Erhalten, nicht verherrlichen
Kolonialismus, Krieg und Wiederaufbau haben Bengasi gezeichnet, mit physischen wie psychischen Folgen. Die zweitgrößte Stadt Libyens gibt zwar nie auf. Doch seit 2014 wurde ihr historisches Zentrum massiv beschädigt, erst durch den Bürgerkrieg, dann durch Abriss.
Im März 2023 bahnten sich Bulldozer ihren Weg durch das am Meer gelegene italienische Viertel. Die ostlibyschen Behörden agieren unabhängig von der Hauptstadt Tripolis und ließen einen Großteil des historischen Zentrums Bengasis dem Erdboden gleichmachen.
Ganze Häuserblöcke verschwanden, darunter bekannte Wahrzeichen aus der Kolonialzeit wie das Berenice-Theater. Dem Abbruch fielen auch Märkte, Teile der Corniche, der italienische Fischmarkt sowie ein Gewerbegebäude zum Opfer, das „Saqrasioni-Gebäude“ genannt wird – wahrscheinlich eine lokale Aussprache des italienischen Worts für Versicherung Assicurazioni.
Am Rande dieser nun brachliegenden Fläche, auf der einst Teile der italienischen Stadt standen, liegt das Barah Cultural Centre, eines der wenigen engagierten Kunstzentren in Bengasi. „Es ist, als säße man auf der Piazza Navona in Rom, nur dass es hier leer ist“, sagt Jawad Elhusuni, Gründer von JEA Architects und Dozent an der Libyschen Internationalen Universität in Bengasi.
Elhusuni hätte sich für die von ihm initiierte Ausstellung „Post-Colonial Reclamations“ (Postkoloniale Wiederaneignung) keinen passenderen Ort vorstellen können als das Barah Cultural Centre. Sie widmet sich der Architekturgeschichte der Stadt und bietet Einblicke in die Forschung, Modelle, Installationen und Fotografien. Geschichte dient als Material für Reflexion und Erneuerung. Architekt:innen, Studierende und Künstler:innen setzen sich in „Post-Colonial Reclamations“ mit Bengasis italienischer Kolonialarchitektur auseinander und erkunden Wege, sie neu zu interpretieren.
Kritische Restaurierung
Elhusuni befasst sich seit mehr als einem Jahrzehnt mit Bauwerken aus der Kolonialzeit. 2014 renovierte sein Architekturbüro im Auftrag des Kulturministeriums die Piazza Cagni, einen Platz, der ursprünglich gebaut wurde, um den italienischen Admiral Umberto Cagni zu würdigen. „Das war ein imperialer Platz, benannt nach einem Admiral, um dessen militärischen Erfolg zu feiern“, sagt Elhusuni. „Ich habe mich gefragt: Warum sollten wir ihn hundert Jahre später nochmal ehren?“
Die Lösung lag für den Architekten auf der Hand: Er würde den Platz kritisch restaurieren. Statt auf römisches Travertin, eine Kalksteinart, oder Carrara-Marmor setzte er beim Wiederaufbau der Piazza auf nordafrikanischen Granit und Kalkstein. „So konnten wir eine genuin libysche Sprache in das Projekt einbringen“, sagt er. Dieser unkonventionelle, aber maßvolle Eingriff wurde zum Kern des Ausstellungskonzepts: Wiederaneignung.
Die Ausstellung folgt der Annahme, dass ein Auslöschen der kolonialen Vergangenheit nicht sinnvoll ist. Vielmehr sollte der Bestand objektiv erfasst werden, um dann damit zu arbeiten und das Verbliebene so neu zu gestalten, dass die heute in der Stadt lebende Bevölkerung davon profitiert.
Diese Haltung passt zu den unterschiedlichen Meinungen, die die Bewohner:innen von Bengasi zu den Kolonialbauten haben: „Manche wollen, dass sie verschwinden, andere sind für den Erhalt“, sagt Elhusuni.
Doch wenn es um Kolonialismus geht, steckt sogar die Sprache voller Widersprüche. Auf Arabisch, erklärt Elhusuni, gehe das Wort für Kolonialismus (استعمار, isti’mar) auf dieselbe Wurzel zurück wie jenes für „bauen“. Diese Ambivalenz finde sich im kollektiven Gedächtnis der Libyer:innen wieder, sodass manche mit dem Kolonialismus bis heute Aufbau, Modernisierung und Infrastruktur verbinden würden. Für andere – besonders in Bengasi, einer Brutstätte des Widerstands – stehe dagegen die Erinnerung an Besatzung und Gewalt im Vordergrund. Die Ausstellung will beiden Lesarten Raum geben.
Eine weitere Stimme in der Debatte ist das Libyan Heritage House (LHH), das systematisch die Geschichte und den Verlust der Kolonialarchitektur in Bengasi dokumentiert. Die Stiftung kartographiert und archiviert Architektur in ganz Libyen, indem sie wissenschaftliche Quellen, historische Filmaufnahmen und alte Familienfotos auswertet.
In Bengasi lässt die Arbeit des LHH zwei Hauptphasen der Kolonialarchitektur in Bengasi erkennen: Die dekorativen, neo-maurischen und vom Art déco beeinflussten Bauten der 1920er-Jahre sowie der rationalistische Modernismus der 1930er-Jahre. Die frühere Phase findet sich in Rathäusern und dem Gouverneurspalast wieder, die spätere in öffentlichen Gebäuden wie der Kathedrale von Bengasi.
