Islamexperte Steinbach zur Lage in der Türkei und Nahost
Berlin (KNA) Der Islamwissenschaftler und Nahostexperte Udo Steinbach leitete von 1976 bis 2006 das Deutsche Orient-Institut in Hamburg. Als Buchautor, insbesondere zur Türkei, und häufiger Talkshowgast hat er die Ereignisse in der islamischen Welt analysiert. Im Gespräch mit der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) blickt Steinbach, der am Dienstag 80 Jahre alt wird, auf die Stichwahl in der Türkei und die politische Entwicklung in der arabischen Welt. Ein "Kampf der Kulturen", so seine Überzeugung, wird ausbleiben. Die Muslime suchten aber ihren Platz in der globalisierten Welt.
KNA: Herr Professor Steinbach, das Geschehen in der islamischen Welt beobachten Sie als Wissenschaftler seit Jahrzehnten. Die Türkei hatten Sie dabei immer besonders im Blick. Dort steht am Sonntag die Stichwahl zwischen dem politischen Islamisten Recep Tayyip Erdogan und dem Sozialdemokraten Kemal Kilicdaroglu an. Welches Ergebnis erwarten Sie?
Steinbach: Erdogan wird die Wahl gewinnen und Präsident bleiben. Wie so oft zerplatzt damit westliches Wunschdenken im Orient. Auch wenn die Umfragen teilweise einen Sieg Kilicdaroglus versprachen, war er nie der stärkere Kandidat und sein Bündnis aus sechs Parteien passte nicht wirklich zusammen. Der Westen hat den Einfluss von Erdogans schlechter Wirtschaftsbilanz auf die Wähler überschätzt und wollte nicht wahrhaben, dass für eine Mehrheit der Türken die konservativ-islamische und nationalistische Ausrichtung der Gesellschaft mindestens genauso wichtig ist.
KNA: Einmal mehr galt das auch für die türkischen Wähler in Deutschland, die zu zwei Dritteln für Erdogan gestimmt haben.
Steinbach: Das zeigt, dass viele Deutschtürken offenbar die liberale Demokratie und individuelle Freiheit, von der sie in Deutschland profitieren, in der Türkei nicht wollen. Hier sehe ich ein grundsätzliches Integrationsproblem: Hierzulande wählen die meisten Türkeistämmigen aus pragmatischen Gründen eher linke, weil migrantenfreundliche Parteien. Aber sobald es um die Türkei geht, stehen sie noch in der dritten Einwanderergeneration politisch oft im nationalistisch-islamistischen Lager. Das bleibt eine Herausforderung für die deutsche Politik.
KNA: Wie geht es nach einem Wahlsieg Erdogans weiter mit der Türkei?
Steinbach: Innenpolitisch rechne ich mit einer weiteren Zuspitzung der Lage, weil die Gesellschaft gespaltener ist denn je zwischen streng säkularen und streng religiösen Bevölkerungsteilen. Es gibt sogar Indizien für eine militante Eskalation zwischen den gesellschaftlichen Gruppen. Erdogans Machtapparat wird darauf erst recht mit staatlicher Repression reagieren. Dazu kommt sein Konfrontationskurs in der Kurdenfrage. Es droht eine Massenauswanderung von Türken nach Europa, vor allem Deutschland. Ein weiteres Problem sind die 3,5 Millionen syrischen Flüchtlinge in der Türkei, die Erdogan aus dem Land haben will. Doch die dafür gedachten Gebietseroberungen in Syrien sind ihm nicht gelungen.
KNA: Und wo steht die Türkei außenpolitisch?
Steinbach: Erdogan sitzt zwischen allen Stühlen, die Türkei ist isoliert. Die Beziehungen zum Nato-Partner USA und zur EU sind belastet, die zu Russland ungeklärt. In der arabischen Welt erhebt Erdogan weiter den Anspruch eines Anführers der Sunniten, grüßte aber nach dem Erfolg im ersten Wahldurchgang wieder mit eingeknicktem Daumen - dem Gruß der fundamentalistischen Muslimbrüder. Doch damit stößt er in arabischen Ländern wie Ägypten, Saudi-Arabien und den Emiraten auf Vorbehalte. Die türkische Wirtschaft taumelt und Erdogan ist nicht mehr der starke Sultan, der eine Art neues Osmanisches Reich errichten könnte, auch wenn er diesen Ehrgeiz weiterhin hat.
KNA: Den Aufstieg des politischen Islams und islamischen Extremismus seit den 1970er Jahren haben Sie als Wissenschaftler unmittelbar verfolgt. Welche Rolle spielt der Fundamentalismus heute für die Gesellschaften des Nahen und Mittleren Ostens?
