Fehlgeleiteter Kampf gegen Antisemitismus

People attend the rally "Against terror and antisemitism! Solidarity with Israel" organised by Germany's Central Council of Jews, political parties, unions and civil society, at Brandenburg Gate, Berlin, 22 October 2023
"Wenn wir die jüdische Minderheit in Deutschland vor Antisemitismus schützen und zu Israels Sicherheit beitragen wollen, dürfen wir keine rhetorischen Keulen schwingen, sondern müssen in Diskussionen sorgfältig analysieren und abwägen", schreibt Hans Dembowski. (Foto: REUTERS/Annegret Hilse)

Israel kritischer zu betrachten als andere Staaten gilt zu Recht als antisemitisch. Hiesige Entscheidungstragende in Politik und Medien behandeln aber Israel nachsichtiger als andere Staaten. Deutschlands internationale Glaubwürdigkeit steht auf dem Spiel.

Kommentar von Hans Dembowski

Von Angehörigen des Islam erwarten wir in Deutschland, dass sie sich vom Extremismus distanzieren und zum Existenzrecht Israels bekennen. 

Israelis behandeln wir anders. Wer mit radikalzionistischen Motiven Siedlungen im Westjordanland baut, gilt als zu randständig und zu wenig ernst zu nehmen, als dass sich irgendjemand distanzieren müsste. Dabei ignorieren wir, dass die Siedlerbewegung im israelischen Kabinett prominent vertreten ist und ihre Vertreter – wie auch Premierminister Benjamin Netanjahu – das Existenzrecht eines palästinensischen Staates strikt ablehnen. Staatliche Sicherheitskräfte schützen die Siedlungen in den besetzten Gebieten, die auch auf andere Weise gefördert werden.

Nicht nur palästinensischer Terrorismus verhindert seit Jahrzehnten den Frieden. Auch Israels radikalzionistische Kräfte tragen dafür Verantwortung. Zur Erinnerung: Den friedensbereiten Premier Jitzchak Rabin erschoss ein Israeli. Irrtümlich wird Israels populistische Rechte in hiesigen Medien oft "orthodox" genannt. Das zeigt, wie wenig hierzulande über das Judentum bekannt ist. Tatsächlich lehnen einige orthodoxe Strömungen im Judentum den Wehrdienst und den Zionismus ab.

Menschenrechte für alle?

Seit Jahren entstehen neue Siedlungen im Westjordanland und dieser Siedlungsbau gewinnt sogar seit einiger Zeit weiter an Fahrt. 

Rund 600 000 bis 700 000 Israelis leben heute im Westjordanland. Sie verfügen über eine solide Infrastruktur samt eigener Fernstraßen, die nur sie nutzen dürfen. All das erfordert Platz in dem ohnehin schon dicht besiedelten Besatzungsgebiet. 

Aufwendige Schutzstrukturen für die Siedlungen machen es der palästinensischen Bevölkerung von rund 3 Millionen Menschen schwer, sich von einem Ort zum nächsten zu bewegen. Netanjahu artikuliert auch klar Annexionswünsche, obwohl in dem Gebiet laut der Oslo-Verträge ein palästinensischer Staat entstehen soll. Einige Kabinettsmitglieder haben im Frühjahr sogar an einer Tagung teilgenommen, auf der die israelische Besiedlung des Gazastreifens nach Kriegsende erwogen wurde.

Besatzungspolitik samt Siedlungsbau entsprechen seit Langem weder den Menschenrechten noch dem Völkerrecht. Wehrlose Menschen werden systematisch enteignet und oft auch umgebracht. 

Israelis erfreuen sich nach tödlicher Gewalt meist der Straffreiheit, wie Menschenrechtsorganisationen berichten, wohingegen die Militärjustiz minderjährige palästinensische Teenager selbst nach folgenlosen Steinwürfen bei Protesten ins Gefängnis schickt. Nichts davon passt zum Verständnis von Gleichheit, Demokratie und Rechtsstaat, wie es in unserem Grundgesetz dargelegt ist.

Umstrittene Begriffe

Es lässt sich darüber streiten, ob Israel zu Recht Apartheid und Genozid vorgeworfen werden können. Es bringt aber nichts, schon die Verwendung der Begriffe als antisemitisch abzulehnen und die Diskussion über diese zu unterbinden. Wir müssen ernst nehmen, dass der Internationale Gerichtshof (IGH) Israel nach einem Eilantrag Südafrikas am 24. Mai aufgefordert hat, seine militärische Offensive in der Stadt Rafah im Gazastreifen sofort zu beenden.

Die Militäroffensive könne zu Lebensbedingungen beitragen, die zur "vollständigen oder teilweisen Zerstörung" der palästinensischen Bevölkerung im Gazastreifen führen, erklärte der Präsident des Gerichts, Nawaf Salam.

