Die Scharia – Schreckgespenst oder Heilsgarantie?
Im Koran bedeutet der Begriff Scharia so viel wie „der (von Gott) gebahnte Weg“, „Weg zur Quelle“. Der Fachbegriff „Scharia“ umfasst die gesamte islamische Normenlehre. Diese hat sich über 1.400 Jahre hinweg entwickelt – in vielfältigen Schriften von Gelehrten und Institutionen, zunehmend auch in Form staatlicher Regelungen.
Zur Scharia zählen Bestimmungen über grundlegende Glaubensinhalte und Religionspraxis, zum Beispiel Gebetsrituale, Speise- und Kleidungsvorschriften, wie auch Rechtsvorschriften. Sie umfasst Aspekte der Religionsethik – etwa zum Umgang mit Bedürftigen und der Schöpfung. Kernelement der Scharia ist ein sehr komplexes, anspruchsvolles und auch flexibles System von Methoden der Normenfindung und Normeninterpretation.
Mit der konfessionellen Spaltung zwischen Sunniten und Schiiten, aber auch innerhalb der Konfessionen hat sich eine Vielfalt von Schulen gebildet, die sich in ihrem Verständnis der Scharia erheblich unterscheiden. Das schafft einerseits Unsicherheit, ermöglicht andererseits aber auch Meinungsvielfalt. In guter Tradition bescheiden sich Gelehrte damit, nach Möglichkeit die richtige Erkenntnis zu gewinnen, ohne einen Exklusivitätsanspruch damit zu verbinden. Das heißt, man erkennt sich gegenseitig an.
Der Anspruch von Extremisten aller Art in Vergangenheit und Gegenwart, alleinig die göttliche Wahrheit erkannt zu haben, zeugt von geringer Bildung und maßloser Selbstüberschätzung. Oft genug instrumentalisieren Extremisten die Scharia für sehr vordergründige politische Zwecke. Prominente Beispiele finden sich in den gegenwärtigen Religionsdiktaturen Iran und Saudi-Arabien.
Kampf um Deutungshoheit auf Islamische Rechtsauslegung
Auch die Scharia unterscheidet zwischen Religion (jenseitsbezogenes Verhältnis Gott-Mensch) und Recht (diesseitsbezogene Regeln menschlichen Zusammenlebens). Die religiösen Anteile der Scharia werden häufig als unveränderlich angesehen, bedürfen aber auch der Interpretation. Wenn z. B. die im Koran sehr vage formulierten Bekleidungsregeln für Frauen als Schutzvorschriften gegen Übergriffe gedeutet werden, wird heute diskutiert, ob ein derartiger Schutz durch Kleidungsstücke oder aber auch durch Bildung und selbstbewusstes Auftreten gewährleistet werden kann.
Die rechtlichen Bestimmungen gelten ohnehin als veränderlich – je nach Zeit, Ort und betroffenen Personen. Bestimmte Bereiche, wie das Vertrags-, Ehe-, Familien- und Erbrecht, wurden vergleichsweise detailliert geregelt, mit vielfältigen Auslegungen. Andere, wie das Staatsrecht oder das Strafrecht, blieben sehr vage.
Seit dem 19. Jahrhundert werden die Rechtsanteile der Scharia weitgehend in Gesetze umgeformt, die von neuen staatlichen Institutionen umgesetzt werden. Dabei hatte die koloniale Unterwerfung vieler muslimisch geprägter Länder massive Auswirkungen. Die drakonischen Körperstrafen wurden vielerorts ohne größere Auseinandersetzungen abgeschafft. Andererseits wurden von Kolonialmächten erstmals Strafvorschriften für gleichgeschlechtliche Beziehungen eingeführt – so viel zum Thema zivilisatorische Mission Europas. Die interne Weiterentwicklung der Scharia wurde durch ignorante Fremdherrschaft behindert. Reformer werden seither als Kollaborateure des Westens diffamiert.
Dennoch gab es im 20. Jahrhundert in vielen muslimisch geprägten Ländern umfangreiche Reformen, insbesondere zugunsten von Frauenrechten, zur Verbesserung der Stellung religiöser Minderheiten und zur Anpassung an wirtschaftliche und soziale Veränderungen.
