Kontinuität und Bruch
Die Vielzahl der auf der Frankfurter Buchmesse präsentierten Literatur zeigt auch die Widersprüche der modernen türkischen Gesellschaft auf. Ömer Erzeren mit einem Essay über türkische Literatur und Kulturproduktion zwischen Kemalismus und religiös-konservativer AKP
"Faszinierend farbig" heißt das Motto unter dem sich das Gastland Türkei auf der Frankfurter Buchmesse präsentiert. Doch bereits ein flüchtiger Blick auf die intellektuelle Szene des Landes offenbart, dass wir nicht mit der Faszination eines Regenbogens konfrontiert sind, sondern mit Intellektuellen, die die in unversöhnliche Lager gespalten sind.
Das Verhältnis zum politischen Islam, zur regierenden AKP und zum Kemalismus ist heute Gegenstand erbitterter Debatten im Geistesleben der modernen Türkei. Es ist die Debatte um türkische Identität. Vergangenheitsbewältigung und Projektion in die Zukunft.
Woher kommen wir? Wohin gehen wir?
Der Kemalismus, benannt nach Kemal Atatürk, dem Gründer der türkischen Republik, ist bis heute nicht nur Staatsdoktrin, sondern war auch der Nährboden für die literarische Produktion in den Jahrzehnten nach Gründung der Republik im Jahre 1923.
Die Intellektuellen waren Teil der politischen Elite, die das ehrgeizige Projekt anging, auf den Trümmern des Osmanischen Reiches einen modernen Nationalstaat zu konstruieren. Die Türkei orientierte sich gen Westen.
Die bürgerlichen Revolutionen Europas waren Vorbild. Der Laizismus, die Trennung staatlicher Angelegenheiten von der Religion, gehörte zum wichtigen Instrumentarium der Staatsgründer. Der Nationalismus sollte wider die Religion für die Bürger Identität stiften.
Kulturelle Neuorientierung unter staatlichem Zwang
Aufklärung wurde von oben verordnet – eine kulturelle Neuorientierung unter staatlichem Zwang. Die Einführung des lateinischen Alphabets war ein gewaltiger Bruch im Kulturleben des Landes, das mit einem Schlag der jüngeren Generation den Zugang zu alten Büchern versperrte.
Die Liste von 496 Titeln aus Philosophie und Literatur, die das türkische Kultusministerium in den vierziger Jahren übersetzen ließ und veröffentlichte, ist beeindruckend. Sie umfasst Shakespeare, Baudelaire, Goethe, Flaubert, Rimbaud, Tolstoi, Dostojewski, Tschechov ebenso wie Rousseau, Plato, Galileo und Kierkegaard.
Der Kemalismus als politisches System hat sich überlebt. Regiert wird die Türkei heute von Männern, die in Bewegungen des politischen Islam groß geworden sind. Die Institutionen, die sich immer noch als Speerspitze des Kemalismus begreifen – allen voran das Militär – haben herbe Niederlagen einstecken müssen.
Auch der verzweifelte Versuch, die Regierungspartei durch das Verfassungsgericht verbieten zu lassen, scheiterte. Den Kemalisten wird Stück für Stück die politische Macht entrissen und die ideologische Dominanz des Kemalismus ist längst angeschlagen.
Interessant ist der kulturelle Niederschlag dieser Entwicklung. Er lässt sich am Besten in den politischen Kolumnen der Tageszeitungen im letzten Jahrzehnt ablesen.
Neue Lesart des Kemalismus
Viele Intellektuelle haben eine neue Lesart des Kemalismus entwickelt. Ein Novum ist dabei die Tageszeitung "Taraf", die vom türkischen Schriftsteller Ahmet Altan gegründet wurde und tagtäglich mit dem Kemalismus abrechnet.
Viele Kolumnisten sehen heute im Liberalismus ihre politische Heimat. Der repressive kemalistische Staat und seine totalitären Züge werden tagtäglich vorgeführt. Die AKP als politische Partei dagegen wird als Ausdruck der zivilen Gesellschaft begriffen, die sich der Gängelung durch die alten Eliten erwehrt.