Inzwischen wächst sich in Gaza die Versorgungsnotlage nun zu der Hungersnot aus, vor der zivilgesellschaftliche Organisationen seit Januar warnen. Nicht einmal den USA hätten wir es verziehen, wenn so etwas im Irakkrieg geschehen wäre – und schon gar nicht, wenn ein Spitzenpolitiker vorher angekündigt hätte, "menschliche Tiere" würden von Lebensmitteln und Wasser abgeschnitten. Das hat Yoav Gallant, Israels Verteidigungsminister, aber getan. Daran, dass in Gaza Kriegsverbrechen geschehen, besteht kaum Zweifel.

Ähnlich relevant ist, dass die israelische Menschenrechtsorganisation B’tselem seit Jahren von Apartheid spricht. Ihrem Beispiel folgten Human Rights Watch und Amnesty International, auf deren normalerweise solides Urteil wir sonst großen Wert legen. Ihnen pauschal Antisemitismus vorzuwerfen, wird der Sache nicht gerecht und verhindert die Auseinandersetzung über menschenrechtliche Probleme.

Wir sagen immer wieder, Kritik an Israel bleibe erlaubt. Diplomatisch formulierte Beanstandungen verhallen aber ungehört, während auf härtere Rhetorik sofort das Antisemitismusurteil folgt, das die Debatte beendet. Das entspricht dem rechtspopulistischen Politikstil Netanjahus. Er rechtfertigt im Zweifel alles mit Israels Sicherheitsbedürfnissen angesichts des weltweit grassierenden Antisemitismus. Dabei trägt Israels aggressive Besatzungspolitik zu regionalen Spannungen bei und weckt damit auch Ressentiments.

So lassen sich die vielen in Deutschland lebenden muslimischen Jugendlichen nicht erreichen. Sie sehen, dass wir im Falle des jüdischen Staates Dinge akzeptieren, die uns in jedem arabischen und islamischen Land empören. 

Grundsätzlich lehnen wir es ab, eine Nation eng nach konfessionellen oder ethnischen Kriterien zu definieren und alle, die diesen nicht entsprechen, auszugrenzen. Indien darf aus unserer Sicht kein Hindustaat werden, und die überwiegend weißen "christlichen Nationalisten", die in den USA Trump unterstützen, finden unsere Medien zu Recht abstoßend. 

Jüdischer oder demokratischer Staat?

Die wichtige Debatte, ob Israel auf Dauer ein jüdischer oder ein demokratischer Staat sein soll, wird dagegen hierzulande kaum wahrgenommen. Ohne Zwei-Staaten-Lösung kann Israel jedoch nicht jüdisch und gleichzeitig demokratisch bleiben, denn zwischen Mittelmeer und Jordan leben ungefähr gleich viele palästinensische wie jüdische Menschen.

Netanjahu fordert dauerhafte militärische Dominanz im gesamten Gebiet. In Bezug auf die Frage "jüdisch oder demokratisch" spricht sein bislang erfolgloser Versuch, das Oberste Gericht zu entmachten, Bände. Es hat immer wieder Minderheitenrechte verteidigt.

Israel bekommt keinen Druck

Ernst zu nehmende Stimmen schlagen statt der Zwei-Staaten-Lösung inzwischen einen gemeinsamen säkularen Staat für alle Religionsgemeinschaften vor. Das ist lösungsorientiert, wenn auch kurzfristig ebenso wenig umsetzbar wie die Zwei-Staaten-Lösung. Hierzulande wird dennoch jedwedes Abrücken vom jüdischen Staat als antisemitisch abgelehnt.

Seit Jahrzehnten predigen wir arabischen Staaten, sie bräuchten Demokratie und Menschenrechte. Die Menschen dort wissen jedoch, dass Deutschland Israel keinen Druck macht, wenn es um Defizite bei den Menschenrechten in den besetzten Gebieten geht. Aber Lippenbekenntnisse zur Zwei-Staaten-Lösung schützen unsere Glaubwürdigkeit nicht, solange es folgenlos bleibt, wenn Israels Regierung diese Lösung nach Kräften verhindert. 

Auch die Forderung nach mehr Schutz vor Siedlergewalt wirkt zu blass. Denn nötig wäre weit mehr, nämlich ein Ende der Siedlungspolitik und die volle Anerkennung palästinensischer Menschen- und Eigentumsrechte. Uns sollte obendrein zu denken geben, dass Netanjahu offensichtlich die Eskalation des Gaza-Kriegs in einen regionalen Flächenbrand riskiert, den die Bundesregierung verhindern will. Es sind nicht nur Muslime, die in Deutschland gegenüber Israel eine Doppelmoral wahrnehmen. 

Zum Beispiel dann, wenn der Gaza-Krieg, der wie ein Vergeltungsfeldzug aussieht, pauschal mit dem "Selbstverteidigungsrecht Israels" gerechtfertigt wird. In Gaza sind mittlerweile mehr als 36 000 Tote zu beklagen – mehrheitlich Frauen und Kinder.

Philosemitismus mit islamophoben Zügebn

Selbstverständlich rechtfertigt Israels völkerrechtswidrige Besatzungspolitik nicht den blutrünstigen Terror der Hamas. Dieser macht jedoch auch die aktuellen Horrorszenarien in Gaza nicht akzeptabler. Wir sollten das Leid beider Seiten ernst nehmen, uns aber auch davor hüten, die Gräuel gegeneinander aufzuwiegen. Wer eine regelbasierte Weltordnung will, sollte darauf bestehen, dass der Internationale Strafgerichtshof die Verbrechen beider Seiten ahndet.

