Erzählungen aus einer künftigen Republik
In dieser Sammlung von dreizehn Erzählungen, herausgegeben von Orsola Casagrande und Mustafa Gündoğdu, erwarten den Leser Themen, die typisch für kurdische Autoren sind: Sprache, Erinnerung, politische Repression. Was Kurdistan + 100 zusammenhält, sind nicht zuletzt die felsigen, unwegsamen Landschaften mit ihren Bergen, Höhlen und Klippen. Diese isolieren die kurdischen Gemeinden, um die es in dem Buch geht, oft von ihren Nachbarn und dem Rest der Welt.
Im Unterschied zu den früheren Bänden Iraq + 100 und Palestine + 100, die ein Jahrhundert nach der Besetzung des Irak 2003 bzw. der Nakba 1948, also der massenhaften Flucht aus dem früheren britischen Mandatsgebiet Palästina, spielen, ist dieser Band 100 Jahre nach einem – wenn auch kurzlebigen – Moment der Freude angesiedelt: der Gründung der Republik Kurdistan (Republik Mahabad) am 22. Januar 1946 unter der Führung von Qazi Muhammad.
Die Herausgeber geben in der Einleitung ihrer Hoffnung Ausdruck, dass dieser Moment „wie ein Kaleidoskop fortschrittlicher und positiver Zukunftsperspektiven wirkt, auch wenn er als historischer Moment sowohl Hoffnung als auch Enttäuschung in sich birgt“.
Sprache als Kampfzone
Wie die Herausgeber betonen, finden sich in der Sammlung durchaus positive Zukunftsvisionen, auch wenn die düsteren überwiegen. Alle Erzählungen spielen zumindest teilweise in der Mitte der 2040er Jahre. Mit Robotern, Pillennahrung und Weltraumkolonien spielen einige in einem gängigen futuristischen Setting. Andere entwerfen überraschend originelle Zukunftslandschaften.
In vielen der Geschichten, die aus dem Türkischen, Kurmandschi oder Sorani übersetzt oder direkt auf Englisch geschrieben wurden, wird die Sprache zur Kampfzone.
In der erschütternden und düsteren Kurzgeschichte „The Wishing Star“ (dt. Der Wunschstern) von Jîl Şwanî werden allen Bewohnern eines kurdischen Dorfes kurz nach der Geburt die Zungen herausgeschnitten. Die Dorfbewohner empfinden eine unüberbrückbare Kluft sowohl zu anderen kurdischen Gemeinden als auch zum Rest der Welt. Die einzigen regelmäßigen Besucher sind türkische Soldaten. Erzählt wird die Geschichte aus der Perspektive eines Journalisten, der sich mit seinem Assistenten und Dolmetscher, der glücklicherweise die kurdische Zeichensprache beherrscht, zu Fuß auf den beschwerlichen Weg ins Dorf macht.
In der Erzählung „Waiting for the Leopard“ von Sema Kaygusuz (dt. Warten auf den Leoparden), übersetzt von Nicholas Glastonbury aus dem Türkischen ins Englische, ist der Kampf um die Sprache zwar leiser, aber noch heftiger. Hier werden die sterblichen Überreste von Menschen ausgegraben und wieder zum Leben erweckt, damit sie zu Gefährten der „Hüter“ werden, die in der düsteren und öden Landschaft auf der Jagd nach ausgestorbenen oder fast ausgestorbenen Tieren sind. Die wiederbelebten Seelen dürfen keinen Zugang zu ihren Erinnerungen haben. Doch der Frau, die als Begleiterin des Leopardenhüters zum Leben erweckt wird, gelingt es unter großer mentaler Anstrengung, ihre Erinnerungen wiederzuerlangen.
Zunächst lernt Sedef, wie der Leopardenhüter, sie nennt, Türkisch aus Büchern und Fernsehsendungen. Als ein Ort in der Landschaft ihre Erinnerungen wachruft, hilft sie ihrem Hüter Xime, die felsige Landschaft zu erklimmen und einer lange verloren geglaubten Raubkatze zu begegnen. Der Moment, in dem dieser einsame Leopard schließlich in der ansonsten toten Landschaft auftaucht, ist, wie es in der Erzählung heißt, „fast unerträglich schön“.
