"Wir sind für den Westen 'der Andere'"

Hanan Kassab-Hassan hat mit fünf weiteren Intellektuellen den ifa-Bericht "Der Westen und die islamische Welt" verfasst. Über die Entstehung des Berichts und die Schwierigkeiten bei der Zusammenarbeit.

Interview von Larissa Bender

Sie sind eine von sechs Intellektuellen aus islamischen Ländern, die gemeinsam den vom Institut für Auslandsbeziehungen herausgegebenen Bericht "Der Westen und die islamische Welt" verfasst haben. Sie fühlen sich jedoch, wie Sie bei der Vorstellung des Berichts im Goethe-Institut in Damaskus sagten, gar nicht als Teil der 'islamischen Welt', sondern als Araberin, als Syrerin oder noch eher als Weltbürgerin. Ist 'die islamische Welt' also vielleicht ein Konstrukt des Westens?

Hanan Kassab-Hassan: Ja, das kann man so sagen. Es gibt nichts, was die islamische Welt miteinander verbindet. Die Beziehungen der Länder untereinander waren lange Zeit national geprägt. Es gibt zwar islamische Länder, aber es gibt außer der Islamischen Konferenz, die nur eine Randbedeutung hat, keine Organisation, die diese Länder miteinander verbindet.

Also gab es auch nicht das Gefühl einer islamischen Zugehörigkeit im Gegensatz zu einer nationalen oder politischen Zugehörigkeit. Die Leute haben sich früher entsprechend ihrer ideologischen Überzeugungen verstanden. In meiner Kindheit war man Kommunist, Muslimbruder, syrischer Nationalist oder Baathist.

Das Gefühl, Araber zu sein, war sehr stark ausgeprägt. Nicht nur innerhalb des offiziellen politischen Diskurses nach der Revolution vom 8. März (dem Putsch der Baathisten in Syrien), sondern auch im kollektiven Bewusstsein. Man fühlte sich eher den Ereignissen in der arabischen Welt verbunden, zum Beispiel dem Algerienkrieg. Als Kinder sangen wir morgens in der Schule die algerische Nationalhymne.

Heutzutage nimmt das Gefühl einer religiösen Zugehörigkeit zu, auch in Ländern, in denen die Religion kaum eine Rolle spielte. In Syrien hatten wir immer das Gefühl, dass wir in einem multireligiösen Staat leben. Lange Zeit wussten wir gar nicht, welcher Religionsgemeinschaft der Andere angehörte.

Das hat sich nun aus vielen Gründen geändert, hauptsächlich aus politischen. So hat das Gefühl der religiösen Zugehörigkeit heute das der nationalen abgelöst. Während der Vorstellung des Berichts im Goethe-Institut sagte eine Frau immer wieder: 'Wir, als muslimische Araber', und ich wollte antworten, dass in diesem Saal auch viele christliche Araber sitzen, man also in Syrien eine Gruppe, so klein sie auch sein mag, nicht religiös definieren kann. Ich lehne diese Art von Definition absolut ab.

Im Vorwort zu dem Bericht schreiben Sie, dass die 'islamische Welt', wenn wir diesen Begriff trotzdem benutzen, heute 'durch kulturelle, ethnische und ideologische Diversität gekennzeichnet' ist. Der Untertitel des Berichts aber lautet: 'Eine islamische Position'. Ist das nicht ein Widerspruch?

Kassab-Hassan: Ich bin mit diesem Titel nicht ganz einverstanden, denn selbst der Begriff 'Westen' ist eine Illusion. Was ist denn der Westen? Geographisch ist er für uns der Westen oder der Norden, aber der Begriff entstand ja in einem politischen Kontext: die Dritte Welt im Gegensatz zur entwickelten Welt.

Man sprach plötzlich auch über den Norden und den Süden, als man begann, zwischen diesen beiden einen Dialog zu führen. Heute spricht man über die Region des Mittelmeers, das ist eine richtige Mode geworden.

Was also ist der Westen? Der Westen ist Europa. Oder ist es doch Europa und Amerika? Ist es der christliche Westen im Gegensatz zur islamischen Welt? Sind es die entwickelten im Gegensatz zu den unterentwickelten Staaten, ist es der Westen der Technologie und Moderne im Gegensatz zu einer Welt, die noch nicht in die Moderne eingetreten ist? Ist es der Kapitalismus im Gegensatz zum sozialistischen Lager?

Die Gegenüberstellung von islamischer Welt und Westen begann erst wirklich nach dem 11. September als Folge von der Idee des Konflikts der Kulturen, als würde der Riss zwischen zwei verschiedenen Arten zu denken verlaufen und nicht zwischen zwei geographischen Regionen.

