„Wir tragen Verantwortung für die sudanesische Geschichte”

Snoopy, Rawia, vielen Dank, dass ihr euch die Zeit genommen habt. Am 26. März wurde die sudanesische Hauptstadt Khartum endlich befreit. Das mag als Einstiegsfrage banal klingen, aber wie geht es euch?
Rawia: Ich mache mir Sorgen in Anbetracht der aktuellen Lage im Sudan, die alles andere als stabil ist. Jeden Morgen lese ich Nachrichten über Menschen, die sterben.
Snoopy: Wir haben gemischte Gefühle. Einerseits sind die Menschen froh, dass Khartum von den RSF (Rapid Support Forces) befreit wurde, andererseits begeht auch die sudanesische Armee (SAF) Verbrechen. Es ist, als hätten wir uns für das kleinere Übel entschieden. Letztendlich sterben weiter Menschen ohne Grund. Die Befreiung von Khartum sollte allen mehr Sicherheit bringen, aber das ist nicht der Fall.

Fehlt es den Medien vor allem im Westen an Differenziertheit in der Berichterstattung über den Krieg?
Snoopy: Einige Medien sind fair und verstehen den Kontext. Sie wissen, dass keine der beiden Seiten der Zivilbevölkerung hilft. Andere stellen den Krieg im Sudan als einfachen Fall von SAF gegen RSF, gut gegen böse dar, was nicht der Wahrheit entspricht.
Die Armee hat die RSF 2013 selbst gegründet, für die Verbrechen, die sie selbst nicht begehen konnte. Ich wünschte, Medien würden das recherchieren und diese Geschichte verstehen. Aber die meisten bleiben oberflächlich und betrachten nur die äußerste Schicht von dem, was aktuell passiert.

Ihr Film „Khartoum” gibt nicht nur Einblicke in den Krieg, sondern zeigt auch, wie Sie als Filmschaffende auf der Flucht klarkommen müssen. Wie ist das Projekt entstanden?
Rawia: Alles hat angefangen, als Regisseur Phil Cox einen poetischen Dokumentarfilm über Khartum drehen wollte. Cox kommt seit Anfang der 2000er Jahre immer wieder in den Sudan und hat mehrere Filme gedreht. 2021 war er während des Staatsstreichs hier und suchte über Facebook mit Talal Afifi und der Native-Voice-Films-Produzentin Giovanna Stopponi nach aufstrebenden Filmemacher*innen, die ihre Geschichten einreichen und an seinem Projekt mitarbeiten wollten. Vier von uns wurden ausgewählt. Wir nahmen an Workshops teil, in denen wir lernten, unsere Geschichten weiterzuentwickeln.
Snoopy: Obwohl der Film vier einzelne Segmente hat, hatten wir nie das Gefühl, dass wir vier einzelne Filme drehen. „Khartoum” war reine Teamarbeit. Wir haben unsere Ideen miteinander verwoben und uns ständig gefragt: Wie kann der oder die andere Regisseur*in ihre Gedanken auf meine aufbauen? Wenn jemand eine Idee hatte, haben wir sie geteilt und gemeinsam daran weitergearbeitet.
Der Kriegsausbruch hat euch gezwungen, Inhalt und Stil des Films komplett neu zu denken. Seid ihr mit dem Ergebnis zufrieden?
Rawia: Wir sind zufrieden. Es gibt generell viel zu wenig Berichterstattung über den Sudan und der Film wurde immerhin auf großen Filmfestivals wie Sundance oder der Berlinale gezeigt. Mit diesem Film können wir aus einer persönlichen Perspektive zeigen, was vor Ort geschieht. Wir können den menschlichen Teil des Krieges beleuchten, denn der Krieg besteht nicht nur aus Zahlen und Statistiken, wie wir sie aus den Nachrichten kennen.
Snoopy: Es gab eine Zeit, in der wir nicht wussten, ob wir diesen Film überhaupt weitermachen sollen. Wir hatten bereits einige Szenen mit unseren Protagonist*innen gedreht. Das war die erste Version von „Khartoum”. Dann brach der Krieg aus und es war unmöglich, alle beim Verlassen des Landes zu filmen.
Einige waren noch mitten im Kriegsgebiet, als wir in Nairobi ankamen. Wir hatten keinen Kontakt zu ihnen. Es war eine Herausforderung, aber wir haben gemerkt, dass es unsere Verantwortung ist, den Film fertigzustellen. Menschen wie wir, also Filmschaffende, Künstler*innen, Produzent*innen, tragen Verantwortung, diesen Teil der sudanesischen Geschichte zu bewahren, denn alles wird von den RSF und der Armee ausgelöscht. Der Film spiegelt die Resilienz der Menschen wider.