In einigen Erzählungen ist der Verlust der Sprache weniger brutal, wenn auch nicht weniger schmerzhaft. In "The Letter“ (dt. Der Brief) von Nariman Evdikes, übersetzt aus dem Kurmandschi von Rojin Shekh-Hamo, findet eine Frau unter den Habseligkeiten ihrer verstorbenen Mutter einen Brief. Obwohl ihr einige der Worte bekannt vorkommen, kann sie ihn nicht lesen. Eine Zeit lang erkennt sie nicht einmal die Sprache ihrer eigenen Vorfahren.
Krieger, Gelehrte und drei Präsidentinnen
Selahattin Demirtas' hoffnungsvolle Erzählung „My Handsome One“ (dt. Mein Hübscher), aus dem Türkischen übersetzt von Amy Spangler, handelt von einer 68-jährigen Erzählerin, die in der Fiktion kürzlich zur Präsidentin Kurdistans gewählt wurde. Die Frau erinnert sich an die Zeit, als es in der Türkei zwischen 1980 und 1991 verboten war, Kurdisch zu sprechen. Sie trägt ein Foto ihres längst verstorbenen Vaters bei sich, den sie einst als junges Mädchen im Gefängnis besuchte, ohne ihn verstehen zu können, weil er gezwungen war, Türkisch zu sprechen.
Die 68-Jährige ist nicht die einzige zukünftige Präsidentin Kurdistans, die in diesem Band zu Wort kommt. In den Texten begegnen wir Kämpferinnen, Wissenschaftlerinnen und nicht weniger als drei Präsidentinnen eines zukünftigen Kurdistans.
Ein Motiv in „My Handsome One“, das sich auch in anderen Erzählungen wiederfindet, ist die Erinnerung an die Toten. In Karzan Kardozis zärtlicher Erzählung „I Have Seen Many Houses in My Time“ (dt. Ich habe in meiner Zeit viele Häuser gesehen) leiden die Mitglieder einer Familie an Thalassämie, einem seltenen Gendefekt. Jedes Mal, wenn der Erzähler die Familie besucht, stellt er fest, dass die Kinder, die er kannte, gestorben sind und neue Kinder geboren wurden. Doch die Toten sind nicht vergessen. Ihre Fotos erfüllen das Haus mit ihrer Gegenwart.
In Qadir Agids „The Last Hope“ (dt. Die letzte Hoffnung) steht ein Toter im Mittelpunkt der Geschichte: Qazi Mohammed, ehemaliger Präsident der Republik Kurdistan, findet sich aus den 1940er Jahren in die 2040er Jahre versetzt. Überrascht stellt er fest, was sich für das kurdische Volk verändert hat und was nicht. Besonders erstaunt ihn, wie leise die Menschen in der Zukunft sprechen müssen.
Lesen, nochmals lesen und erinnern
Einige der Autorinnen und Autoren des Sammelbandes hatten mit Zensur oder Schlimmerem zu kämpfen. Die Herausgeber schreiben in ihrer Einleitung, dass sie sich wünschen, dass alle mutig, klar und frei schreiben. Das ist offensichtlich der Fall, blieb aber nicht ohne Folgen.
Die Schriftstellerin Meral Şimşek wurde kürzlich in der Türkei wegen „terroristischer Propaganda“ angeklagt. Ihre Kurzgeschichte in der Anthologie Kurdistan + 100, die zum Zeitpunkt der Anklage noch gar nicht veröffentlicht war, wurde in der Anklageschrift bereits zitiert. Meral Şimşek lebt inzwischen im Exil in Deutschland.
Es wird noch einige Zeit dauern, bis Selahattin Demirtaş seinen Beitrag zur Anthologie zu Gesicht bekommt. Er wurde in der Türkei zu einer langjährigen Haftstrafe verurteilt. „Nichts“, schreiben die Herausgeber, „auf dem das Wort Kurdistan steht, ist im Gefängnis erlaubt“.
Doch trotz der Schwierigkeiten haben die Autorinnen und Autoren ihre Geschichten weitergegeben. Wie wichtig es ist, diese Geschichten zu erzählen, zeigt sich vielleicht am eindringlichsten in Muharram Ebrys „The Story Must Continue“, aus dem Türkischen übersetzt von Andrew Penny. Darin sagt ein Vater in einem zukünftigen Kurdistan zu seiner Tochter: „Das Beste, was du denen entgegensetzen kannst, die uns ohne Geschichten zurücklassen wollen, ist, unsere Geschichte nicht zu vergessen und sie an unsere Kinder und Enkelkinder weiterzugeben“.
Wann und wie auch immer eine künftige kurdische Nation entstehen wird: Die Geschichten in dieser Sammlung bleiben. Zum Lesen, nochmals Lesen und Erinnern.
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