Kosmopolitismus für Fortgeschrittene
Mit einer solch wuchtigen Mischung von Gestaltungswillen, Ideenreichtum und schier grenzenloser Belesenheit wurde in Deutschland schon lange nicht mehr öffentlich gedacht. Jenseits des Westens ist ein zutiefst originelles und zugleich höchst anspruchsvolles Buch. Über 230 Autoren kommen zu Wort, von denen Weidner eingangs, wenn es um die Definition des Westens geht, hauptsächlich solche megalomanen Denker wie Kojève, Spengler, Huntington und Fukuyama ausführlich interviewt.
Diese Geistergespräche haben streckenweise wenig zu tun mit historischen und politischen Realitäten, sondern mehr mit den Fantasien, abstrusen Ideen und Vorurteilen dieser westlichen Ideologieschmiede. Weidner lässt seine Autoren gewissermaßen plappern und führt sie dann vor, und das mit Stil.
Das unschöne Verblassen der Marke 'Westen'
Im Kern ist das eine Methode der Wissenssoziologie. Sie macht das unschöne Verblassen der Marke 'Westen' sichtbar und zeigt, wie schwach ihre geistigen Grundlagen sind, vor allem aber wie gefährliche Illusionen sie nährt. Er verrät uns auch das schmutzige kleine Geheimnis, das sie uns alle verschweigen. 'Der Westen' als politischer Markenartikel und Megaseller ist nämlich gar keine Erfindung des Westens, sondern eine Zuschreibung von nichtwestlichen Autoren seit Ende des 19. Jahrhunderts. Sie wurde erst nach dem Ersten Weltkrieg von europäischen Autoren übernommen.
Stellenweise, wenn Weidner bestimmte Gedanken, Schlüsse und Ideen als seine eigenen markieren will, merkt man seiner Sprache die gründliche lyrische Schulung an orientalischer Dichtung an, die er seit Jahrzehnten übersetzt. Das führt zu einer selten schönen Anschaulichkeit historischer, philosophischer und theologischer Zusammenhänge.
Damit, und auch wie er seine Kernthese rhetorisch-dramatisch entwickelt, erinnert Weidner an den großen Wahrheitspluralisten Hans Blumenberg. Der wollte einst die Neuzeit davor bewahren, als illegitime Hausbesetzerin diskreditiert zu werden, die sich im ehrwürdigen Gedankengebäude des christlichen Mittelalters eingenistet hat, sich also ganz der Säkularisierung einer christlich-philosophischen Substanz verdankt und nichts Eigenes zustande gebracht hat.
Meditation über das Fremdsein
Bei Weidner wäre das Mittelalter der heutige Westen, und die Neuzeit, das sind all die großräumigen kulturellen Narrative jenseits des Westens, deren eigene und nicht weniger begründeten Wahrheitsansprüche es an der Zeit wäre anzuerkennen.
Ausgehend von einer Meditation über das Fremdsein in seiner ganzen Daseinsbreite, als Ausländer, als Staatenloser, aber auch als Mensch in der Welt, der seine Heimat im Jenseits erhofft, findet Weidner mit Hannah Arendt, dass ein neuer, jenseits-westlicher Kosmopolitismus mindestens eines zu leisten hat: er muss jedem Menschen ein 'Recht auf Rechte' zugestehen.
Da dieses Recht auf Rechte überstaatlich und gewissermaßen auch übermenschlich gewährleistet sein muss, um globale Gültigkeit beanspruchen zu können, braucht der neue Kosmopolitismus eine höhere, eine transzendente Instanz, in welcher er rückversichert ist. Es geht um Gott. Oder zumindest um die göttliche Sphäre, den Raum für alles Überweltliche. Das ist eine mutige, weil riskante Entscheidung, zumal Weidner selbst bekenntnislos ist.
Aufklärung, Moderne und Liberalismus waren bis weit ins 19. Jahrhundert trotz ihrer säkularen Ausprägungen wenigstens noch christlich voreingenommen gegenüber anderen Weltreligionen oder zeigten etwa ein exotisch-orientalistisches Interesse an ihnen. Doch der Aufstieg des Westens nach 1900 geschah in einer Atmosphäre zunehmender religiöser Sterilität, was vermutlich das größte Hindernis für eine 'progressivere Verwestlichung' der Welt war. Stattdessen hat sie sich nur 'defensiv verwestlicht' – und wir bekommen jetzt schmerzhaft zu spüren, was für einen Unterschied das macht.