Meiner Meinung gibt eine Art zu denken, die den Anderen als 'den Westen' bezeichnet, um ihn überhaupt irgendwie zu bezeichnen, und eine andere, die von der islamischen Welt spricht. Das schließt alle Völker ein, die sich selbst als islamisches Gebilde bezeichnet.

Es gibt natürlich auch unter den arabischen Ländern islamische Staaten, aber eben auch eher säkulare, wie etwas Syrien oder der Irak oder der Libanon, wobei dies noch einmal ein ganz spezieller Fall ist.

Der Bericht wird aber als islamische Position vorgestellt.

Kassab-Hassan: Ja, denn er behandelt dieses Problem, oder das, was jetzt ein Problem geworden ist, selbst wenn es ein vermeintliches Problem ist. Aber es gibt wirklich das Gefühl, dass wir für den Westen 'der Andere' sind.

Haben Sie also sozusagen aus einer westlichen Sicht heraus geschrieben?

Kassab-Hassan: Es ist eine Initiative des Westens. Aber innerhalb des Berichts haben wir versucht, dieses Problem zu diskutieren. Und es ist ja auch bis zu einem gewissen Grad richtig, auch wenn es darüber Meinungsunterschieds oder Konflikte gibt. Man kann es aber nicht vollkommen akzeptieren. Das wollte ich im ersten Kapitel "Den Kontext erklären" verdeutlichen.

Wie entstanden denn die Kapitel? Sie haben zu sechst acht Kapitel und ein Schlusswort geschrieben?

Kassab-Hassan: Wir haben sie aufgeteilt. Zuerst haben wir darüber diskutiert, wie der Bericht aussehen sollte. Das war sehr schwierig, weil wir uns anfangs nicht kannten. Wir haben uns nur für wenige Tage auf einer ersten Konferenz getroffen und über eine Methode nachgedacht, wie wir den Bericht schreiben könnten.

Es gab natürlich harte Auseinandersetzungen zwischen uns, da wir sehr verschieden sind, sowohl von unserem Hintergrund - Akademiker und Journalisten - als auch vom Blickwinkel. Für einen Bosnier stellen sich die Probleme anders dar als für einen Palästinenser oder einen Syrer.

Dieser Konflikt konnte eigentlich die ganze Zeit nicht ganz ausgeräumt werden. Deshalb haben wir versucht, ihn zu nutzen, um in dem Bericht die Unterschiedlichkeiten in der islamischen Welt widerzuspiegeln.

Sie haben also zuerst die Themen bestimmt und dann untereinander aufgeteilt?

Kassab-Hassan: Zuerst haben wir ganz allgemein darüber diskutiert, was wir schreiben können. Wir haben versucht, die Schwerpunkte festzulegen. Dann haben wir uns getrennt, damit jeder zuhause sich darüber Gedanken macht, aus welchem Blickwinkel er das Thema behandelt haben möchte.

Bei dem nächsten Treffen haben wir dann entschieden, wer welches Kapitel schreiben soll. Mehrere Tage lang haben wir die Themen diskutiert und uns dann wieder getrennt und per E-Mail kommuniziert. Als wir uns dann wieder trafen, war der Bericht fast fertig. Dann musste eine Person ihn in eine Endfassung bringen.

Hier gab es einige Auseinandersetzungen über manche Begriffe und Interpretationen. Da wurde ein Teil dessen, was ich geschrieben hatte, gestrichen, da ich in meiner Analyse ausführte, dass die Vereinigten Staaten in diesem Konflikt die größte Rolle spielen. Dagegen haben einige Kollegen protestiert, weil sie sagten, wir wollten nicht einen Bericht gegen die USA schreiben.

Ich musste den Gedanken akzeptieren und der Streichung zustimmen. Obwohl ich in meiner Analyse objektiv geblieben war. Ich habe keine Vorurteile gegen irgendein Volk auf dieser Welt. Aber auf der politischen Ebene hat derjenige, der sich als Herr der Welt aufspielt, eine wichtige Rolle, man kann ihn nicht vernachlässigen. Besonders nach dem 11. September und den Folgen im Irak und in Palästina und der ganzen arabischen Welt.

Sind Sie schon lange in der Beziehung zwischen Ost und West engagiert?

Kassab-Hassan: Nein, überhaupt nicht. Mein Interesse konzentriert sich auf die Zivilisationen, auf die Kulturen. Ich unterrichte die Geschichte der französischen Kultur an der Universität Damaskus. Allgemein interessieren mich die kulturellen Veränderungen innerhalb jeder Kultur als allgemeine Eigenschaft der Geschichte. Mit der islamischen Welt habe ich mich überhaupt nicht beschäftigt, Sie können mich auch als unwissend bezeichnen in allem, was mit Religion zu tun hat.

