Die tiefen Spuren des IS-Terrors

Seit Jahrtausenden lebten die Jesiden im nordirakischen Sindschar, bis 2014 der IS das Gebiet überfiel und einen Genozid verübte. Die Spuren der Verbrechen finden sich bis heute. Eine Reportage von Birgit Svensson aus Sindschar 
Seit Jahrtausenden lebten die Jesiden im nordirakischen Sindschar, bis 2014 der IS das Gebiet überfiel und einen Genozid verübte. Die Spuren der Verbrechen finden sich bis heute. Eine Reportage von Birgit Svensson aus Sindschar 

Seit Jahrtausenden lebten die Jesiden im nordirakischen Sindschar, bis 2014 der IS das Gebiet überfiel und einen Genozid verübte. Die Spuren der Verbrechen finden sich bis heute. Eine Reportage von Birgit Svensson aus Sindschar 

Von Birgit Svensson

Wenn Mirza Dinnayi von den Jesidinnen Sindschars spricht, dann nennt der sie "Töchter der Sonne“. Sie hätten so vieles erdulden müssen, seien brutal von den Schurken des Islamischen Staates (IS) gepeinigt worden. Auf dem extra für Jesidinnen eingerichteten Sklavenmarkt in Mossul habe man sie verkauft wie Vieh, weiß Dinnayi. Noch immer würden etwa 3.000 Frauen vermisst und man wüsste nicht, wo sie sind. "Es gibt keine Familie hier, die nicht Mitglieder verloren hat.“ Viele seien ermordet worden.



Dinnayi hat 2020 das Begegnungszentrum HOC in Sinun gebaut, einer der elf Gemeinden in der Region Sindschar. Er hat den Frauen einen Brunnen gewidmet, "für die Töchter der Sonne“, steht auf einer Gedenktafel. "Die Sonne ist wichtig für uns Jesiden, sie bestimmt unseren Alltag und unsere Kultur.“ Dadurch ist für Jesiden eigentlich am Mittwoch Feiertag, da Gott in der Genesis die Sonne an einem Mittwoch erschaffen hat. "Der Mittwoch ist uns heilig.“ 

Ein Sturm fegt mit gewaltiger Kraft über Sindschar hinweg. Der noch junge Olivenbaum, den die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock bei ihrem Besuch im März im Garten des HOC (House of CO-Existence) pflanzte, hat Not ihm standzuhalten. Einige Pflanzen, die noch keine Wurzeln schlagen konnten, werden jäh aus dem trockenen Boden gerissen.

Mirza Dinnayi im Kulturzentrum HOC; Foto: Birgit Svensson
Der Schriftsteller und Experte für die Belange der Jesiden Mirza Dinnayi: Er ist als Berater der kurdischen Autonomiebehörde für die zwischen Bagdad und Erbil umstrittenen Gebiete angestellt, arbeitet drei Tage in Erbil und verbringt den Rest der Woche in Sindschar. Doch auch Mirza Dinnayi teilt die Skepsis vieler Jesidinnen und Jesiden gegenüber den Kurden. Die kurdische Regionalregierung wolle ihren Einfluss ausweiten und sich die Region Sindschar, die zu den sogenannten zwischen Bagdad und Erbil umstrittenen Gebieten Iraks zählt, einverleiben, meint Dinnayi.



Auch hier, wie überall im Irak, fehlt es an Wasser. "Es war noch dunkel, als der IS über uns herfiel“, erzählt die Jesidin Dalia im HOC über den Horror am 3. August 2014. "Sie kamen vom benachbarten Tal Afar.“ In den Gemeinden, die im Süden Sindschars liegen, richteten die Dschihadisten sofort ein Gemetzel an. Nur wenige konnten fliehen. Die meisten wurden getötet, in Massengräbern verscharrt oder verschleppt. Sinun hatte Glück im Unglück.

PKK-Kämpfer, die im Ort wohnen, hätten die Leute gewarnt, sie sollten schnell fliehen, alles liegen und stehen lassen. "Nichts wie weg.“ Von der PKK begleitet, kamen Dalia und ihre Familie in die sicheren Kurdengebiete nach Dohuk. "Sie haben uns das Leben gerettet“, sagt sie heute.



Die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) ist eine kurdische Untergrundorganisation, die sich militanter Methoden bedient und von der Türkei, der EU und auch den USA als Terrororganisation gelistet wird. Ihren Ursprung hat sie in den kurdischen Siedlungsgebieten innerhalb der Türkei. Der türkische Präsident Erdogan bekämpft sie mit eiserner Härte und lässt die türkische Armee immer wieder ihre Stellungen, auch im Irak, bombardieren. 

