich-Ungarn mit dem Osmanischen Reich um imperiale Hegemonie besteht – die europäische Angst vor einem islamischen Europa. Aus all diesen Gründen fällt es Europa schwerer, seine Muslime aufzunehmen als den USA.

Józef Brandt: Schlacht am Kahlenberg (1683); Foto: Wikimedia Commons
Mythos einer homogenen kulturellen Einheit: Die Rivalität von Österreich-Ungarn mit dem Osmanischen Reich um imperiale Hegemonie begründete die europäische Angst vor einem islamischen Europa, meint Dabashi.

​​Ist es in Anbetracht dieser Integrationskonflikte für den 'Europäischen Geist' vielleicht gar nicht mehr möglich, all das zu verarbeiten; sollte man sich von der Vorstellung verabschieden, dass die Türkei eines Tages Mitglied der EU wird?

Dabashi: Das ist eine Entscheidung, die der alternden und schrumpfenden Bevölkerung weißer Europäer vorbehalten ist. Europa ist allerdings aufgrund seines Wohlstandes ein alternder Kontinent. Deswegen braucht Europa Arbeitskräfte – je billiger, desto besser; das ist die Logik des Kapitals. Diese Arbeitskräfte führen allerdings ihre eigene Kultur im Gepäck. Die europäische Wirtschaft braucht billige Arbeitskraft, aber die europäische Kultur kann sich nicht damit abfinden, dass sie letzten Endes von dieser Arbeitsmigration beeinflusst werden wird.

Das ist das europäische Dilemma: Man will die Arbeiter, aber wenn sie da sind, akzeptiert man sie nicht. Wir erleben also gerade einen Konflikt zwischen Kultur und Kapital. Oriana Fallaci starb mit der Gewissheit, dass ihr Italien nicht mehr das gleiche Land war, in dem sie geboren wurde. Berlusconi setzt Fallacis bitteren Feldzug fort, auch, wenn er ihn nicht gewinnen kann. Für Italien mag Pasta weiterhin das Nationalgericht bleiben, aber die nordafrikanischen Arbeitsmigranten werden ihre Vorliebe für Tahini und Schawarma beibehalten, und dagegen ist Berlusconi machtlos.

Wie lassen sich Islam und die moderne säkulare Gesellschaft vereinbaren? Hamid Enayat schreibt in seinem Standardwerk über Islam und Politische Theorie, dass der Islam immer versucht sein wird, sich gesellschaftlich zu behaupten und seine Gesetze als Grundlage einer religiösen Gesellschaftsordnung zu etablieren.

Dabashi: Da bin ich entschieden anderer Meinung. Das verfälscht den Blick auf die Geschichte dieser Religion. Auch das Christentum und das Judentum sind monotheistische Religionen; auch sie wollen die ganze Welt nach ihrer Vorstellung formen. Na klar! Das Christentum, das Judentum, der Islam wollen alle – als Offenbarungsreligionen, die sich auf Heilige Schriften berufen – die Welt nach ihren Vorstellungen formen. Darauf basiert ihrer Identität.

Amerikanische Muslime der Ahmadiya; Foto: AP
Amerikanische Muslime der Ahmadiya: "Das Kapital ist meiner Meinung nach farbenblind und geschlechtsneutral", erklärt Dabashi.

​​Jemand, der fragt, ob der Islam mit der Moderne kompatibel sei, denkt nicht historisch, sondern essentialistisch. Deswegen ist auch die Frage, ob der Islam mit der Demokratie vereinbar sei, einfach die falsche Frage; und deswegen führen auch alle Antworten darauf in die Irre. Historisch gesehen war der Islam immer wieder in die unterschiedlichsten kosmopolitischen Kulturen integriert – und das nicht etwa aufgrund der Barmherzigkeit der islamischen Doktrin, sondern ausschließlich aufgrund der sozialen Kräfteverhältnisse, innerhalb derer Muslime – wie alle anderen menschlichen Wesen – eingebunden waren.

Dass das kulturelle Umfeld in Europa heute kosmopolitisch ist, lässt sich nicht etwa auf die nachgiebige Toleranz des Christentums zurückzuführen. Nein, es liegt daran, dass der soziale Kontext – vor allem durch das Zeitalter der Aufklärung – das Christentum gezwungen hat, sich an das nicht-religiöse Umfeld anzupassen. Das gleiche gilt auch für das Judentum, und a forteriori für den Islam.

Jemand, der sich für einen Reform-Islam einsetzt, hat keine also Ahnung.