Der Begriff der Zivilreligion – eine Definition
Eine transzendente Instanz als Rückversicherung für die Kernforderung des 'neuen Kosmopolitismus', das Recht auf Rechte, ist daher eine spannende Idee; sie ist allerdings bis ins letzte Drittel des Buchs nur schwer greifbar. Weidner hätte sich von dem Politikwissenschaftler Eric Voegelin, den er mehrmals zitiert, den Begriff der Zivilreligion borgen können, um seinen Gedankengang anschaulicher zu machen.
Der Begriff bezeichnet eine Perspektive, mit der von einer Warte überzeitlicher Werte aus Impulse für politisches Handeln ausgesandt werden können. Diese Werte müssen nicht selbst religiösen Ursprungs sein, wie etwa die amerikanische 'Pursuit of Happiness'.
Die Aufgabe einer Zivilreligion ist es, den Menschen dabei zu helfen, ihre hergebrachten Glaubensgrundlagen mit neuen, konkreten Aufgaben zu verbinden und damit eine Bestätigung ihres ursprünglichen Glaubens zu finden. Eine Zivilreligion wäre also eine Art übernationaler, überkultureller und überreligiöser Dachreligion, eine feines, wenig einengendes Gespinst von Ideen, Begriffen und Praktiken.
Jenseits des westlichen Politikverständnisses
Doch Weidner legt im letzten Drittel des Buches kräftig nach und zeigt, wie viel Potenzial sein Vorschlag birgt. In einem wahren Meisterstück folgt er Gandhis Umdeutung des antiken hinduistischen Helden-Versepos Bhagavad Gita und spürt darin der Entstehung eines neuen, jenseits-westlichen Politikverständnisses nach, das der Transzendenz und der außerweltlichen Askese verbunden bleibt, während es den indischen Befreiungskampf gegen den britischen Kolonialismus befeuert. Das ist ein perfektes Beispiel für die Entwicklung und dann gelebte Praxis einer neuen Zivilreligion.
Ein durchgehendes, äußerst spannendes Motiv von Weidner ist die Entwicklung der europäischen Naturwissenschaften aus einer Sehnsucht nach Ordnung heraus, die das reale soziale und politische Leben im kriegs- und katastrophengeplagten Europa des Mittelalters und der Frühneuzeit nicht hergab.
Das hat, so Weidner, zu einer Übertragung der in der wissenschaftlich erforschten Natur gefundenen Ordnungsschemata auf weite Bereiche der Gesellschaft und Kultur geführt und transzendente Ordnungsquellen ausgetrocknet. Die Natur wurde zur Ordnungsquelle, weil Gott nicht mehr zu trauen war, von den Menschen gar nicht zu reden.
Wenn Weidners Forderung nach einer neuen kosmopolitischen Transzendenz begründet ist, stellt sich eine entscheidende Frage: Kann der Westen sich überhaupt selbst überschreiten und in einem neuen, stärker multiperspektivischen Kosmopolitismus aufgehen, wenn das Westen-Sein möglicherweise viel stärker eine Fremd- als eine Selbstzuschreibung ist? Haben die Nicht-Westler nicht schon längst wieder die Deutungshoheit übernommen?
Weidner weist zwar darauf hin, dass das anti-westliche Denken auch im Westen selbst beheimatet ist, wo seine Wurzeln zurückreichen bis zur Gegenaufklärung und Romantik. Er hätte aber solchen Argumenten, die den Westen kritisch verteidigen, wie denen von Ian Buruma in Okzidentalismus. Der Westen in den Augen seiner Feinde (2005), mehr Raum geben können, um seine eigene These zu testen.
Sittliche Verrohung und seelenloser Materialismus
Buruma stellt nämlich fest, dass die Feinde des Westens immer wieder dieselben vier Gründe für ihren Hass angeben: die sittliche Verrohung in den globalisierten Großstädten; den seelenlosen Materialismus der westlichen Bourgeoisien; die frevlerische Gottlosigkeit ganzer Völker, die meinen, menschengemachte Gesetze könnten eine göttliche Ordnung ersetzen; die Emanzipation der Frau bei einhergehendem Verlust männlicher Privilegien.
Wollen wir wirklich den Westen und seine mächtige Utopie aufgeben, um den in diesem Hass formulierten Forderungen gerecht zu werden? Sicher nicht. Wenn es daher ein 'Jenseits des Westens' im Sinne von Weidner wirklich geben soll, dann müssen wir sicherstellen, dass die reaktionären Feinde des Westens keine Freude daran haben werden. Das ist die Aufgabe, die Weidner uns als den Nachlassverwaltern des Westens stellt.
Reginald Grünenberg
© Qantara.de 2018
Stefan Weidner: "Jenseits des Westens. Für ein neues kosmopolitisches Denken", Hanser Verlag 2018, 368 Seiten, ISBN: 9783446258495