„Diese Formen dominierten früher die Skyline“, sagen Sarah Shennib und Sharon Rodwell vom LHH, „heute sind viele dieser markanten Punkte verschwunden oder abgeändert.“ Die Zerstörung habe nicht erst mit den Abrissarbeiten 2023 begonnen. Dem gingen bereits Jahrzehnte des Verfalls und des lieblosen Wiederaufbaus voraus. Außerdem seien die kleinsten Einheiten des sozialen Gefüges langsam verschwunden wie Läden, Schulen und Nebengebäude, die die Struktur der Stadt prägten.
Das LHH arbeitet an einem umfassenden Katalog der Kulturerbestätten im ganzen Land. Mithilfe von Drohnen und hochauflösenden Fotos soll der Wandel über die Zeit hinweg kartographiert und überwacht werden.
Die Arbeiten, die zurzeit im Barah Cultural Centre zu sehen sind, stellen eine Reaktion auf diese Dokumentationsarbeit dar. So will der Projektentwurf „The Floral Station“ (Die Blumenstation) der jungen Architektin und Künstlerin Haya Noureddin etwa die alte Bengasi Stazione mit von Blumen inspirierten Neubauten wiederbeleben. „Ich lebe in Bengasi und diese Kolonialbauten waren immer Teil meiner Alltagslandschaft. Sie sind schön, aber auch so schwer, voller schmerzhafter Bedeutung“, sagt sie.
Raneem Ben Fadhl, ebenfalls Studentin an der Libyschen Internationalen Universität in Bengasi, hat für ihr Werk „Layers of History“ (Historische Schichten) eine Karte aus osmanischer Zeit von 1904 und eine italienische Karte von 1963 über das heutige Straßennetz gelegt. Während die osmanische Karte die erste Bahnverbindung vom Steinbruch zum Hafen sichtbar macht, zeigt der moderne Stadtplan die Dominanz des motorisierten Transports und das Verschwinden der Schienen.
„Ältere Besucher:innen haben Gegenden wiedererkannt, sogar alte Bahnlinien nachgezeichnet und sich erinnert, wie die Strecken früher verschiedene Teile der Stadt miteinander verbanden“, sagt Ben Fadhl. „Den jüngeren Besucher:innen ging es mehr ums Entdecken. Es war interessant, zu sehen, wie dieselbe Karte gleichzeitig Nostalgie und Überraschung hervorrufen konnte, abhängig davon, welcher Generation die betrachtende Person angehörte und wie vertraut sie mit der Vergangenheit der Stadt war.“
Die Stadt verstehen
Die Abrissmaßnahmen von März 2023 stellen einen Bruch im kollektiven Gedächtnis dar, sagt Shennib vom LHH, die zur urbanen Geschichte Libyens publiziert hat. Beispiele dafür sind die jüngsten Zerstörungen des Fischmarkts und des schönen Berenice-Theaters aus den 1920er-Jahren: Beide wurden überraschend schnell und nach minimaler Konsultation seitens der Behörden plattgemacht.
„Der schlagartige Verlust dieser unersetzbaren, kulturell bedeutsamen Bauwerke war besonders traumatisch für die Bewohner:innen Bengasis“, erklärt Shennib, „Libyen fehlt ein durchsetzbares System zum Schutz von Gebäuden aus dem 20. Jahrhundert.“
Shennib betont, wie entscheidend ein rechtlicher Rahmen und der Aufbau von Kapazitäten in dem Bereich seien: Dokumentation sei das eine, aber es brauche auch Klassifizierung, Schutzanordnungen und gut ausgebildete Teams, die die Erhaltungsmaßnahmen steuern. Gute Beispiele seien Marokko und Tunesien, wo lokale Behörden Kinos und Art-Déco-Viertel erhalten hätten. Dort sehe man, wie Kolonialbauten angepasst und wieder genutzt werden könnten, ohne die Gewalt der Vergangenheit zu verherrlichen.
Im östlichen Libyen, daran erinnert das LHH, ist die Erinnerung an die koloniale Gewalt tief verankert. Die sogenannten Befriedungskampagnen der 1920er und 1930er-Jahre haben ein kollektives Trauma hinterlassen. Es gehe deshalb nicht darum, Kolonialismus zu feiern, sondern dessen Zeugnisse zu bewahren, sodass die Vergangenheit erforscht und die Stadt verstanden werden kann.
Die Unterscheidung zwischen Erhalt und Verherrlichung ist der rote Faden, der sich durch „Post-Colonial Reclamations“ zieht. Elhusuni hält Ausstellungen wie diese für entscheidend, da es in Libyen nur wenige öffentliche Orte für Reflexion gebe. „In unserer Kultur steht die mündliche Überlieferung an erster Stelle. Kunst wird oft in Form von Gedichten und Narration ausgedrückt, aber ich glaube an die Kraft von Galerien und Kunsträumen, besonders heute.“
Für ihn, der nach zehn Jahren in Dubai 2024 nach Bengasi zurückgekehrt ist, hat die Ausstellung auch eine persönliche Bedeutung: „In den Vereinigten Arabischen Emiraten habe ich die ganze Zeit darauf gewartet, dass sich die Situation zu Hause verbessert“, sagt er. „Zurückzukommen und diese Ausstellung auf die Beine zu stellen, war auch eine Art, mir meinen Platz hier wieder anzueignen.“
Dieser Text ist eine bearbeitete Übersetzung des englischen Originals. Übersetzung: Jana Treffler.
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