Steinbach: Der religiöse Fundamentalismus in diesen Ländern, ob gewalttätig oder in Form des politischen Islams, hat seinen Zenit längst überschritten. Bald nachdem ich die Leitung des Deutschen Orient-Instituts übernommen hatte, eskalierte 1978 im Iran die islamische Revolution; Gruppen wie Hisbollah und Hamas entstanden; nach dem 11. September 2001 war der islamistische Terror dann in aller Munde und erlebte mit dem "Islamischen Staat" seinen schockierenden Höhepunkt.
Aber die Verbrechen im Namen des Islam haben unter Muslimen breiten Abscheu ausgelöst. Die Gewaltoption im Koran wird heute selbst von vielen Religionsgelehrten viel kritischer gesehen. Und: Die Menschen haben begriffen, dass der Islamismus ein leeres Versprechen ist. Die politischen und ökonomischen Probleme wie Jugendarbeitslosigkeit und Bevölkerungsexplosion kann er nicht lösen, sondern verschlimmert sie noch. Das heißt nicht, dass traditionelle islamische Werte an Einfluss verlieren oder plötzlich überall die Menschenrechte regieren, siehe den Erfolg von Erdogan. Aber der Arabische Frühling hat gezeigt, dass die Menschen in der Region vor allem Würde und Wohlstand verlangen, keinen Gottesstaat. Im Iran begehrt das Volk dagegen auf, in Saudi-Arabien drängt die Regierung selber den ultrakonservativen Wahhabismus zurück. Die Muslime suchen mehr denn je ihren Platz in der modernen Welt.
KNA: Also kein "Clash of Civilizations"?
Steinbach: Nein, dazu wird es nicht kommen. Wohl aber zu einem neuen außenpolitischen Selbstbewusstsein der islamischen Staaten. Da erleben wir gerade einen dramatischen Wandel inmitten der globalen Kräfteverschiebungen. Er wird angeführt von den wirtschaftlich potenten Golfstaaten und hat auch mit dem massiven Ansehensverlust der USA nach dem Irakkrieg zu tun. Wir sehen das an der jüngsten Annäherung zwischen den alten Erzfeinden Saudi-Arabien als sunnitische Vormacht und dem schiitischen Iran, die eine Wende im Drama des Jemenkriegs einläuten könnte. Wir sehen es an der bedingungslosen Wiederaufnahme Syriens in die Arabische Liga und der offenen Diplomatie der Golfländer gegenüber Russland.
KNA: Das klingt aber erst recht nach einer antiwestlichen Stoßrichtung.
Steinbach: Das wäre eine verkürzte Sichtweise. Niemand bedauert den Rückzug der Amerikaner, die soviel Chaos in der Region angerichtet haben. Aber die islamischen Staaten blicken durchaus nach Westen, vor allem auf Europa - schon um für ihre Entwicklung nicht auf die Chinesen angewiesen zu sein. Sie tun das allerdings pragmatisch. Die Abraham-Abkommen zur Normalisierung der Beziehungen mit dem westlichen Vorposten Israel waren ein Meilenstein. Sie lagen aber schlicht im Interesse der Unterzeichner Vereinigte Arabische Emirate, Bahrain, Sudan und Marokko. Ähnlich nutzengeleitet wollen islamische Länder das Verhältnis zur EU gestalten. Auf dem Energie- und Handelssektor gibt es dafür viele Anknüpfungspunkte. Darüber hinaus hat Europa als Vorbild für funktionierende, sozial gerechte Staatswesen eine hohe Faszination für die arabischen Gesellschaften.
KNA: Wie sollten die Europäer darauf reagieren?
Steinbach: Europa muss in der Region aus dem Schatten der USA treten und den politischen und ökonomischen Wandel in der Region aktiv mitgestalten. Nicht durch penetrantes Einfordern westlich-demokratischer Standards - Stichwort Nancy Faeser und ihre One-Love-Binde bei der WM in Katar. So etwas kommt in der islamischen Welt nicht gut an. Zumal sich der Westen dann sehr schnell den Vorwurf doppelter Standards gefallen lassen muss, weil er die demokratische Opposition von Tunesien bis Ägypten seit dem Arabischen Frühling gar nicht unterstützt hat.
Entscheidend ist ein Umgang auf Augenhöhe, der die Araber nicht belehrt, sondern kulturelle Eigenheiten zunächst mal respektiert. Nur so kann neben dem wirtschaftlichen auch der kulturelle Austausch wachsen. Das ist die Vorbedingung, damit sich Demokratie und Menschenrechte in den islamischen Ländern weiter entwickeln können.