Muslimbrüder unter Druck

Seit die jordanischen Behörden am 23. April das Verbot der Muslimbruderschaft verkündeten, ist es wiederholt zu Razzien in deren Hauptquartier und zu Verhaftungen von Mitgliedern gekommen. Die Eskalation markiert einen radikalen Wandel im Verhältnis zwischen dem Staat und der Bruderschaft, die lange ein wichtiger Teil der politischen und gesellschaftlichen Landschaft Jordaniens war.
Das Verbot folgte auf die Festnahme von 16 Jordaniern, die angeblich mit der Bruderschaft in Verbindung standen, am 15. April. Ihnen wurde Rekrutierung, Herstellung von Raketen sowie Waffen- und Sprengstoffbesitz vorgeworfen.
Die Regierung nutzte den Fall, um ein generelles Verbot der Aktivitäten der Muslimbruderschaft und die Besetzung ihrer Zentrale zu rechtfertigen. Der Schritt wirft grundlegende Fragen auf zur Zukunft der jordanischen Bruderschaft und ihres politischen Arms, der Islamischen Aktionsfront (IAF).
Im September 2024 hatte die IAF bei den jordanischen Parlamentswahlen einen historischen Sieg errungen, als sie 31 von 138 Sitzen gewann. Der Generalsekretär der Partei, Wael al-Saqa, führte den Erfolg damals auf den wachsenden Rückhalt in der Bevölkerung zurück, der durch die lautstarke Unterstützung der Gruppe für die Bevölkerung von Gaza nach den Anschlägen vom 7. Oktober 2023 noch verstärkt wurde.
Beliebt und angefeindet zugleich
Der Gazakrieg hat zwar die Unterstützung der Bruderschaft in der Bevölkerung gestärkt, hat aber zugleich auch Feindseligkeit seitens des jordanischen Staates provoziert, insbesondere wegen der organisatorischen und ideologischen Verbindungen der Gruppierung zur Hamas.
Die jordanische Bruderschaft habe einen bewaffneten Flügel aufgebaut, der eine Bedrohung für die nationale Sicherheit darstelle, und unterhalte Verbindungen zu anderen islamischen Gruppen im Ausland, erklärt Omar al-Ayasrah, Mitglied des jordanischen Senats, eines vom König ernannten parlamentarischen Gremiums, gegenüber Qantara.
Diese Verbindungen zeigten sich auch in der Reaktion der Hamas auf die Festnahmen in Jordanien: In einer offiziellen Erklärung forderte die Hamas die Freilassung der inhaftierten Jordanier und beschrieb deren Aktionen als „motiviert durch die Unterstützung Palästinas“.
Al-Ayasrah wirft der Muslimbruderschaft vor, die Chancen, die der Staat nach dem Arabischen Frühling eröffnet habe, nicht genutzt zu haben. Im Gegensatz zu vielen anderen Ländern der Region habe Jordanien lange Zeit dem Druck widerstanden, die Gruppe auszuschalten. Sogar den politischen Flügel, die IAF, habe man weiter operieren lassen.
Die Geschichte der Bruderschaft in Jordanien reicht bis ins Jahr 1945 zurück, als sie sich als Ableger der Muslimbruderschaft in Ägypten gründete. Sie pflegte eine kooperative Beziehung zum Regime, die es ihr ermöglichte, sich in die Gesellschaft einzufügen, insbesondere in den 1950er Jahren. Mitte der 1990er Jahre begann sich diese Beziehung jedoch zu verschlechtern, vor allem 1994, als die Gruppe gegen die Unterzeichnung des Friedensvertrags zwischen Jordanien und Israel protestierte, bekannt als Wadi-Araba-Abkommen.
Als der politische Islam während des Arabischen Frühlings 2011 an Bedeutung gewann, wuchs unter König Abdullahs Regime die Sorge, die Bruderschaft könnte innenpolitische Krisen für ihre eigene Agenda ausnutzen. Als Reaktion genehmigte die Regierung 2015 die Gründung einer Parallelorganisation unter dem Namen Vereinigung der Muslimbrüder (جمعية الإخوان المسلمين).
Geleitet wurde sie von ehemaligen Mitgliedern der Bruderschaft, die sich von der Gruppe abgespalten hatten. Doch im Juli 2025 verkündete die Vereinigung ebenfalls ihre Auflösung, um vermeintliche Verbindungen zur verbotenen Bruderschaft zu vermeiden.
Politisch pragmatisch
Die ersten Anzeichen für die aktuelle Kluft zwischen dem Regime und der Bruderschaft zeigten sich 2020, als die Gruppe durch ein Gerichtsurteil aufgelöst wurde. Das Urteil kriminalisierte jedoch weder ihre politische Tätigkeit, noch setzte es sie auf die Terrorliste, wie es Ägypten und die VAE getan hatten. Die Bruderschaft formierte sich über den politischen Arm (IAF) neu.
Die Partei habe sich ursprünglich gegründet, um die Bruderschaft zu regulieren und ihre politischen Aktivitäten von der religiösen Lobbyarbeit zu trennen, erklärt Mustafa Abu Amsha, ein auf islamistische Gruppen spezialisierter jordanischer Forscher, gegenüber Qantara. Dieses Ziel sei jedoch bisher nicht erreicht worden.
Die IAF hat jedoch durchaus einen pragmatischen Kurs verfolgt. So holte sie Persönlichkeiten an Bord, die keinerlei organisatorische Verbindung zur Muslimbruderschaft hatten. Auf diese Weise erweiterte die IAF ihren Handlungsspielraum und war in der Lage, sich als unabhängige Fraktion zu positionieren, die die wachsende Unterstützerbasis der Bruderschaft integrieren und auch dann halten können würde, sollte der Staat die Mutterorganisation, insbesondere deren Hardliner-Fraktion der „Falken“, ins Visier nehmen.
