Muslimische Spurensuche in Berlin
Gehört der Islam zu Deutschland? 2010 hatte der damalige Bundespräsident Christian Wulff mit seiner berühmten Aussage eine heftige Diskussion ausgelöst, die bis heute andauert. „Ja!“ ist die deutliche Antwort der beiden Autorinnen und Islamwissenschaftlerinnen Bettina Gräf und Julia Tieke. Wo und wie sich die enge Verflechtung zwischen Berlin und dem islamischen Kulturkreis offenbart, zeigen sie in ihrem Buch „111 Orte in Berlin, die vom Islam erzählen“.
Die roten Fäden ziehen sich durch Berlin und führen die Lesenden von diplomatischen Institutionen wie dem Auswärtigen Amt zu Orten des alltäglichen Lebens wie der Schneiderei der Togoerin Bilkiss im Wedding mit ihren leuchtend bunten Stoffen; von der Staatsbibliothek am Tiergarten, die eine der weltweit umfangreichsten Sammlungen von Handschriften aus muslimischen Gesellschaften in Asien und Afrika beherbergt, zur Hatun-Sürücü-Brücke an der Sonnenallee, benannt nach dem Opfer eines Femizids.
Sie zeigen: Überall bestehen enge Verflechtungen zwischen der deutschen Hauptstadt und muslimischem Leben. Sie finden sich in der Politik, in diplomatischen Beziehungen, in Fantasien über den „Orient“, in der künstlerischen Auseinandersetzung und im Alltag. Manchmal sind es große Geschichten, ein anderes Mal kleine Details.
Preußisch-osmanische Freundschaft
Dass die Beziehungen zwischen Berlin und dem Islam weit älter sind als die durch Wulff losgetretene Diskussion und auch älter als das Anwerbeabkommen, mit dem 1961 die ersten sogenannten Gastarbeiter*innen aus der Türkei nach Deutschland kamen, zeigt etwa der Şehitlik-Friedhof in Berlin-Kreuzberg.
Seit 1763 gab es in Berlin eine ständige diplomatische Vertretung des Osmanischen Reiches und als 1798 der Gesandte Ali Aziz Efendi verstarb, wurde er als Erster nach islamischem Ritus bestattet. Später wurde das Grab umgebettet auf ein Stück Land, das Wilhelm I. dem osmanischen Sultan schenkte: den heutigen Şehitlik Friedhof neben der gleichnamigen Moschee. Im Gegenzug schenkte der Sultan dem deutschen Kaiser ein Grundstück in Jerusalem, auf dem sich seit den 1890er Jahren wiederum die evangelische Erlöserkirche befindet.
Von welcher Bedeutung der imaginierte Orient für die Berliner*innen war, zeigt etwa ein Gullideckel in Treptow aus den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts. Er erinnert an die Ausstellung „Kairo“ im Treptower Park, die tausende Jahre ägyptischer Geschichte verdichtete und mit nachgestellten Basaren, Cafés und Moscheen seine Besucher*innen in ihre Vorstellung von 1001 Nacht entführte – inklusive „Völkerschau“.
Heute erinnern Projekte wie „Selam Opera!“ an der Komischen Oper an die teils dramatisch inszenierte sogenannte „Türkenoper“ aus dem 18. Jahrhundert, die Geschichten um osmanische Sultane in musikalischem Alla-turca-Stil auf die Bühne brachte.
Berlin: Ort gelebter Interreligiösität
Berlins gelebte Interkulturalität und -religiösität haben eine lange Tradition, das zeigen unter anderem das Kapitel über die erste, 1924 gegründete, Ahmadiyya-Moschee. Vor dem Zweiten Weltkrieg bildete sich rund um die Wilmersdorfer Moschee die Deutsch-Muslimische Gesellschaft. Sie zog neben aristokratischen indischen Migrant*innen auch preußische Intellektuelle und Militärs an, ebenso wie jüdische Intellektuelle und Konvertit*innen. Sie alle lehnten den zunehmenden Militarismus in Deutschland ab und fanden in ihrem gelebten Islam eine spirituelle Heimat.
Dass die Stadt auch heute noch offen ist für spirituelle Experimentierfelder, zeigt sich am Beispiel der Genezarethkirche in Neukölln. Sie bietet interreligiöse Gebete an und möchte eine Begegnungsstätte sein, auch für jene, die sich mit ihrer Religion nicht festlegen möchten.
Mit ihrem Buch werfen die Autorinnen Bettina Gräf und Julia Tieke Schlaglichter auf prominente wie versteckte Orte, zeigen Traditionslinien und Verknüpfungen. Die Geschichte der islamischen Orte Berlins schreibt sich derweil weiter. Etwa durch Verleihung einer Erinnerungs-Plakette im September 2024 am sogenannten „Türkischen Basar“ am Bahnhof Bülowstraße – bis 1993 Treffpunkt türkeistämmiger Migrant*innen mit Restaurants, Teestuben, Juwelieren und Plattenläden.
Das Buch bleibt auf Distanz
An manchen Stellen wirkt das Buch jedoch etwas „clean“ und distanziert. Das gilt vor allem für die Fotos von Mirka Pflüger, sie schaffen es häufig nicht, Atmosphäre und Bedeutung der jeweiligen Gebäude zu transportieren. Die im Text zu Wort kommenden Protagonistinnen und Interviewpartner bleiben oft ohne Portrait.
Schön wäre es, die Boxerin Zeina Nasser, deutsche Meisterin im Federgewicht vor ihrem Sportclub Boxgirls zu sehen. Sie setzte erst in Deutschland, dann international durch, dass Frauen in Kopftuch und Langarmkleidung kämpfen dürfen. Oder den Afghanen Jamil, der seit 2022 in Deutschland lebt, in der Afghanischen Halle im Großmarkt in Lichtenberg.
Kleinere inhaltliche Leerstellen bleiben, zum Beispiel erfahren die Leser*innen im Kapitel zum Anschlag auf dem Breitscheidplatz 2016 nichts über die Mahnwachen, zu denen muslimische, jüdische und christliche Berliner*innen gemeinsam aufriefen.
Die Islamwissenschaftlerinnen führen jedoch erfolgreich vor Augen, wie verwurzelt und facettenreich die muslimische Seite Berlins ist. Mit historischen Bezügen und religiösen sowie kulturellen Einordnungen laden sie ein, nach weiteren roten Fäden des Islams im weitesten Sinne und Orten der Begegnung in Berlin zu suchen.
Und derer gibt es viele: Etwa den Alevitischen Friedhof auf dem St. Jacob Friedhof an der Hermannstraße, den Verein „Aufbruch“ in Neukölln, dessen Begründer Kazım Erdoğan für seine sozialen Projekte im Bereich der Gewaltprävention von Männern unter anderem mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet wurde, oder der traurige „Flüchtlings-Strich“ im Tierpark.
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