Welche Rolle spielt die Religion?
Die Ereignisse in Beslan haben Anfang September 2004 den Kaukasus ins Zentrum der medialen Aufmerksamkeit gerückt. Doch was vordergründig ein Konflikt der Religionen zu sein scheint, hat seine tatsächlichen Wurzeln im Kampf um Territorien. Eine Analyse von Gasan Gusejnov
Nach Meinung einiger Beobachter sowie nach Aussage des russischen Präsidenten Wladimir Putin könnte ein Konflikt zwischen Christen und Muslimen in der Region den gesamten Nordkaukasus "sprengen".
Nach dem Zerfall der UdSSR und nach der Gründung der drei unabhängigen südkaukasischen Staaten Armenien, Aserbaidschan und Georgien wurde der Nordkaukasus zu einer Grenzregion der Russischen Föderation.
Dies führte zu einer Anheizung der separatistischen Stimmung auf beiden Seiten sowie zur Wiederbelebung der latenten territorialen Konflikte zwischen den verschiedenen Völkern des Nordkaukasus.
Anfang der neunziger Jahre verlor Georgien die Kontrolle über seine an Russland grenzenden Gebiete. Dazu gehören das überwiegend von Christen besiedelte Südossetien und das größtenteils muslimische Abchasien. Gleichzeitig gab es im zur Russischen Föderation gehörenden Territorium des Nordkaukasus zwei Konflikte, die kaum miteinander in Beziehung standen.
Konflikte im Nordkaukasus
Der eine Konflikt entstand aus einem Antagonismus zwischen den Inguschen und der benachbarten Republik Nordossetien, der andere zwischen Tschetschenien und Moskau.
Die Inguschen forderten von der nordossetischen Regierung die Rückgabe ihrer Siedlungsgebiete und Häuser um die Hauptstadt Wladikavkas, aus denen sie nach der Deportation 1944- 1957 vertrieben worden waren. Die nordossetische Seite erfüllte diese Forderungen nicht, da hier seitdem mehrere tausend neue Einwohner lebten.
Es kam dadurch zu einer Flüchtlingswelle aus Nordossetien nach Inguschetien. Die Hoffnung, innerhalb der Russischen Föderation ihre Forderungen einfacher erreichen zu können, hat sich nicht erfüllt.
Gleichzeitig begann im Jahre 1991 der bewaffnete Konflikt zwischen der Russischen Föderation und Tschetschenien.
Bedeutung der Religion
Nordossetien ist die einzige überwiegend von Christen besiedelte Republik im Nordkaukasus. Aber der Konflikt zwischen den Inguschen und den Osseten trug nie religiösen Charakter. Es war immer ein Kampf für ein bestimmtes Territorium und für einen administrativen und politischen Status.
In der letzten Zeit wird aber immer häufiger der religiöse Aspekt als Hauptgrund für die Probleme im Kaukasus genannt – geht es um Konflikte zwischen Aserbaidschan und Armenien, um Bergkarabach oder um die Konflikte zwischen Georgien und den Separatisten in Abchasien und Adscharien.
Territoriale Gründe stehen im Vordergrund
Die Schwäche der "konfessionellen Version" wird dadurch deutlich, dass der islamische Iran die armenische Seite im Konflikt mit Aserbaidschan unterstützt hat und dass sich das christliche Georgien eher auf die Seite seines "islamischen" Nachbarn Aserbaidschan stellte.
Im Kampf für die Unabhängigkeit vom christlichen Georgien sind sowohl die Christen Südossetiens als auch die Muslime Abchasiens unversöhnlich.
Was für Außenstehende manchmal wie ein religiöser Konflikt aussehen mag, hat meistens nicht religiöse, sondern territoriale Gründe.
Der Islam im Nordkaukasus
Historisch gesehen verstärkte sich die Islamisierung des Nordkaukasus je stärker der Druck Russlands auf die Region wurde. Russland zielte darauf ab, das Territorium in ein schnell wachsendes kontinentales Imperium einzugliedern. Das gelang erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.
