Keine Heimat für Jesiden
Als die Bundesregierung vor einem Jahr die Angriffe des sogenannten Islamischen Staates auf irakische und syrische Jesiden im Jahr 2014 als Völkermord anerkannte, glaubten die 150.000 Jesiden, die sich seitdem in Deutschland niedergelassen hatten, endlich eine Heimat gefunden zu haben.
Doch diese Hoffnung zerschlug sich, als die in Berlin lebende Fehima Evdi Derwis und ihre Familie Ende vergangenen Jahres einen Abschiebebescheid erhielten. "Nachbarn beschimpften uns als Ungläubige und Satansanbeter“, sagte sie gegenüber Qantara.de. Nun fürchtet die 32-jährige Mutter von drei Kindern, in den Irak abgeschoben zu werden.
Die Beschimpfungen erinnern an den Terror, dem die Jesiden vor knapp einem Jahrzehnt ausgesetzt waren. Die Jesiden, deren Glaube Anleihen aus Christentum, Judentum, Islam und Zoroastrismus vereint, galten dem IS als “heidnische Satansanbeter”.
Als die Terrormiliz 2014 weite Teile Syriens und des Irak eroberte, wurden Jesiden systematisch ermordet. Tausende jesidische Frauen und Mädchen wurden verschleppt und vom IS als Sex-Sklavinnen gehalten.
Zwischen Angst und Ruinen: Die Lage der geflüchteten Jesiden
Schnell verflogene Großzügigkeit
Eine halbe Million Jesiden flohen aus ihrer angestammten Heimat. Hunderttausende kamen nach Europa. Fehima und ihrem Mann fehlten die nötigen Mittel, um die beschwerliche Reise anzutreten. Vier Jahre lang lebten sie in einem Flüchtlingslager im Irak, wo sie keine Arbeit fanden.
2018 schafften sie es endlich nach Deutschland. Die Großzügigkeit und Offenheit, die die Bundesregierung dazu veranlasst hatte, eine Million Asylsuchende aufzunehmen, war inzwischen weitgehend verflogen.
Seitdem hat sich die Lage durch eine deutliche Veränderung der politischen Landschaft weiter verschlechtert. Die öffentliche Stimmung wendet sich zunehmend gegen Migranten. Die Zustimmung zur in Teilen rechtsextremen Alternative für Deutschland (AfD) liegt derzeit bei rund 20 Prozent.
Im November kündigte Bundeskanzler Olaf Scholz an, abgelehnte Asylbewerber verstärkt abschieben zu wollen. Kurz darauf wurde durch eine Recherche von NDR, WDR und Süddeutscher Zeitung eine geheime Absichtserklärung zwischen Deutschland und dem Irak öffentlich. Beide Seiten haben danach "die Rückübernahme von Staatsangehörigen, die nicht oder nicht mehr die Voraussetzungen für die Einreise, die Anwesenheit oder den Aufenthalt im jeweiligen Hoheitsgebiet erfüllen“ vereinbart.
Abschiebung bedeutet Re-Traumatisierung
Bis zu 10.000 Jesiden seien mittlerweile von der Abschiebung in den Irak bedroht, so der Migrationsexperte Karim Alwasiti vom Flüchtlingsrat Niedersachsen e.V. Die meisten von ihnen sind nach 2017 nach Deutschland gekommen. Damals wurde beschlossen, ihnen drohe nach der Zerschlagung des IS im Irak keine Verfolgung mehr. Sie erhielten in Deutschland kein Asyl, sondern einen Status als Geduldete.
"Diese Menschen haben den Völkermord überlebt. Jetzt steht ihre Existenz erneut auf dem Spiel“, sagt Düzen Tekkal, Gründerin von HÁWAR.help, e.V., einem gemeinnützigen Verein für humanitäre Hilfe. "Für viele bedeutet die Abschiebung in den Irak eine Re-Traumatisierung.“
Noch immer sind in der Autonomen Region Kurdistan im Irak rund 200.000 Jesiden auf der Flucht, die meisten leben in unzureichend ausgestatteten Lagern. Strom und Wasser sind knapp, ebenso medizinische Versorgung und psychologische Betreuung.
