Schatten der Vergangenheit

Mit "Der Garten der Blinden" legt der britisch-pakistanische Schriftsteller Nadeem Aslam seinen vierten Roman vor, in dem er die Zeit unmittelbar nach den Anschlägen des 11. September aus der Perspektive einer pakistanischen Familie schildert, die in den anschließenden Krieg gegen Afghanistan hineingezogen wird. Claudia Kramatschek hat sich mit Aslam unterhalten.

Von Claudia Kramatschek

13 lange Jahre sind seit den Anschlägen vom 11.September vergangen. Was hat Sie bewogen, nochmals von dieser Zeit zu erzählen?

Nadeem Aslam: Sie sagen, der Krieg sei mehr oder weniger vorbei. Aber das gilt nur für die Amerikaner, nicht für die Menschen an jenem Ort, an dem dieser Krieg geführt wurde. Dort wird man dessen Folgen noch lange spüren. Ich hielt es deshalb für wichtig, dass der Rest der Welt – ob zum Guten oder zum Schlechten – erfährt, was Pakistan widerfahren ist und welchen Preis das Land zahlt. Es ist ein furchtbarer Preis: sei es das Dschihad-Denken, seien es die täglichen Bombenexplosionen oder die täglichen Selbstmordattentate.

Als Schriftsteller und somit als jemand, der Sprache liebt und mit ihr arbeitet, fand ich es zugleich sehr erniedrigend, zu sehen, wie die Sprache in der vergangenen Dekade korrumpiert und unterminiert wurde – auf beiden Seiten. Die amerikanische Regierung spricht von 'enhanced interrogation'. Was sie meint, ist 'Folter'. 'Extraordinary rendition' ist nichts anderes als Kidnapping. Die Taliban reden vom Dschihad, aber sie haben das Wort auf eine einzige Bedeutung reduziert: auf Krieg, auf Blutvergießen. Dabei hat das Wort Dschihad vielfache Bedeutungen. Jemanden anzulächeln, ohne es wirklich zu wollen: das ist Dschihad. Jemandem Gutes zu tun, obwohl das eigene Leben voller Grausamkeiten ist: auch das ist Dschihad. Ich wollte die Sprache daher von diesen Gruppen zurückerobern und sagen: Okay, lasst mich dieses Wort Dschihad befreien und ich zeige Euch seine mannigfachen Bedeutungen.

Buchcover Nadeem Aslam: "Der Garten des Blinden"; Deutsche Verlags-Anstalt (DVA)
"Der Garten des Blinden" ist Nadeem Aslams vierter Roman und steht auf der Shortlist für den DSC Prize for South Asian Literature 2014

Nicht zuletzt haben wir mit diesem Jahrzehnt, das mit 9/11 begann und mit dem Arabischen Frühling endete, eine außerordentliche Zeit durchlebt – eine Zeit, in der ein mangelhaftes Verständnis vom Osten mit einem mangelhaften Verständnis des Westens zu kollidieren scheint. Ich suchte deshalb nach einer Geschichte, die möglichst viele dieser einzelnen Elemente enthalten würde – ohne dabei die literarische Form des Romans zu verlieren. Denn dies ist vor allem ein Roman. Und das Wunderbare an einem Roman ist: Er sagt einem nicht, was man denken soll. Er sagt einem, worüber man nachdenken soll.

Letztlich aber legen Sie nahe: Es gibt keine Sieger, nur Verlierer – das gilt noch für den amerikanischen "Special Agent", der nach Afghanistan kommt, um seinen von Mikal getöteten Bruder zu rächen.

Aslam: Das stimmt. Wir wissen schließlich auch nicht, auf wessen Seite Homer war. Womit ich nicht sage, dass die Amerikaner im Recht waren oder die Pakistaner im Recht sind. Es geht vielmehr darum, über Menschen zu sprechen.

Sie bringen diverse der damaligen Grausamkeiten ins Spiel: wie das afghanische Volk die verhassten Taliban tötete, die Ignoranz der Amerikaner, die nicht eingreifen, als selbst Kinder gefoltert werden und nicht zuletzt die Tatsache, dass die Warlords auch Jungen sexuell missbraucht haben...

Aslam: Diese Dinge sind kein Geheimnis, vor allem nicht in Pakistan. Die Episode des vergewaltigten Jungen basiert auf einer wahren Begebenheit. Tatsächlich könnte ich all diese Dinge gar nicht erfinden, weil dazu meine Imagination nicht ausreicht. Jeder Krieg ist voller Grausamkeiten. Oftmals heißt es, meine Bücher hätten eine melancholische Färbung. Aber ich schreibe in einer tragischen Zeit.