So sind es Liberale die heute den Hauptwiderspruch zwischen europafeindlichen, autoritären Laizisten und europafreundlichen, muslimischen Demokraten ausmachen.
Zu Ersteren zählen Armee, Justiz und die Oppositionsparteien, Letztere nehmen in der AKP Gestalt an. Trotz ihres konservativen Charakters ist die AKP Motor der Demokratisierung des Landes. Auch viele europäische Politiker und Journalisten haben sich diese Lesart zu eigen gemacht.
AKP und Kultur
Dabei lohnt sich ein Blick auf das Verhältnis von AKP und Kultur. Nicht so sehr die Außenrepräsentation - wie auf der Frankfurter Buchmesse - sollte man im Auge haben, sondern den Alltag.
Die berühmte Schriftstellerin Latife Tekin war im Juni zu einem Kulturfestival in der Stadt Karabük eingeladen. Sie kritisierte in ihrer Rede die Energiepolitik der Regierung, die den Bau von Atomkraftwerken vorantreibt.
Dies sei "niederträchtig", so der dortige AKP-Bürgermeister. Er schritt ans Rednerpult, entriss ihr das Mikrofon und stieß Verleumdungen und Drohungen gegen sie aus. Tekin musste die Stadt verlassen.
Ähnlich erging es den Filmemachern Aydın Kudu und Rüya Arzu Köksal, die in Inebolu ihren Dokumentarfilm über die ökologischen Folgen des Autobahnbaus entlang der Schwarzmeerküste aufführten. Der Bürgermeister persönlich brach die Aufführung ab und beschimpfte die Filmemacher.
Die Vorfälle in Karabük und Inebolu sind keine Einzelfälle durchgeknallter Provinzfürsten, sondern reflektieren den Gemütszustand vieler AKP Funktionäre. Intoleranz und die Verneinung des Rechts, anders zu Denken, sind durchaus mit ihrem religiös-reaktionären Weltbild zu vereinbaren.
Staatlich verordnete Identität unter anderen Vorzeichen
Die Kemalisten verordneten dem Volk eine neue Kleiderordnung und verbannten Wörter arabischen und persischen Ursprungs aus dem Türkischen. Mit dieser Tradition staatlicher Intervention, nur unter anderen Vorzeichen, kann sich heute Ministerpräsident Erdogan anfreunden.
Es ist höchst aufschlussreich, wo er die kulturelle Erosion ausmachte: bei all denjenigen Bürgern, die vom "Zuckerfest" im Anschluss an den Ramadan sprechen. Richtig heiße es Ramadan-Fest. Doch die Bezeichnung Zuckerfest ist schon seit dem Osmanischen Reich gebräuchlich.
Erdogan dachte fälschlicherweise der Begriff Zuckerfest sei eine Erfindung religionsfeindlicher Kräfte. Wieder versucht der Staat die Sprache der Bürger zu besetzen - diesmal unter islamischen Vorzeichen.
Die AKP hat sich wirtschaftspolitisch dem Neoliberalismus verschrieben. Unter ihrer Regierung wird privatisiert wie nie zuvor in der türkischen Geschichte. In Zeiten, wo staatliche Regulierung als das kommunistische Böse verdammt ist und die Regierung 1.-Mai-Demonstrationen der Gewerkschaften niederknüppeln lässt, versucht sich der Staat in der Enteignung der Sprache und Kultur der Menschen.
Doch das Projekt staatlich verordneter Identität ist schon bei den Kemalisten gescheitert. Und nichts spricht dafür, dass eine eklektische politische Bewegung, die religiösen Konservativismus mit neoliberaler Wirtschaftspolitik verbindet, Identität stiften könnte.
So stehen stürmische Zeiten bevor. Wir ahnen es, wenn wir die Motive und Themen moderner türkischer Literatur betrachten. Die Frankfurter Buchmesse, mit vielen Übersetzungen aus dem Türkischen, bietet die Gelegenheit in die Widersprüche der türkischen Gesellschaft einzutauchen.
Ömer Erzeren
© Qantara.de 2008
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