Kindesmissbrauch, islamische Sekten und der Staat

Am 30. Januar kann das ganze Land die Anhörung zum Fall H.K.G. verfolgen – in der Hoffnung, dass der jungen Frau dieses Mal Gerechtigkeit widerfährt.   
Am 30. Januar kann das ganze Land die Anhörung zum Fall H.K.G. verfolgen – in der Hoffnung, dass der jungen Frau dieses Mal Gerechtigkeit widerfährt.   

In der Türkei schlägt die Zwangsehe einer Minderjährigen hohe Wellen. Der Kindesmissbrauch wurde mutmaßlich mit Billigung einer einflussreichen islamischen Sekte begangen und das Opfer vom Staat gleich mehrfach im Stich gelassen. Von Ayşe Karabat 

Von Ayşe Karabat

H.K.G. wurde bereits mit sechs Jahren verheiratet. Sie wurde mit Wissen staatlicher Behörden und der Hiranur Foundation, einer der einflussreichsten islamischen Sekten und religiösen Stiftungen in der Türkei, systematisch und fortgesetzt sexuell missbraucht. Die heute 24-Jährige führt mittlerweile einen Kampf gegen alle, die an dem Verbrechen beteiligt waren. Nicht nur gegen die Sekte, sondern auch gegen das Justizsystem, das sie nicht schützte.

Der Fall wirft ein Schlaglicht auf islamische Sekten im Land und auf das Versagen des türkischen Justizsystems. In der Öffentlichkeit löste er große Empörung aus.  

H.K.G. wird in den Medien nur mit ihren Initialen genannt. Sie ist die Tochter von Yusuf Ziya Gumusel, dem Leiter der in Istanbul ansässigen Hiranur-Stiftung, die wiederum der einflussreichen İsmail-Ağa-Gemeinde angehört. Laut ihrer Aussage gegenüber der Staatsanwaltschaft wurde H.K.G. im Alter von sechs Jahren von ihrem Vater mit einem Mitglied seiner Gemeinde verheiratet: dem damals 29 Jahre alten Kadir Istekli. 

Dem Gericht wurde ein Foto vorgelegt, dass das Kind in einer Art Brautkleid zeigt. H.K.G. sagte aus, dass sie für ein "Hochzeitsfoto-Shooting“ in ein Fotostudio gebracht wurde. Istekli habe ihr gesagt, dass sie "ein Spiel spielen, das alle spielen, über das aber niemand spricht“. In den nachfolgenden Jahren habe er sie sexuell missbraucht.

Photomontage mit Yusuf Ziya Gumusel, Leiter der Hiranur Foundation und Vater des missbrauchten Mädchens HKG (rechts im Bild). Die Gesichter wurden unkenntlich gemacht, um die Privatsphäre von beiden zu schützen; Quelle: Twitter
Der Fall H.K.G. hat in der Türkei eine Debatte über Macht und Einfluss der verschiedenen islamischen Sekten angefacht. Säkular und kritisch eingestellte Beobachter glauben, dass solche Sekten – auf Türkisch "Tariqat“ – während der 20-jährigen Regierungszeit der AKP an Einfluss gewonnen haben. Dass die Türkei im Jahr 2021 aus der Istanbul-Konvention ausgetreten ist, einem internationalen Übereinkommen zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt, schreiben einige ebenfalls dem Einfluss solcher Sekten zu. 



H.K.G. lebte mit ihrer Familie im selben Gebäude wie Istekli. Bis zum Alter von 14 Jahren schickten ihre Eltern sie von Zeit zu Zeit in seine Wohnung. Nach einer nicht-standesamtlichen Trauung, bei der niemand der Anwesenden ihr Alter hinterfragte, geschweige denn die Behörden informierte, lebte sie mit Istekli im selben Haus. 

Kinderehen sind verboten

Die Gesetze gegen Kinderehen wurden in der Türkei erst recht spät verschärft. Erst 2001 hob der Gesetzgeber das Heiratsalter für beide Geschlechter auf 18 Jahre an. Davor durften Mädchen im Alter von 16 Jahren und junge Männer im Alter von 17 Jahren standesamtlich heiraten. 