Als im April die Maßnahmen gegen die Bruderschaft begannen, dementierte die IAF umgehend jegliche Verbindung. In einer Erklärung bekräftigte sie ihre vollständige Unabhängigkeit und bot an, ihre 40 Standorte für Inspektionen zu öffnen. Dies hinderte die Behörden jedoch nicht daran, den stellvertretenden IAF-Generalsekretär, Jamil Abu Bakr, Mitte Juni zu verhaften. Die Festnahme erfolgte im Rahmen von Ermittlungen zu einer die Staatssicherheit bedrohenden Verschwörung.
Der Muslimbruderschaft wird vorgeworfen, ein Finanznetzwerk zu betreiben, das über acht Jahre 30 Millionen jordanische Dinar eingeworben haben soll, um die illegalen Aktivitäten einer politischen Partei – Beobachter vermuten, dass es sich dabei um die IAF handelt – zu finanzieren. Zudem wird ihr vorgeworfen, Gewerkschafts- und Studierendengremien beeinflusst zu haben. Bisher wurden in diesem Zusammenhang elf Personen festgenommen.
International in der Defensive
Die Ereignisse in Jordanien stehen mit der größeren Krise in Zusammenhang, mit der die internationale Muslimbruderschaft in den letzten Jahren konfrontiert gewesen ist. In Ägypten ist die Gruppe seit dem Sturz ihres Präsidenten Mohammed Morsi 2013 tief gespalten. In Tunesien ereilte die Gruppierung ein ähnliches Schicksal wie jetzt in Jordanien. Ihr Gründer Rached Ghannouchi wurde 2023 inhaftiert.
In Marokko ist die Popularität der Gruppe, die einst an der Regierung beteiligt war, seit der vernichtenden Niederlage der JDP bei den Parlamentswahlen 2021 stark gesunken. Auch die MSP, ihr Ableger im benachbarten Algerien, kämpft mit internen Streitigkeiten.
Im Libanon sind die Islamische Gruppe und ihr militärischer Flügel, die Fajr-Streitkräfte, durch die Rückschläge der verbündeten Hisbollah und die zunehmenden Forderungen nach einer Entwaffnung beider Gruppen stark geschwächt.

"Es ist unklar, wer die Zukunft der Bruderschaft gestalten darf“
Seit dem Militärputsch in Ägypten vor zehn Jahren geht die Regierung unter Abdel Fattah al-Sisi mit aller Härte gegen die Muslimbruderschaft im Land vor. Wie hat sich die Organisation seit 2013 entwickelt? Fragen an den Autor und Wissenschaftler Abdelrahman Ayyash
International steht die Bruderschaft unter wachsendem Druck, unter anderem durch die Bemühungen der USA, sie als terroristische Organisation einzustufen. Anfang des Jahres legte auch die AfD in Deutschland einen Resolutionsentwurf vor, um die Aktivitäten der Gruppe zu verbieten. Dabei richtet sich der Druck insbesondere gegen die Deutsche Muslimische Gemeinschaft e.V. (DMG), ihren wichtigsten Zweig in Deutschland.
Laut dem Trends Research Center ist der globale Einfluss der Muslimbruderschaft zwischen 2021 und 2023 bereits spürbar gesunken. Allerdings versucht sie, ihren politischen Einfluss wiederzugewinnen und beispielsweise wie in Jordanien nach den Ereignissen vom 7. Oktober 2023 neue Unterstützung zu gewinnen.
Ringen ums Überleben
Während die Gruppe in Jordanien inzwischen verboten ist und ihre Anführer unter Beobachtung stehen, ist die Zukunft ihres politischen Flügels ungewiss. Saleh al-Armouti, Vorsitzender der IAF-Parlamentsfraktion, erklärte in einem Fernsehinterview: „Die Partei bleibt intakt und wird ihre verfassungsmäßige Rolle im Dienste des Königreichs fortsetzen. Das Komplott gegen sie ist eine zionistische Verschwörung.“
Er betonte, die islamische politische Bewegung sei ein wichtiger Bestandteil der jordanischen Nation und habe die Politik von König Abdullah II. stets unterstützt.
Der jordanische Forscher Abu Amsha meint, der Staat wolle die Partei als Kanal für den Nachwuchs der Bruderschaft erhalten, jedoch ohne direkte organisatorische Verbindungen zur Mutterorganisation. Gleichzeitig arbeite der Staat daran, den Hardliner-Flügel der Gruppe zu zerschlagen.
Umgekehrt wird die Bruderschaft wahrscheinlich über die IAF versuchen, ihre Loyalität zum Staat zu demonstrieren, und sich gleichzeitig flexibleren Geheimaktivitäten widmen. Abu Amsha zufolge wird die Gruppe intern eine strategische Neubewertung vornehmen, was zur Gründung einer neuen Bewegung führen könnte. Ziel sei die Aufrechterhaltung ihrer Ideologie.
Der Staat überwache die Bruderschaft und ihre Partei umfassend, sagt Al-Ayasrah, zumindest bis diese sichtbare Anstrengungen unternehme, um die militaristischen Ideen einzudämmen, die sich in letzter Zeit innerhalb der Gruppe verbreitet hätten. Das Senatsmitglied ist überzeugt: Die Bruderschaft müsse nun „dem Staat gegenüber Integrität zeigen“, um ihr politisches Überleben zu sichern.
Dies ist eine bearbeitete Fassung des arabischen Originals. Übersetzung aus dem Englischen von Clara Taxis.
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