"Frauen sind in den Lagern in besonderer Weise der Gefahr von geschlechtsspezifischer Gewalt ausgesetzt, vor allem sexuellen Übergriffen, häuslicher Gewalt und Zwangsehen“, sagt Aya Jalal, Projektkoordinatorin bei Jinda, einer in Dohuk ansässigen NGO, die Frauen und Mädchen unterstützt. Die Angst vor solchen Übergriffen kann Menschen, die schon so viel erlebt haben, psychisch stark belasten.“
Die meisten Bewohner der Lager stammen aus der zerstörten Region Sindschar. In ihre Heimat können oder wollen sie nicht zurück. Massengräber, zerstörte Häuser und überall versteckte Minen erinnern an die Verwüstungen, die der IS hinterlassen hat. Seit der Islamische Staat 2015 zurückgedrängt wurde, sind zudem andere militante Gruppen wie die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) – häufiges Ziel türkischer Luftangriffe – und die vom Iran unterstützten Al-Haschd asch-Schaʿbī (Volksmobilmachungskräfte) in die Region vorgedrungen.
Aufbruch nach der Tragödie
Versklavt oder ermordet: Als Opfer des IS-Terrors gerieten die Jesiden weltweit in den Fokus. Nach der Trauma-Erfahrung öffnete sich die traditionell konservative Gemeinschaft, davon profitieren insbesondere die Frauen.
Ein im Jahr 2020 zwischen dem Irak und der Autonomen Region Kurdistan unterzeichnetes Abkommen, das den Rückzug bewaffneter Gruppen und den Aufbau einer 2.500 Mann starken Sicherheitstruppe in Sindschar vorsieht, wurde bisher nicht umgesetzt. "Viele Familien, die nach Sindschar zurückgekehrt waren, leben jetzt wieder in Lagern, weil die Region nach wie vor unsicher und instabil ist“, sagt Aya Jalal.
Das Asylrecht als Lotterie
Das lotterieartige deutsche Asylsystem erlaubt es jedem Bundesland, selbst über Abschiebungen zu entscheiden. So haben Nordrhein-Westfalen und Thüringen die Abschiebung von jesidischen Frauen und Kindern bis April 2024 untersagt, während jesidische Männer weiterhin abgeschoben werden können.
Berlin, das Bundesland, in dem Fehima mit ihrer Familie lebt, hat einen befristeten Abschiebestopp erlassen, der in diesem Monat ausläuft. Wie es danach weitergeht, ist noch unklar.
Andere Bundesländer fahren einen härteren Kurs. Im von einer Koalition aus CSU und Freien Wählern regierten Bayern wurde kürzlich ein jesidisches Ehepaar mit zwei kleinen Kindern in den Irak abgeschoben. Die beiden älteren Töchter der Familie, die eine Ausbildung zur Krankenpflegehelferin machen, durften vorerst in Deutschland bleiben. Da sie nur geduldet werden, haben sie Angst, in den Irak zurückkehren zu müssen.
Seit Herbst letzten Jahres gibt es immer mehr Flüge mit Abschiebungen in den Irak. Ohne einen bundesweiten Abschiebestopp müssen die Jesiden in Deutschland in ständiger Angst leben, erneut zwischen die Fronten zu geraten. "Im Irak gibt es keine Zukunft für Jesiden und keine Zukunft für unsere Kinder“, sagt Fehima und wiegt ihr einjähriges Kind in den Armen. "Lieber sterbe ich in Deutschland, als in den Irak zurückzukehren.“
Hannah Wallace
Aus dem Englischen übersetzt von Gaby Lammers.
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