Ein großer Teil der muslimischen Bevölkerung des Nordkaukasus war gewaltsam in das Osmanische Reich umgesiedelt worden. Allerdings war der Islam in dieser Region bis zur Revolution 1917 nur sporadisch Verfolgungen ausgesetzt.
In der UdSSR (1922-1990) wurde die Ausübung jeglicher Religion verboten, wodurch die christliche Kirche im Nordkaukasus mehr geschwächt wurde als der Islam. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion machte die atheistische Ideologie Platz für die neue Allianz des russischen Staates und für die orthodoxe Kirche.
Erstarken des Islam
Für die muslimische Mehrheit der nordkaukasischen Bevölkerung gewann der Islam als Faktor zur politischen Mobilisierung gegen die neoimperialistischen Ambitionen Moskaus zunehmend an Bedeutung.
Je weniger Unterstützung die Unabhängigkeitskämpfer vom demokratischen Westen bekamen, desto stärker wurde die Autorität der Islamisten in der Region.
Die muslimische nordkaukasische (die sog. tscherkessische) Diaspora in der Türkei und in den arabischen Ländern, wurde ebenfalls in den Konflikt auf Seiten der tschetschenischen Separatisten involviert.
Bedeutung der Religion in Nordossetien
Die christliche Bevölkerung Nordossetiens, die seit dem 19. Jahrhundert eine Stütze für die russische Kolonisierung der Region war, befindet sich in einer schwierigen Situation. Unter dem atheistischen, sowjetischen Regime stand für sie die gesamtkaukasische Identität im Vordergrund.
Die religiöse Zugehörigkeit (die ossetische Bevölkerung besteht mehrheitlich aus Christen und einer muslimischen Minderheit) war nur ein Bestandteil dieser Identität. Aber im Zuge der Auseinandersetzungen der 90er Jahre und insbesondere nach den Ereignissen in Beslan beginnt der religiöse Faktor eine immer bedeutendere Rolle zu spielen.
Rückwirkend wird dadurch nicht nur die Vertreibung der Inguschen aus Nordossetien Anfang der 90er Jahre begründet, sondern es werden auch Anschuldigungen wiederholt, dass die Muslime im Nordkaukasus mit der deutschen Besatzung während des Zweiten Weltkriegs kollaborierten.
Unterschiedliche Positionen
Die religiöse Legitimierung der neuen Staatlichkeit im postsowjetischen Raum könnte wegen des aggressiven Proselitismus der Machthabenden gefährlich werden.
Aslan Maschadov, ein ehemaliger Offizier der Sowjetarmee und Präsident der Tschetschenischen Republik Itschkeria, positionierte sich innerhalb der kurzen Periode der Unabhängigkeit 1996- 1998 als Anhänger der Scharia. Der ehemalige sowjetische Offizier Vladimir Putin inszeniert sich selbst als orthodoxer Monarch.
Es ist dabei nicht klar, ob sich die Mehrheit der Tschetschenen mit dem militanten Islamismus der Partisanen überhaupt identifizieren kann. Die russisch-orthodoxe Kirche eignet sich ebenfalls nicht als ideelle Stütze für die Einheit des Vielvölkerstaates, welcher die multikonfessionelle Russische Föderation immer noch ist.
Potential konfessioneller Mobilisierung
Millionen von Muslimen leben im Zentrum Russlands, in den Wolga-Gebieten. Mit ihnen liegt der russische Staat nicht im Streit, stattdessen aber mit dem "christlichen", transkaukasichen Georgien.
Das zeigt, dass die konfessionellen Unterschiede nicht vollständig instrumentalisiert werden können, um die postkolonialen und territorialen Konflikte Russlands in seinem riesigen, südlichen Grenzareal zu legitimieren.
Allerdings ist das gesamte Potential der konfessionellen Mobilisierung noch längst nicht erschöpft.
Gasan Gusejnov
© Qantara.de 2004
Gasan Gusejnow arbeitet als Journalist für die russische Redaktion von DW-online.