Neue Elite, neuer Kurs, alte Muster

Ein Mann steht an einem Schreibtisch und schaut auf sein Handy. Im Vordergrund liegt ein Stapel von 2000 SYP-Scheinen mit dem Konterfei von Bashar al-Assad.
Die für 2026 geplante Kürzung der Stromsubventionen könnte die Inflation weiter anheizen – Wechselstube in Damaskus (Foto: Picture Alliance / Zumapress | J. Carlos)

Beim wirtschaftlichen Wiederaufbau setzt Syrien auf Liberalisierung, ausländische Investitionen und niedrige Staatsausgaben. Die neue Herrschaftsklasse profitiert, doch nachhaltiges Wachstum bleibt aus.

Von Joseph Daher

Ein Jahr nach dem Sturz des Assad-Regimes schreitet die internationale Anerkennung der neuen Regierung in Damaskus voran. Das Treffen von Übergangspräsident Ahmed al-Scharaa mit US-Präsident Trump im Weißen Haus im November sowie die schrittweise Aufhebung der internationalen Sanktionen sind bemerkenswerte Entwicklungen.

Al-Scharaa bemüht sich, seine neuen Partnerschaften mit den USA und regionalen Partnern wie der Türkei, Saudi-Arabien, Katar und den Vereinigten Arabischen Emiraten zu stabilisieren. Damit einher gehen Schritte zur Normalisierung der Beziehungen zu Israel. Diese geopolitische Neuausrichtung hilft Al-Scharaa, seine Herrschaft zu festigen, und hat den Weg geebnet für dringend benötigte ausländische Investitionen und internationale Aufbauhilfen. 

Der Weg zum wirtschaftlichen Wiederaufbau ist jedoch mit Herausforderungen gepflastert. Die Kosten des Wiederaufbaus werden auf zwischen 140 und 345 Milliarden US-Dollar geschätzt. Die Weltbank geht von 215,6 Milliarden aus. 

Indes schafft die aktuelle Politik der syrischen Übergangsregierung nicht die Voraussetzungen für einen nachhaltigen wirtschaftlichen Wiederaufbau. Stattdessen hat sich die Regierung – um ausländische Investitionen anzulocken – für ein neoliberales Modell der wirtschaftlichen Liberalisierung mit drastischer Sparpolitik und Kürzungen im öffentlichen Sektor entschieden. 

Hinzu kommen politische Entscheidungen, die die Konzentration der ökonomischen Macht in den Händen der neuen Elite Syriens verstärken. Gleichzeitig lebt ein Großteil der Bevölkerung in Armut. 16,5 Millionen Menschen sind nach UN-Angaben weiter auf humanitäre Hilfe angewiesen.

Mehr ausländische Investitionen, weniger öffentliche Ausgaben

Mehrfach hat die neue Regierung ihre Pläne für eine freie Marktwirtschaft erörtert, wobei der private Sektor den Wiederaufbau vorantreiben soll. Die Rolle des Staates bei der sozialen Versorgung der Bevölkerung und bei der Förderung des Wachstums wird hingegen reduziert.

Das vorrangige Ziel der neuen Elite ist die Öffnung der Wirtschaft für ausländische Direktinvestitionen (ADI), vor allem aus westlichen Staaten, den Golfmonarchien und der Türkei. Bislang konzentrieren sich diese auf den Tourismus- und Immobiliensektor sowie auf Finanzdienstleistungen – also auf Bereiche, die kurzfristige Gewinne erzielen. Produktive Sektoren wie das verarbeitende Gewerbe und die Landwirtschaft sind vernachlässigt worden.

Zwischen Januar und Juli 2025 hat Damaskus zahlreiche Wirtschaftsabkommen und Absichtserklärungen mit ausländischen Unternehmen abgeschlossen. Insgesamt geht es um 28 Milliarden US-Dollar, wobei die meisten Partner Unternehmen aus der Golfregion sind. Viele dieser Projekte wurden bislang jedoch lediglich angekündigt.

Zur Rolle des Staates erklärte Finanzminister Muhammad Yasser Bernies Mitte Oktober, Syriens Ziel sei „ein kleinerer öffentlicher Sektor mit kleinerem Budget“. Niedergeschlagen hat sich diese Politik bereits in der massenhaften Entlassung von Angestellten im öffentlichen Dienst und in der Minderung oder Abschaffung von Subventionen für wichtige Produkte und Dienstleistungen.

Ein unfaires Steuersystem

Mitte Juli wurde Syriens neues Steuersystem vorgestellt, das Anfang 2026 in Kraft treten soll. Die Pläne sind ein weiteres Indiz für die Priorisierung von Investitionen großer ausländischer Unternehmen und vermögender Anleger. So sollen für alle Unternehmen einheitliche Körperschaftsteuersätze gelten, was die Möglichkeiten des Staates, seine Einnahmen zu erhöhen, einschränkt.

Der Privatsektor in Syrien besteht zu mehr als 95 Prozent aus kleinen und mittleren Unternehmen. Die meisten von ihnen brauchen Unterstützung, um sich zu modernisieren, Zugang zu Finanzierung zu bekommen und die Produktionskosten senken zu können.