Fährt man durch die Straßen Sinuns, fallen einem immer wieder Poster von getöteten PKK-Kämpferinnen und Kämpfern auf. Den Unterschied zwischen der PKK und deren Schwesterpartei YPG, wie die Amerikaner ihre Verbündeten im Kampf gegen den IS nennen, macht hier niemand. Die Leute im Sindschar sprechen nur von der PKK. Sindschar ist ein weitläufiger Distrikt: 65 Kilometer lang, 40 Kilometer breit. Dazwischen liegen die Berge, wohin viele, sehr viele damals geflohen sind.

Ein Mädchen sucht nach Nägeln und Schrauben in einer Hauswand in Sindschar; Foto: Birgit Svensson
Sindschar City, eine Geisterstadt: In Sindschar City sieht es aus, als ob der Krieg gegen den IS gestern erst zu Ende gegangen ist und nicht schon vor acht Jahren. Die Innenstadt liegt nach wie vor in Schutt und Asche. Die Stadt ist menschenleer. Ein kleines Mädchen macht sich an der einzigen noch stehenden Wand eines zerstörten Hauses zu schaffen, um Nägel und Eisenhaken herauszuholen, da man diese als Rohstoffe zu Geld machen könne. Sie schaut mit leeren Augen und verstörtem Blick; den psychischen Zustand des Kindes kann man erahnen.



Sinun liegt neun Kilometer von der syrischen Grenze entfernt. Als die Dschihadisten die Kleinstadt unter ihre Kontrolle brachten, war sie leer, die Bewohner waren alle geflohen. Der IS wurde 2016 aus der Stadt und der gesamten Region Sindschar vertrieben. Trotzdem sind nur wenige Einwohner zurückgekehrt. Mirza Dinnayi spricht von einem Drittel insgesamt. Vor allem Frauen sieht man kaum. Viele sind nach Deutschland geflüchtet, nach Baden-Württemberg etwa, das großzügig Jesidinnen aufnahm, um sie mit ihren Traumata nicht alleine zu lassen.

Viele leben noch in den Camps in Irak-Kurdistan, wo sie vor gut acht Jahren Zuflucht fanden. 40.000 Jesidinnen und Jesiden sollen es dort noch sein, sagt die kurdische Regionalregierung in Erbil. Doch plötzlich geht die Tür zum HOC auf und herein kommen zwei Hochzeitspaare. Das passiere ständig, sagt Dinnayi. "Sie wollen sich auf unserer Treppe fotografieren lassen.“ Es gäbe sonst kein gutes Motiv für Hochzeitsfotos in Sinun.  

Gut 20 Minuten dauert es, bis man von Sinun in den Bergen des Dschabel Sindschar ankommt. Eine atemberaubende Landschaft tut sich vor dem Auge des Betrachters auf. Doch hier spielte sich im Hochsommer vor neun Jahren eine der größten Tragödien ab, die die jesidische Religionsgemeinschaft je ertragen musste. Wochenlang harrten die Menschen in den Bergen aus, in der prallen Hitze, ohne Wasser, Nahrung oder Zelte. "Es war die Hölle“, sagt Mazen, der Fahrer, der sieben Wochen im Dschabel Sindschar zubrachte: "Unten stand der IS, immer auf der Lauer, oben waren wir, zitternd vor Angst.“



Mirza Dinnayi zeigt die Stelle, an der einer der Hubschrauber mit Hilfsgütern abstürzte. Er hatte Wasser und Nahrungsmittel für die Menschen an Bord und die Geflüchteten stürmten ihn, um gerettet zu werden. "Wir waren hoffnungslos überladen“, gibt der 50-Jährige als Grund für den Absturz an. Dinnayi war damals mit an Bord.

Gedenktafel für ermordete Jesidinnen "Daughters of the Sun"; Foto: Birgit Svensson
Gedenktafel für ermordete Jesidinnen: Wenn Mirza Dinnayi von den Jesidinnen Sindschars spricht, dann nennt er sie "Töchter der Sonne“. Sie hätten so vieles erdulden müssen, seien brutal von den Schurken des Islamischen Staates (IS) gepeinigt worden. Auf dem extra für Jesidinnen eingerichteten Sklavenmarkt im Mossul habe man sie verkauft wie Vieh, weiß Dinnayi. Er hat 2020 das Begegnungszentrum HOC in Sinun gebaut, einer der elf Gemeinden in der Region Sindschar und den Frauen einen Brunnen gewidmet, "für die Töchter der Sonne“, steht auf einer Gedenktafel. "Die Sonne ist wichtig für uns Jesiden, sie bestimmt unseren Alltag und unsere Kultur.“



Die irakische Regierung in Bagdad hatte drei Hubschrauber zur Verfügung gestellt, Dinnayi organisierte die Versorgungsflüge. "Wie ein Film lief mein Leben vor meinen Augen ab“, reflektiert er den Moment des Absturzes. Mit gebrochenen Beinen wachte er in der Kurdenmetropole Erbil im Krankenhaus auf. "Ich lebe ja noch“, war seine Reaktion. 