Tatsächlich setzen Sie Gewalt und Tod diesmal in ein grelleres Licht als etwa in "Das Haus der fünf Sinne". 9/11 steht aber zugleich für das, was der amerikanische Kulturwissenschaftler Mitchell einen 'pictorial turn' nannte: sprich, eine Zäsur in der Art und Weise, in der die Bilder unsere Narration der Wirklichkeit bestimmen. Empfanden Sie es als eine Herausforderung, gegen das Übergewicht der Bilder dieser Zeit anzuschreiben?

Aslam: Als die beiden Türme des WTC fielen, sah die ganze Welt dieses ungeheure Spektakel. Ich aber wählte zwei gänzlich unbedeutende Menschen aus einem abgelegenen Land, das den meisten Menschen verdächtig, wenn nicht gar verhasst ist, um zu zeigen: Wenn diese beiden Leben ausgelöscht werden – und man wirklich genau hinhört und hinsieht, ist die Explosion ebenso gewaltig. Ein Roman funktioniert da wie ein Verstärker: Die beiden Türme fielen? Nun, ich zeige Euch diese zwei winzigen Individuen und das, was ihnen widerfährt, und dann sehen wir, angekommen auf der letzten Seite, ob Sie das berührt – bzw. wie verwickelt Sie darin sind. Und wie heroisch der Kampf ist, menschlich zu bleiben und zu sagen: Nein, ich bleibe anständig.

Demonstration der islamistischen Awami Majlis-e-Amal im pakistanischen Quetta gegen die USA; Foto: AP
Nadeem Aslam: "Wir mit diesem Jahrzehnt, das mit 9/11 begann und mit dem Arabischen Frühling endete, eine außerordentliche Zeit durchlebt – eine Zeit, in der ein mangelhaftes Verständnis vom Osten mit einem mangelhaften Verständnis des Westens zu kollidieren scheint"

Wieder und wieder bietet sich den beiden Protagonisten Mikal und Naheed ein einfacher Weg. Die Amerikaner sagen zu Mikal: wir bezahlen dich sogar, wenn du uns nur gibst, was wir von dir wollen. Er aber verneint. Als Mikal Naheed fragt, ob sie gemeinsam von zu Hause fliehen, sagt sie: Nein, denn ich muss mich um meinen Schwiegervater kümmern. Man hört oft, dass Autoren sich in ihre Figuren verlieben. Bei mir war das nie der Fall – aber diese beiden sind wunderbar. Irgendwann wurde ich ganz nervös aufgrund des Weges, den ich für sie entworfen hatte: Wie sollten sie je wieder ein friedliches Leben führen? Diese beiden sind wirklich wie Held und Heldin.

Spätestens seit 9/11 wird Pakistan im Westen mit Islamismus assoziiert. In Ihrem Roman begegnen wir dagegen sehr vielen verschiedenen Facetten des Islam: u.a. einem Sufi – und nicht zuletzt Rohan, einem gläubigen Muslim (und Besitzer des titelgebenden Gartens), der im Verlauf des Romans allerdings erblinden wird. War es Ihnen wichtig zu sagen: All das ist der Islam?

Aslam: Selbst wenn ich es nicht wollte: Aber ich kann gar nicht anders, als in dieser Weise darüber zu schreiben. Denn all diese verschiedenen Versionen des Islam existieren auch in meinem persönlichen Leben. Die Familie meines Vaters sind Kommunisten und Atheisten. Meine Mutter wiederum stammt aus einer religiösen Familie – und kam in einen Haushalt, in dem Wein getrunken und geraucht wurde. Sie absolviert die Gebete, auch alle meine Tanten beten, aber keiner meiner Onkel. Wie könnte ich also sagen: das ist Islam? Und was die Erblindung Rohans anbelangt: Um ehrlich zu sein, kann ich nicht genau sagen, was mein eigentlicher Impuls dafür war.

Auf eine Weise bedeutet es, dass sein Glaube ihn blind gemacht hat. An einer Stelle im Roman heißt es über ihn, dass er die Gemälde, die seine Frau malte, nicht sehen wollte und diese deshalb verbrannte – und nun könne er gar nicht mehr sehen. Ich selbst habe diesen Zusammenhang erst später gesehen. Benjamin Britten sagte einmal: Wenn ich ein wirklich guter Komponist bin, dann wird das Stück, das ich komponiere, mehr sagen als ich es wollte. Manchmal gibt es diese Resonanzen – ohne, dass der Künstler sie beabsichtigt hat.

Das Interview führte Claudia Kramatschek.

© Qantara.de 2014

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de

Nadeem Aslam: "Der Garten des Blinden", 432 Seiten, Deutsche Verlags-Anstalt (DVA), München 2014