Ein einheitlicher Steuersatz wird diese strukturellen Probleme nicht lösen können und ist grundsätzlich unfair: Ein großes Unternehmen, das enorme Gewinne erzielt, sollte nicht mit dem gleichen Steuersatz besteuert werden wie ein kleines Familienunternehmen mit bescheidenen Einnahmen. 

Stattdessen sollte das Steuersystem fair und progressiv gestaltet werden, um Vermögen umzuverteilen, sozio-ökonomische Ungleichheit zu reduzieren und soziale Reformen voranzutreiben. Die Regierung sollte außerdem Maßnahmen ergreifen, um kleine und mittelständische Unternehmen zu schützen und zu stärken.

Unerschwingliche Lebenskosten

Im Oktober entschied die Übergangsregierung zudem, die Stromsubventionen deutlich zu kürzen. Nach Angaben von Syria Report könnten sich die Stromkosten pro Haushalt um das 30- bis 60-fache erhöhen. In weiten Teilen der Gesellschaft löste dies heftige Kritik und sogar Proteste in mehreren Städten aus. 

Industrielle und Landwirte argumentieren, dass höhere Strompreise ihre Produktionskosten steigern und die lokale Produktion noch weiter belasten werden. Bereits durch die plötzliche Liberalisierung der Handelsbeziehungen seit Anfang des Jahres waren sie geschwächt worden. Die negative Handelsbilanz Syriens hat sich weiter verschlechtert, da Syrien zehnmal so viel importiert, wie es exportieren kann.

Die Regierung hat zwar die Löhne im öffentlichen Sektor im Juli um 200 Prozent erhöht und im November eine weitere Verdreifachung der Gehälter für Angestellte im Gesundheits- und Bildungssektor angekündigt. Trotzdem kann der Großteil der Bevölkerung – egal ob vom Staat oder im Privatsektor angestellt – die monatlichen Kosten nicht durch Löhne und Gehälter decken. Die Erhöhungen werden von den galoppierenden Preisen praktisch überholt.

Große Teile der Bevölkerung sind von Überweisungen von Verwandten aus dem Ausland abhängig. Schätzungen von Anfang 2025 zufolge belaufen sich diese auf vier Milliarden US-Dollar jährlich. Schätzungen der Zeitung Kassioun von Ende September 2025 zufolge liegen die Lebenskosten für eine fünfköpfige syrische Familie in Damaskus monatlich bei mindestens 7,1 Millionen syrischen Pfund (ungefähr 645 US-Dollar). 

Die Brüder des Präsidenten

Hinzu kommt, dass die neue Führungsriege in Syrien eine Reihe von Maßnahmen ergriffen hat, die die wirtschaftliche Macht in ihren eigenen Händen konzentriert. Reuters berichtete im Juli von einem Komitee unter der Leitung von Hazem al-Scharaa, dem Bruder des Übergangspräsidenten. 

Dieses habe die syrische Wirtschaft umgestaltet und verdeckt Unternehmen übernommen, die zuvor im Besitz von Geschäftsleuten mit Verbindung zum Assad-Regime waren. Laut der Recherche hatte das Komitee im Juli bereits Vermögenswerte von über 1,6 Milliarden US-Dollar unter seiner Kontrolle.

Hazem al-Scharaas Hauptaufgabe ist es, die Beziehungen zu lokalen Geschäftsleuten zu pflegen und weitere Syrer aus dem Ausland für Investitionen zu gewinnen. Ferner überwacht er die von Präsident al-Scharaa eingerichteten Wirtschaftsinstitutionen, den Investitions- sowie den Entwicklungsfonds.

Ein weiterer Bruder des Präsidenten, Maher, wurde als Generalsekretär des Präsidenten eingesetzt. In dieser Rolle ist er für die Präsidialverwaltung zuständig und agiert als Verbindungsstelle zwischen Präsident und Staatsorganen. Diese Aufgabenverteilung lässt Bedenken hinsichtlich der zunehmenden Machtkonzentration in den Händen von Ahmed al-Scharaa und seiner Familie aufkommen. 

Unterdessen nimmt die Vergabe staatlicher Aufträge an private Unternehmen zu, die mit Angehörigen der HTS-Miliz in Verbindung stehen, die einst von Al-Sharaa angeführt wurde. Privatunternehmen werden zunehmend in staatliche Institutionen integriert, wodurch die Grenze zwischen privatem und öffentlichem Sektor verschwimmt. 

Statt die Vermögenskonzentration und die sozioökonomische Ungleichheit in Syrien in Frage zu stellen, werden sie durch die Wirtschaftspolitik der Übergangsregierung verstärkt. Auch bestehen Korruptionsmuster und mangelnde Transparenz, die an das frühere Assad-Regime erinnern, weiter; sie wurden lediglich angepasst, um den neuen herrschenden Eliten zu nützen. 

 

Dieser Text ist eine bearbeitete und leicht gekürzte Übersetzung des englischen Originals. Übersetzung von Clara Taxis.

 

© Qantara.de