Auf islamischer Basis Menschenrechte verteidigen
Die Bandbreite möglicher Interpretationen zeigt sich z. B. daran, dass Tunesien polygame Eheschließungen unter Strafe stellt, während Polygamie in anderen Staaten noch (teilweise sehr eingeschränkt) zulässig ist– beides argumentativ gestützt auf die Scharia.
Die Abschaffung des Kalifats wurde von vielen als Befreiungsschlag gesehen. Demokratie gilt vielen als adäquate Herrschaftsform der Gegenwart auch im Sinne des Islam. So fällt beispielsweise das Bekenntnis der muslimischen Deutschen zur Demokratie und zur Funktionsfähigkeit des demokratischen Systems interessanterweise deutlich stärker aus als das der deutschen Gesamtbevölkerung. Gleichzeitig schätzt sich im Vergleich zur Gesamtbevölkerung ein größerer Teil von deutschen Muslimen als religiös ein.
Seit einigen Jahrzehnten zeigen sich jedoch auch gegenläufige Entwicklungen. Mit dem Aufstieg des extrem intoleranten saudi-arabischen Wahhabismus und der iranischen Revolution seit den 1970er Jahren pflegen Extremisten weltweit ein repressives Verständnis der Scharia. Reformen wurden zurückgenommen, das traditionelle, patriarchalisch geformte Familien- und Erbrecht als Identitätsmarker gegen eine angebliche Verwestlichung benutzt. Nicht-Muslime und andere Muslime, wie Mystiker oder Säkulare, werden diffamiert. Vor allem aber werden Frauenrechte beschnitten.
Mancherorts haben sich unheilige Allianzen zwischen Extremisten und Traditionalisten gebildet. Das liegt auch daran, dass ein Studium des islamischen Rechts oft als wenig attraktiv gilt, sodass häufig traditionalistische Vertreter mit überschaubarem intellektuellem Horizont in Schlüsselpositionen gelangen. Zudem mischen sich oft Islam und regionale Gewohnheitsrechte. Das Terrorregime der Taliban stützt sich einerseits auf krude Mischungen paschtunischen Gewohnheitsrechts, das Frauen extrem entrechtet, und andererseits auf intellektuell anspruchslose traditionalistische Interpretationen der Scharia. Letztlich geht es um repressive Machtausübung.
Nach alledem ist die Scharia weder Schreckgespenst noch Heilsgarantie. Sie nimmt zwar Bezug auf göttlich gesetzte Normen; diese sind jedoch in einem Maße interpretationsfähig und interpretationsbedürftig, dass es sich letztlich doch um schlichtes Menschenwerk handelt.
Je nach Vorverständnis der Interpretinnen und Interpreten kann die Scharia eine religiös-ethische Leitlinie und ein Normensystem sein, das mit heutigen Menschenrechtskonzepten in Übereinstimmung steht – oder aber das genaue Gegenteil. Es kommt also maßgeblich auf die Menschen und ihre Einstellungen an. Im Gegensatz zu vielen repressiven Staaten mit muslimischer Bevölkerungsmehrheit kann in Europa frei und losgelöst von politischen Machtansprüchen diskutiert werden.
Gerade unter Muslimen im „Westen“ wird diskutiert, was die Scharia für sie konkret bedeutet. Manche versuchen, im Rahmen der geltenden Gesetze ihrer Länder an traditionellen Normen festzuhalten. Andere deuten die Scharia als eine ethische Leitlinie ohne rechtlichen Geltungsanspruch; man diskutiert „Öko-Islam“ und „Bildungs-Dschihad“ und in Deutschland entsteht ein anspruchsvolles islamisches Bildungswesen. Von den hiesigen Entwicklungen können daher auch Impulse in andere Weltregionen ausgehen.
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Prof. Dr. Dr. h.c. Mathias Rohe, Studium der Rechts- und islamwissenschaften in Tübingen und Damaskus, Lehrstuhlinhaber an der FAU Erlangen-Nürnberg und dort Gründungsdirektor des Erlanger Zentrums für Islam und Recht in Europa, Vorstandsmitglied der Gesellschaft für Arabisches und islamisches Recht, zahlreiche Veröffentlichungen zum islamischen Recht und zum Islam in Europa.
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