Aber das Problem beginnt uns in unserem alltäglichen Leben zu bedrohen. Deshalb kann man seine Augen nicht verschließen vor dem, was geschieht. Man darf nicht wegschauen, sondern wir müssen uns dem Problem stellen, wir müssen versuchen, es zu erklären, um einen Ausweg aus der Krise zu finden und diese Ausbreitung des Islam zu verhindern. Es muss unbedingt der Einfluss auf die Jugend aufgehalten werden, indem eine alternative zur Gewalt aufgezeigt wird.

Nach dem 11. September hat Europa viele Schritte unternommen, um der so genannten 'islamischen Welt' die Hand entgegen zu strecken. Haben diese Aktivitäten eine Annäherung zwischen West und Ost erreichen können?

Kassab-Hassan: Soweit ich es verfolgt habe, kann ich sagen, dass es durchaus den Wunsch gibt, langfristig vorsichtige Veränderungen herbeizuführen. Zum Beispiel durch die Initiierung eines Dialogs, der eine Annäherung der Jugend rund um das Mittelmeer zum Ziel hat. Es gibt auch Bestrebungen, neue Prinzipien bezüglich der Menschen- und Bürgerrechte zu verfestigen.

Diese Aktivitäten sind nützlich und positiv, weil sie ohne Provokationen durchgeführt werden. Wir müssen allerdings zugeben, dass es sehr vorsichtige Aktivitäten sind, die lange Zeit und eine Mitwirkung von innen her brauchen. Denn in diesen Ländern wird alles abgelehnt, was von außen kommt. Deshalb ist es so wichtig, dass diese Aktivitäten von innen her unterstützt werden.

Gibt es denn von Seiten der arabischen Staaten auch Bemühungen zu einer Annäherung an den Westen?

Kassab-Hassan: Von den arabischen Staaten, ja, aber es gibt auch die Bemühungen von den USA. Ich möchte hier noch etwas hinzufügen, um einen Vergleich zu ziehen zwischen den unterschiedlichen europäischen Projekten und denen der Amerikaner nach dem 11. September, die zum Ziel hatten, das Bild der USA in den Medien zu verbessern.

Sie hatten begonnen, Anzeigen in den arabischen Zeitungen zu schalten, auf denen glückliche Muslime in den Vereinigten Staaten gezeigt wurden. Das war so banal und oberflächlich, dass sie schon nach kurzer Zeit von - ich glaube - Al-Hayat und Al-Safir wieder eingestellt wurden. Ein anderer Versuch Amerikas wurde von allen abgelehnt, nämlich eine Veränderung der Schulbücher.

Obwohl ich glaube, dass nützliche kulturelle und geistige Projekte auf lange Sicht durchaus wirksam sind. Auch die arabischen Staaten haben Initiativen gestartet, den Dialog mit dem Anderen zu suchen. Es gibt auch Versuche von Geistlichen oder religiösen Verantwortlichen, um die Rolle der Prediger einzuschränken, die alle Brücken der Toleranz durch ihre Fatwas einreißen.

Diese Projekte bleiben aber alle auf eine kleine Gruppe der Intellektuellen und Akademiker beschränkt. Wie können denn auch die anderen gesellschaftlichen Schichten erreicht werden?

Kassab-Hassan: Das Problem ist, dass nur die aufgeklärten Intellektuellen etwas verändern können. Aber diesen wird verboten zu reden. Sie haben kein Forum, weder in den großen Medien noch im Bereich der Erziehung, weil man sie von dort fernhält. Sie finden vielleicht ihre Artikel in den Zeitungen, aber wer liest denn heutzutage noch?

Die Frage ist, bis zu welchem Grad können wir etwas verändern, solange wir nur das Schreiben als Mittel haben, das Geschriebene aber nicht gelesen wird? Natürlich haben die Medien großen Einfluss, aber wenn wir uns die Satellitenkanäle ansehen, finden wir eine Unmenge religiöser Programme.

Selbst bei Diskussionssendungen, bei denen Laizisten und Religiöse auftreten, ist die Atmosphäre meist so aufgeladen, dass es gar nicht zu einem richtigen Gespräch kommt und der Zuschauer sich sofort auf eine Seite schlägt und der anderen nicht mehr zuhört. Diese Programme sind absolut nicht förderlich.

Hilfreicher wäre eine neue Erziehung und die Arbeit mit der neuen Generation. Dann könnten wir wenigsten hoffen, dass wir es in zwanzig Jahren mit einer aufgeklärten Generation zu tun haben.

Interview und Übersetzung aus dem Arabischen: Larissa Bender

© Qantara.de 2004

​​Hanan Kassab-Hassan ist Professorin für Französisch an der Universität Damaskus sowie für Theaterwissenschaft an der Fakultät der Schönen Künste. Seit 2002 schreibt sie für das von der Europäischen Union finanzierte Internetportal babelmed.

"Der Westen und die islamische Welt" als pdf-Datei
Lesen Sie auch die Rezension des Berichts auf Qantara.de
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