Khodeeda Hammo empfängt in einem Steinhaus in den Bergen. "Horaka jesidija“ heißt die jesidische "Bewegung für Fortschritt und Reformen", deren Vorsitzender er ist, eine von vier jesidischen Parteien. Zwei Amtsperioden lang saß Khodeeda im Rat der Provinz Nineve, zu der Sindschar gehört und der in Mossul tagt.



Nun wartet der Politiker auf die nächsten Provinzwahlen, die eigentlich schon letztes Jahr hätten stattfinden sollen, aber wegen politischer Unruhen, vor allem in Bagdad, verschoben wurden. Es ist das erste Mal, dass die Jesiden im Irak politische Mitsprache erhielten. In der Verfassung des Irak, die 2005 nach dem Sturz Saddam Husseins verabschiedet wurde, ist der Minderheitenschutz verankert.

Neben den Abgeordneten im Provinzrat stehen den Jesiden auch Sitze im Parlament in Bagdad zu. "Jetzt wollen wir eine jesidische Selbstverwaltung. Wir wollen unsere Zukunft selbst bestimmen, unser Schicksal in die eigene Hand nehmen.“ Der Hauptgrund, warum so wenige Jesiden nach Sindschar zurückgekehrt seien, behauptet Khodeeda, "sind die unsicheren politischen Verhältnisse“.



Viele wollten diesen Knotenpunkt der Handelswege zwischen Irak und Syrien kontrollieren: die vom Iran dominierten Milizen der Volksmobilisierungsfront Hashd al Shabi, die PKK, die Zentralregierung in Bagdad und die kurdische Autonomieregierung in Erbil. Vor allem auf die kurdischen Sicherheitskräfte sind die Menschen in Sindschar sauer. Sie hätten sich aus dem Staub gemacht, als der IS kam, so ist allenthalben zu hören. Die Peschmerga seien zwar maßgeblich beteiligt gewesen, Sindschar vom IS zu befreien, räumt man ein, aber es hätte gar nicht zu diesem Wahnsinn kommen dürfen.

 



 

"Die Kurden spalten uns“, sagt Khodeeda Hammo, "sie tun alles, damit Sindschar unter ihre Kontrolle gerät“. Das wollen Hammo und seine Partei nicht zulassen. Auch Mirza Dinnayi gibt zu, dass die kurdische Regionalregierung ihren Einfluss ausweiten und sich die Region Sindschar, die zu den sogenannten zwischen Bagdad und Erbil umstrittenen Gebieten Iraks zählt, einverleiben möchte. Er selbst ist als Berater der kurdischen Autonomiebehörde für die umstrittenen Gebiete angestellt, arbeitet drei Tage in Erbil und verbringt den Rest der Woche in Sindschar. Für sein Engagement hat Dinnayi 2019 den Aurora-Preis zur Förderung der Menschlichkeit bekommen.

Doch gegenüber den Kurden bleibt er skeptisch. Das habe System, meint er, "sie kaufen die Jesiden.“ Er habe aber genug Distanz und wisse, dass die Einwohner Sindschars eher zu Bagdad tendierten, als zu Erbil und niemals eine Dominanz der Kurden akzeptieren werden.

Wie sehr die politische Unsicherheit die Entwicklung Sindschars behindert, sieht man deutlich in der Stadt, die der Region den Namen gibt. In Sindschar City sieht es aus, als ob der Krieg gegen den IS gestern erst zu Ende gegangen ist und nicht schon vor acht Jahren. Die Innenstadt liegt nach wie vor in Schutt und Asche. Ein Bild der kompletten Zerstörung bietet sich der Besucherin, selbst die Trümmer der Gebäude liegen noch unberührt herum. Die Stadt ist menschenleer.

Lediglich ein kleines Mädchen und ein kleiner Junge machen sich an der einzigen noch stehenden Wand eines zerstörten Hauses zu schaffen, um Nägel und Eisenhaken herauszulösen, da man diese als Rohstoffe zu Geld machen könne. Ansonsten wollen die beiden Kleinen keine Auskunft geben. Sie schauen mit leeren Augen und verstörten Blicken; den psychischen Zustand der Kinder kann man erahnen.



Die irakische Regierung hat kürzlich ein Dekret erlassen, wonach die Jesiden künftig Grund und Boden und Immobilien erwerben dürfen, was ihnen seit 1975 untersagt war. Die UN-Organisation Habitat ist gerade dabei, Häuser und Familien im Sindschar zu registrieren. Danach können Anträge auf Eigentumserwerb gestellt werden. Mit dieser Maßnahme will die Regierung in Bagdad einen Anreiz schaffen, damit die Jesiden in ihr Stammgebiet zurückkehren.   

Birgit Svensson



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