Obwohl Kinderehen strafbar sind, gibt es sie in der türkischen Gesellschaft weiterhin. Laut einer Studie mit dem Titel "Child, Early and Forced Marriage in Turkey: Data Analysis of Turkey Demographic and Health Surveys 1993-2018“ (Kinderehen, Früh- und Zwangsheirat in der Türkei: Datenanalyse der demografischen und gesundheitlichen Erhebungen in der Türkei zwischen 1993 und 2018) wurde jede fünfte türkische Frau, die heute zwischen 18 und 45 Jahre alt ist, vor ihrem 18. Lebensjahr verheiratet. Durchgeführt wurde die Studie von UNFPA Türkiye und dem Institut für Bevölkerungsstudien der Hacettepe Universität. 

H.K.G. besuchte nie eine Schule und war daher nicht im offiziellen Bildungssystem registriert, obwohl alle Kinder ab dem Alter von sechs Jahren für zwölf Jahre lang schulpflichtig sind. 

Nachdem die Angaben der jungen Frau öffentlich geworden waren, warf die türkische Gewerkschaft für Bildung und im Bildungssystem Beschäftigte Eğitim Sen dem Bildungsministerium vor, den Schulbesuch von Kindern nicht ausreichend zu überwachen. Die Gewerkschaft verwies erneut darauf, dass es zwar strafbar sei, Kinder nicht zur Schule zu schicken. Die Schulpflicht werde jedoch nicht durchgesetzt, da ein allgemeines Klima der Straflosigkeit herrsche, wenn Eltern ihre Kinder nicht zu Schulen schickten. Laut der Vorsitzenden von Eğitim Sen, Nejla Kurul, gehen in der Türkei 1,5 Millionen Mädchen nicht zur Schule. Kurul ist davon überzeugt, dass H.K.G. den Lehrkräften von ihrem Missbrauch erzählt hätte, wenn sie zur Schule gegangen wäre. 

Im Jahr 2012, Monate, nachdem H.K.G. in einer religiösen Zeremonie getraut worden war, brachte ihre Mutter sie wegen ihrer unregelmäßigen Periode zum Arzt. Dieser stellte fest, dass das Mädchen sexuell missbraucht worden war und informierte umgehend die Polizei.  

Gestützt auf den ärztlichen Bericht leitete die Staatsanwaltschaft eine Untersuchung ein. Ihre Familie drängte das Mädchen jedoch dazu, ihr Alter mit 17 statt 15 Jahren anzugeben und zu erklären, sie habe aus freiem Willen geheiratet. 

Die Behörden lassen sich täuschen

Im Zuge der Ermittlungen wurde das Mädchen aufgefordert, sich einer Untersuchung der Knochenentwicklung zu unterziehen. Daraufhin schaltete sich die Hiranur-Stiftung ein, die ihr Vater leitete. Es gelang der Sekte, eine 21 Jahre alte Frau dazu zu bringen, sich anstelle von H.K.G. untersuchen zu lassen, so dass die Behörden in die Irre geführt wurden. Als die Behörden erfuhren, dass die Knochenanalyse ein Alter von 21 Jahre ergeben hatte, wurde das Verfahren eingestellt. Und dies, obwohl aus der Krankenhausakte eindeutig hervorgeht, dass H.K.G. 1998 geboren wurde – wie auch in der Geburtsurkunde angegeben.

Frauen protestieren gegen einen Gesetzesentwurf zu Kinderehen in 2016, der Entwurf wurde schließlich zurückgezogen; Foto: Imago/Zuma Press
Child marriage, historically sanctioned by Turkey’s ruling party: in 2016, following a massive backlash from the general public, the AKP was forced to withdraw a controversial underage marriage bill that would have allowed men who sexually abused children to escape punishment if they married the victim

Dies war weder das erste noch das letzte Mal, dass das System, das H.K.G. hätte schützen müssen, das Mädchen im Stich ließ. 

Mit 17 Jahren gebar sie ein Kind, mit 18 folgte die standesamtliche Trauung. Zwei Jahre später erkannte die junge Frau allmählich, dass alles andere als normal war, was sie erlebt hatte. Sie realisierte, dass sie sexuell missbraucht und vergewaltigt worden war. Heimlich begann sie, soziale Medien zu nutzen, und auf ihnen festzuhalten, was sie durchmachte.   

2020 suchte sie in einem Frauenhaus Zuflucht, ließ sich scheiden und begann, ihren Grundschulabschluss nachzuholen. Gegen ihre Familie und ihren Ex-Mann reichte sie Klage ein. Trotz der vorliegenden Beweise dauerte es zwei Jahre, bis die Staatsanwaltschaft eine Anklageschrift verfasste. 

Als die Anklage im Dezember 2022 endlich erhoben wurde, berichtete der Journalist Timur Soykan von der linksgerichteten Oppositionszeitung BirGün über die Anklage und die damit verbundenen Vorwürfe. Der Artikel auf der Titelseite der Zeitung löste massive öffentliche Empörung aus, woraufhin endlich Bewegung in das Verfahren kam. 

Der Skandal beherrschte daraufhin die nationale Berichterstattung. Die Anhörung von H.K.G. wurde auf den 30. Januar vorverlegt. Ihr Vater, ihre Mutter und ihr Ex-Ehemann wurden inhaftiert und das Gesundheitsministerium leitete eigene Ermittlungen gegen die Ärzte ein, die mutmaßlich an dem Betrug zur Verschleierung des wahren Alters von H.K.G. beteiligt waren. Der türkische Rat der Richter und Staatsanwälte (HSK) kündigte eine Untersuchung gegen den Staatsanwalt an, der die ersten Ermittlungen eingestellt hatte. 

Der Einfluss islamischer Sekten in der Türkei 

Die Berichterstattung über den Fall H.K.G. fachte in der Türkei eine intensive Debatte über Macht und Einfluss der verschiedenen islamischen Sekten in Politik und in vielen Lebensbereichen an. 

 

 

Säkular und kritisch eingestellte Beobachter glauben, dass diese Sekten – auf Türkisch "Tariqat“ – immer mehr an Einfluss gewonnen haben. Dass die Türkei im Jahr 2021 aus der Istanbul-Konvention ausgetreten ist, einem internationalen Übereinkommen zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt, schreiben einige ebenfalls ihrem Einfluss zu. 

Doch trotz öffentlicher Ablehnung und Skepsis ihnen gegenüber klammern sich die Tariqat weiterhin an ihre Macht. Nicht zuletzt wegen der unzureichenden Kontrolle durch die Regierung haben sie weiterhin erheblichen Einfluss. 

Präsident Recep Tayyip Erdoğan und Innenminister Süleyman Soylu nahmen im Juni 2022 an der Beerdigung von Mahmut Ustaosmanoğlu teil, dem langjährigen Leiter der İsmail-Ağa-Gemeinde. Das war ein deutliches Zeichen für den Einfluss, den diese Bruderschaft weiterhin ausübt. 

Als der Fall von H.K.G. öffentlich wurde, erklärte Erdoğan, dass er die Verheiratung von Kindern vor dem 18. Geburtstag "nicht gutheiße“. "Wir werden es weder zulassen, dass unsere Mädchen missbraucht werden, noch werden wir die Augen davor verschließen, dass unsere Nation durch eine Welle von Groll und Hass gedemütigt wird“, sagte er.  

Nach Ansicht vieler orthodoxer Muslime dient dieser Fall nur als Vorwand, um islamische Sekten und den Islam selbst zu verleumden. Auch die türkische Familien- und Sozialministerin Derya Yanik findet, der Fall habe nichts mit der Sekte zu tun. Solche Probleme gebe es in "jeder Gesellschaft“; sie beträfen nicht die Politik, sagte sie in einer Fernsehsendung. 

Am 30. Januar kann das ganze Land die Anhörung zum Fall H.K.G. verfolgen – in der Hoffnung, dass der jungen Frau dieses Mal Gerechtigkeit widerfährt. 

Ayse Karabat

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