Dabashi: Und ob, mindestens! Positionen wie die von Tariq Ramadan mit seinem reformierten Islam lehne ich kategorisch ab. Natürlich kann man ein freigeistiger, liberaler Muslim sein und sagen, also, wir müssen jetzt mal den Islam reformieren. Na schön, von mir aus – geh hin und reformier den Islam! Aber die Welt kann es sich nicht leisten, darauf zu warten, dass sich der Islam oder das Christentum oder das Judentum reformiert. Die Welt muss sich mit der Vielfalt an Welterklärungsmodellen arrangieren, und das gleiche gilt für den Islam. Diese Religion muss sich mit dem pluralistischen Gesellschaftsmodell abfinden und seine eigene Identität darin anerkennen und wertschätzen, inmitten all der weltanschaulichen Gegenmodelle.

Ist Ihrer Ansicht nach also auch die Idee vom "Europäischen Islam" eine Chimäre, die Vorstellung davon, dass der Islam Teil der europäischen Kultur wird, in einer moderneren, moderateren Auslegung?

Dabashi: Mein Problem mit Tariq Ramadan ist, dass er denkt, er könne Dinge per Gebot umsetzen, er glaubt, er müsse einen Gedanken nur aufschreiben, dann wird er sich schon realisieren. Aber der Islam muss sich kraft der Muslime in Europa mit anderen europäischen moralischen, intellektuellen, und politischen Kräften auseinandersetzen. Der Unterschied zwischen Leuten wie mir und Tariq Ramadan liegt darin, dass ich mich nicht an dem Islam orientiere, sondern an den Muslimen. Der Islam ist nur eine Abstraktion. Die wirklichen Veränderungen werden durch soziale Kräfte in die Wege geleitet, nicht durch islamische Intellektuelle.

Oriana Fallaci; Foto: AP
Fallcis Erbe: "Berlusconi setzt Fallacis bitteren Feldzug fort, auch, wenn er ihn nicht gewinnen kann", sagt Dabashi.

​​Kann man denn zuversichtlich sein, dass es so kommen wird? Ihrer Argumentation zufolge muss sich jeder Muslim in Europa damit abfinden, dass sein Glaube in absehbarer Zukunft politisch entwertet sein wird – und damit dessen Einfluss auf die Gesellschaft als ganzes aufgeben werden muss. Welcher wahrhaft gläubige Mensch würde sich mit so einer Aussicht abfinden wollen?

Dabashi: Religion ist immer Ausdruck eines kollektiven Bewusstseins. Wenn man also eine Gruppe von Menschen vor sich hat, dann ist all das, woran sie glauben – metaphysisch, religiös und in der Frage, was ihnen als 'heilig' erscheint – ihre Religion. Vergessen wir also für einen Moment Europa. Wenn man nach Indien geht und nach Saudi Arabien und dann nach Marokko und schließlich nach China, dann stößt man auf vier verschiedene Arten von Islam. Der Islam besteht nicht aus einer "Essenz". Vielmehr handelt es sich dabei um eine sakrale Sprache, die in verschienen Dialekten gesprochen wird, von verschiedenen Menschen, die ganz unterschiedliche Leben leben. Dieser Logik zufolge werden die Muslime, die nach Europa kommen, bestimmen, was der Islam für sie sein soll. Und es gibt niemanden auf diesem Planeten, der ihnen vorhalten könnte: "Das, was du tust, ist unislamisch."

Tariq Ramadan; Foto: AP
"Mein Problem mit Tariq Ramadan ist, dass er denkt, er könne Dinge per Gebot umsetzen, er glaubt, er müsse einen Gedanken nur aufschreiben, dann wird er sich schon realisieren", sagt Dabashi.

​​Lassen Sie uns für die letzte Frage noch einmal auf die Türkei zu sprechen kommen: Sollte Europa aus Ihrer Sicht die Türkei als vollwertiges EU-Mitglied aufnehmen?

Dabashi: Ich denke, dass die Türkei eines Tages tatsächlich Mitglied der Europäischen Union sein wird. Zunächst einmal wird das Land die europäische Wirtschaft mit billiger Arbeitskraft versorgen. Zweitens würde die EU die Rohstoffe der Türkei besser erschließen können. Zum dritten würde sich der europäische Markt noch vergrößern. Und viertens würde Europa in der Rivalität mit den USA in der Region strategisch gestärkt.

Wirtschaftlich, politisch und militärisch wäre die Mitgliedschaft also von Vorteil für Europa. Außerdem wären viele meiner progressiven türkischen Kollegen davon begeistert, weil sie überzeugt sind, dass eine Mitgliedschaft in Bezug auf Frauenrechte, Menschenrechte und die Meinungsfreiheit in der Türkei einen katalytischen Effekt haben würde. Alles in allem wäre das dann wohl der Anfang einer wunderbaren Freundschaft!

Interview: Lewis Gropp

© Qantara.de 2010

Hamid Dabashi lehrt der an der Columbia University in New York Iranian Studies und Vergleichende Literaturwissenschaft.

Redaktion: Nimet Seker/Qantara.de

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