Es stimmt, dass in Israelkritik oft antisemitische Topoi mitschwingen. Ebenso richtig ist, dass der Philosemitismus oft islamophobe Züge trägt. Keines von beidem macht berechtigte Kritik gegenstandslos. Wenn heute zwischen proisraelisch als dem Gegenteil von antiisraelisch (und mithin antisemitisch) polarisiert wird, profitieren beide Kriegsparteien in Gaza.

Sowohl Netanjahu als auch die islamistische Terrororganisation Hamas betreiben ausgrenzende Identitätspolitik. Beide inszenieren sich als die einzige legitime Stimme ihrer jeweiligen Völker mit langen Leidensgeschichten. Die Hamas gibt sich als Organisation, die sich gegen israelisches Unrecht wehrt – und ihre internationale Anschlussfähigkeit steigt, wenn dieses Unrecht heruntergespielt wird. 

Dabei übersehen viele, dass diese kriminelle Vereinigung, die bewusst einen Krieg provoziert hat, in dem Zehntausende ihrer Landsleute in wenigen Monaten starben, die Bezeichnung "Befreiungsorganisation" nicht verdient.

Zensurhafte Antisemitismusvorwürfe richten sich in Deutschland sogar gegen jüdische Intellektuelle, die mit Israels Politik nicht einverstanden sind. Es ist peinlich, wenn Berlins Regierender Bürgermeister einem israelischen Regisseur vorschreibt, was in Deutschland über Israel/Palästina gesagt werden darf und was nicht, wie bei der Biennale geschehen. 

Es ist ähnlich befremdlich, wenn Kölns Universitätsrektor einer jüdischen Sozialwissenschaftlerin aus den USA eine Gastprofessur entzieht, weil sie einen Aufruf zum Boykott Israels aus Solidarität mit Palästina unterschrieben hat.

An dieser Stelle finden Sie einen externen Inhalt. Sie können ihn sich mit einem Klick anzeigen lassen.

Freundespflicht

"Israelkritik ist Freundespflicht", sagte der frühere Bundespräsident Johannes Rau gern, wie mir einer seiner ehemaligen Mitarbeiter mitteilte. So hielten es auch während der rot-grünen Koalition um die Jahrtausendwende Entwicklungsministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul und Außenminister Joschka Fischer. Das war damals auch leichter, denn die Oslo-Verträge schienen eine bessere Zukunft mit zwei Staaten einzuleiten.

Philosemitismus, die pauschale Unterstützung alles Jüdischen, ist aber auch heute kein Mittel gegen Antisemitismus. Fachleute vom Zentrum für Antisemitismusforschung der TU Berlin bezeichnen Philosemitismus sogar als eine von vielen Formen des Antisemitismus. Sie warnen zu Recht davor, den vielschichtigen Terminus "Antisemitismus" als politisches Schlagwort zu benutzen. 

Intellektuell ist schlecht informierter Philosemitismus dasselbe wie vorurteilsbeladener Antisemitismus. Wird Philosemitismus politisch instrumentalisiert, verhärtet er sowohl projüdische als auch antijüdische Positionen und trägt so zur weiteren Polarisierung bei. Besonders gefährlich wird es, wenn Philosemitismus in pauschale Unterstützung Israels umschlägt. Es weckt nämlich neue Ressentiments, wenn berechtigte Israelkritik als bloßer Antisemitismus abgetan wird.

Tatsächlich trägt Deutschland nach dem Nazi-Völkermord eine Verantwortung für Israels Sicherheit. Weil der jüdische Staat aber auf längst besiedeltem Gebiet entstand, folgt daraus auch eine Verantwortung für die Sicherheit von Palästinensern. 

Wir müssen für die Rechte der Vertriebenen und ihrer Nachfahren sowie der in den besetzten Gebieten ansässigen Menschen eintreten, anstatt nur für eine Seite Partei zu ergreifen. Wir lehnen es zu Recht ab, allen Juden und Jüdinnen Verantwortung für die israelische Politik zuzuschreiben. Entsprechend dürfen wir auch nicht alle Palästinenser für den Terror der Hamas in Mithaftung nehmen.

Wenn wir die jüdische Minderheit in Deutschland vor Antisemitismus schützen und zu Israels Sicherheit beitragen wollen, dürfen wir keine rhetorischen Keulen schwingen, sondern müssen in Diskussionen sorgfältig analysieren und abwägen. Deutschland tritt international für Frieden, Demokratie und Menschenrechte ein. Wenn wir bei Israel Ausnahmen machen, kostet uns das unsere Glaubwürdigkeit. Wir verlieren auch unsere Anschlussfähigkeit in vielen Partnerländern, und zwar nicht nur in den vom Islam geprägten Ländern.

Hans Dembowski

© E+Z | Entwicklung & Zusammenarbeit 2024