Die Enttarnung der Kunst

Das Absetzen der Oper "Idomeneo" hat eine Debatte über Meinungsfreiheit ausgelöst. Auch in der abendländischen Kulturtradition gibt es eine Stigmatisierung des Anderen.

Kommentar von Zafer Şenocak

Man stelle sich einmal vor, es gäbe eine Zensurbehörde, deren Mitglieder aus Sicherheitsgründen anonym bleiben müssen, die tagtäglich Bücher, Artikel, Spielpläne von Opern und Theatern durchforstet, nach Inhalten, die eine Gefährdung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit darstellen könnten.

Man stelle sich vor, es gäbe eine Gruppe von Menschen, oder auch einzelne Personen, die meinen, ihren Glauben und ihre Überzeugungen nur dadurch verteidigen zu können, indem sie unerwünschte, als beleidigend oder provozierend wahrgenommene Veröffentlichungen mit Gewalt ahnden, die die Urheber verfolgen, sie auf offener Straße meucheln.

Keine Einschränkung der Meinungsfreiheit

Weit sind wir von diesen Szenarios nicht, denn zumindest einen Mord hat es längst gegeben, weil ein junger Muslim meinte, ein Filmregisseur habe seinen Glauben beleidigt.

Es ist wahr, es gibt gewaltbereite Islamisten, deren Ideologie inzwischen faschistoide Züge aufweist. Wie aber sollen die freien Gesellschaften auf diese Personen und die Gefährdung, die von ihnen ausgeht, reagieren? Eine absolute Sicherheit gibt es nicht.

Aber diese Binsenweisheit mindert nicht die Angst, die inzwischen so weit gewachsen ist, dass in Berlin eine Oper, Mozarts Idomeneo, von der Bühne genommen wird, weil Anschläge befürchtet werden. Dieses Angstphänomen hat mittlerweile eine Debatte losgetreten, in der niemand, der demokratischer Gesinnung ist, für Einschränkungen der Meinungsfreiheit und der Freiheit des künstlerischen Ausdrucks sein kann.

Gegen gewaltbereite Islamisten müssen wir unsere Gesellschaft und unsere Rechtsordnung verteidigen. Darüber kann es nicht einmal eine Diskussion geben. Die Oper sollte sobald wie möglich wieder auf der Bühne zu sehen sein.

Einer fehlt

Dennoch wirft gerade die abgesetzte Operninszenierung eine interessante Frage auf. In der - wohlgemerkt von den Sicherheitsorganen und nicht von Islamisten - als anstößig aufgefassten Schlussszene, werden Propheten unterschiedlicher Religionen enthauptet. Jesus, Mohammed und Buddha müssen daran glauben, und auch Poseidon.

Unter den Religionsstiftern aber, fehlt eine ganz wesentliche Figur. Diese Leerstelle, die kaum jemandem aufgefallen ist, macht nachdenklich.

Nein, Moses sollte, zumindest auf einer deutschen Bühne, nicht geköpft werden. Aber wenn Moses nicht geköpft werden darf, sind wir da nicht doch bei den unerwünschten Denkverboten und Einschränkungen der Meinungsfreiheit?

Antimuslimische Polemik wenig erforscht

Ein Blick in die abendländische Kunst- und Literaturgeschichte genügt, um eine lange Liste antisemitischer, antimuslimischer, antitürkischer Ressentiments aufzustellen: Umstrittene Stücke wie der "Kaufmann von Venedig" von Shakespeare neben eindeutig antisemitischen Romanen von Gustav Freytag. Selbst die Säulenheiligen des deutschen Romans, Theodor Fontane und Thomas Mann, wurden kritisch unter die Lupe genommen.

Doch weder Gewalttäter noch Glaubenshüter kümmern sich um die problematischen Werke und Aussagen der Schriftsteller, sondern die Geisteswissenschaftler. Inzwischen gibt es eine durchaus brauchbare Forschung, die rassistisches und antisemitisches Gedankengut in Kunstwerken enttarnt und problematisiert.

Eine ähnliche Forschung müsste im Hinblick auf antimuslimische Polemik aufgebaut werden. In Ansätzen gibt es sie. