Mahi Binebine: Kannibalen
Der marokkanische Schriftsteller und Maler Mahi Binebine erzählt in seinem Roman „Kannibalen“, der gerade im Haymon Verlag erschienen ist,
die Geschichte illegaler Migranten, die am Strand von Tanger darauf warten, dass ein namenloser Menschenschmuggler, dem sie ihre gesamten Ersparnisse anvertraut haben, das Zeichen zum Aufbruch gibt. Es sind ganz unterschiedliche Schicksale, die eine Frau mit ihrem Baby und sechs Männer aus Mali, Algerien und Marokko dazu bringen, ihr Heimatland und ihre Familien zu verlassen, doch alle haben ein gemeinsames Ziel: Ein Leben in Europa, um der eigenen ausweglosen Situation zu entfliehen. Und da sie keine Chance haben, ein Visum für den wohlhabenden Teil der Welt zu erhalten, versuchen sie, auf illegalem Weg in die vermeintliche Freiheit zu reisen.
Reise in den Tod
Für die meisten von Binebines Protagonisten wird es eine Reise in den Tod. Wie viele Menschen jedes Jahr versuchen, illegal über die gefährliche Meerenge von Gibraltar nach Europa zu gelangen, ist nicht genau bekannt, aber die Zahl dürfte wohl in die Hunderttausende gehen, und vorsichtige Schätzungen sprechen davon, dass Hunderte dabei ihr Leben lassen. Mahi Binebine hat in seinem Roman Menschen eine individuelle Geschichte gegeben, die sonst nur in Statistiken auftauchen oder in kurzen Meldungen über angespülte Leichen an den Stränden Spaniens.
Der Schriftsteller als Maler
Er selbst konnte 1980 legal nach Europa einreisen, um in Paris an der Universität Jussieu Mathematik zu studieren. Nach seinem Studienabschluss im Jahr 1985 arbeitete er acht Jahre lang als Mathematiklehrer und begann in dieser Zeit, sich intensiv mit Malerei und Literatur zu beschäftigen, denn – so sagt er – er hatte Zeit und verkehrte zudem in einem Künstlermilieu in Paris, das ihn inspirierte. Seine Bilder wurden seit 1987 in verschiedenen Ausstellungen gezeigt und sind mittlerweile in öffentlichen und privaten Sammlungen in der ganzen Welt zu finden, u.a. in der ständigen Sammlung des New Yorker Guggenheim Museums. In New York lebte und arbeitete Mahi Binebine zwischen 1994 und 1999, dann kehrte er für vier Jahre zurück nach Paris. Seit 2002 lebt er wieder in seiner Heimatstadt Marrakesch, denn „nach dem Erstarken von Le Pen war Frankreich kein Land mehr für mich“.
Mahi Binebine malt mit klaren Farben von einer eindringlichen Leuchtkraft. Rote und blaue Farbtöne fließen ineinander und zeigen Umrisse von Menschen, Menschen mit Masken, schattenhafte Silhouetten von Frauen. Frauen spielen auch in seinem literarischen Werk eine wichtige Rolle, Mahi Binebine entwirft sie als starke Persönlichkeiten, die ihren Willen allen widrigen äußeren Umständen zum Trotz durchsetzen.
"Die Fußkranken des Lebens"
Es ist Mahi Binebines Kindheit in Marrakesch, wo er 1959 geboren wurde und in einem Haus in der Altstadt aufgewachsen ist, die ihn geprägt hat und die ihm seine literarischen Themen geradezu aufdrängt. Er erzählt die Geschichten der Ausgegrenzten, der Gescheiterten, der „Fußkranken des Lebens“, wie er sie nennt, die das Universum seiner Kindheit bildeten. In seinem ersten Roman „Der Schlaf der Sklavin“ erinnert sich der Ich-Erzähler an Dada, die schwarze Sklavin seiner Familie, die ihm abends, wenn er als Kind nicht einschlafen konnte, ihre Geschichte erzählte, die Geschichte einer schwarzen Frau, die als junges Mädchen zusammen mit ihrem Bruder von Sklavenhändlern geraubt und nach Marokko verkauft worden war, und die über ihr Leben und ihren Körper nie selbst verfügen konnte.
Mahi Binebines zweiter Roman „Mamayas letzte Reise“ ist eine Hommage an seine Mutter, die die prägende Gestalt seiner Kindheit war. Sie musste ihre sieben Kinder alleine durchbringen, nachdem der Vater die Familie verlassen hatte, und das in dem patriarchal geprägten Umfeld der Medina von Marrakesch. In dem Roman zeichnet Mahi Binebine das Porträt einer alten Frau, die sich auf den Tod vorbereitet und an ihren Sohn denkt, von dem sie nicht weiß, ob er noch lebt oder bereits tot ist.
Verarbeitung von Familiengeschichte
Eine Anspielung auf ein trauriges Stück Familiengeschichte, denn Mahi Binebines Bruder Aziz war einer der jungen Offiziere, die nach dem gescheiterten Militärputsch gegen König Hassan II im Jahr 1971 18 Jahre lang in dem Wüstenlager Tazmamart eingekerkert waren, unter Bedingungen, deren Brutalität sich dem menschlichen Vorstellungsvermögen entzieht und die mit Worten kaum zu beschreiben sind.
Nur die Hälfte der Gefangenen überlebte diese Zeit, Aziz Binebine gehört zu den 28 Überlebenden. Seine Lebensgeschichte hat Mahi Binebines Schriftstellerkollegen Tahar Ben Jelloun als Vorlage für seinen umstrittenen Roman „Das Schweigen des Lichts“ gedient. Für Mahi Binebine selbst wäre es zu schmerzhaft gewesen, die Leidensgeschichte seines Bruders literarisch zu verarbeiten, daher lag es nahe, sie dem Freund Tahar Ben Jelloun anzuvertrauen. Im nachhinein sieht Mahi Binebine dies als Fehler an, auch wenn er Tahar Ben Jellouns Roman für gelungen hält; aber die Freundschaft zwischen den beiden Schriftstellern ist über den Kontroversen um das Buch zerbrochen.
Mahi Binebine hat mittlerweile fünf Romane geschrieben, die in verschiedene Sprachen übersetzt wurden, der sechste Roman soll im nächsten Januar in Frankreich erscheinen. Er ist nach einer Farbe benannt, die Mahi Binebine liebt - „Terre d´ombre brûlée“, auf Deutsch „Umbraerde“ - und erzählt die Geschichte eines Malers, der in Paris lebt.
Katrin Schneider
© 2003 Qantara.de
Bilder von Mahi Binebine können auf der Webseite der Galerie Al Manar, Casablanca, angesehen werden.
Auf Deutsch sind von ihm die Romane „Der Schlaf der Sklavin“ (Knaur, 1994), „Mamayas letzte Reise“ (Knaur, 1997) und „Kannibalen“ (Haymon Verlag, 2003) erschienen.