Wie haben Sie die Protagonist*innen überzeugt, nach Kriegsbeginn weiterzumachen? Es ist eine Sache, jemanden zu bitten, an einem Dokumentarfilm über Khartum mitzuwirken, während Frieden herrscht, aber eine andere, diesen Film trotz der Gefahr durch Gewalt und Vertreibung fortzusetzen.
Snoopy: Anfangs gab es viele Diskussionen. Mein Protagonist Majdi war Beamter und hatte eine große Leidenschaft für Taubenrennen. Dies sollte ursprünglich auch der Fokus meines Films sein. Nach Kriegsausbruch beschlossen wir, uns auf seine persönliche Geschichte zu fokussieren, wie er beispielsweise seinen Sohn aus Khartum wegschicken musste.
Wir haben ihn kontaktiert und ihm erklärt, wie wichtig es sei, dass er nach Nairobi kommt, damit wir den Film fertigstellen. Wir wollten aus einem neuen Blickwinkel zeigen, was im Sudan passiert. Er willigte ein.
Dann haben wir eine tiefere Verbindung aufgebaut. Vor dem Krieg war Majdi nur der Beamte, der heimlich zu Taubenrennen geht, und wir die Filmschaffenden, die seine Geschichte erzählen wollten. Aber seit dem Krieg sind wir alle Vertriebene mit den gleichen Problemen, wir haben alle Familienmitglieder in Khartum verloren oder zurücklassen müssen. Das hat die Grenzen zwischen uns verwischt.
Rawia, dein Segment erzählt die Geschichte von zwei Kindern, Lokain und Wilson. Es gibt einen ergreifenden Moment, wo sie sagen, dass „all das nur wegen den Erwachsenen passiert“. Wie war es, mit den Kindern zu arbeiten? Und wie hast du sichergestellt, dass sie durch die Dreharbeiten nicht erneut traumatisiert werden?
Rawia: Am Anfang wollte ich die Geschichte von Straßenkindern erzählen und habe so Lokain und Wilson gefunden. Ich habe die beiden jedes Wochenende besucht und ihr Vertrauen gewonnen. Sobald das Vertrauen da war, waren sie sehr offen. Momentan leben sie auch noch bei mir in Nairobi. (Anm. der Red.: Rawia wurde nach Fertigstellung des Films offiziell Vormund von Lokain und Wilson.)
Was ihre Psyche angeht, so hatten wir eine professionelle sudanesische Therapeutin an unserer Seite. Sie hat uns gezeigt, dass wir uns von allem, was wir im Krieg erlebt haben, heilen können. Da der Film an vielen Stellen nachgespielte Szenen tatsächlich durchlebter Situationen enthält, haben wir als Regisseur*innen einige traumatische Ereignisse aus unseren eigenen Leben als Beispiele verwendet. Wir wollten, dass unsere Protagonist*innen besser verstehen, was wir durchgemacht haben und von ihnen verlangen.
Wie man im Film sieht, war es uns wichtig, dass sich alle nach diesen traumatischen Reenactments umarmen. Einige Erlebnisse waren sehr traumatisch und eine einfache Umarmung kann viel bewirken. Wir wollten nicht, dass sich jemand ausgeschlossen fühlt.
Im Film geht es auch darum, dass wir zwar alle in in Khartum gelebt haben, aber dass dennoch eine gewisse Distanz zwischen uns geherrscht hat. Majdi würde nicht unbedingt Lokain und Wilson begegnen. Aufgrund des Krieges verstehen sich jetzt alle gegenseitig.
Am 15. April hat sich der Ausbruch des Sudankriegs zum zweiten Mal gejährt. Was sind Ihre Hoffnungen oder Pläne für die Zukunft?
Snoopy: Im Moment ist alles sehr unklar. Viele bitten uns, zurück in den Sudan zu gehen, aber da ist es noch viel zu gefährlich. Es liegen überall Leichen auf dem Boden und es gibt viele Landminen. Wenn es nach mir ginge, würde ich natürlich sehr gerne zurückkehren, auch wenn mein Land zerstört ist. Wir sind eine verfluchte Generation. Die ganze Scheiße, die gerade passiert, sie passiert in unserer Zeit.
Aber es ist wichtig, selbstlos zu sein und den Sudan für die nächste Generation aufzubauen. Das versuchen wir aus dem Ausland und durch die Bewahrung der Geschichte, damit diejenigen, die nach uns kommen, verstehen können, wie wir uns gefühlt haben und welche Lösungen wir für einen besseren Sudan hatten.
Dieser Text ist eine Übersetzung des englischen Originals durch den Autor.
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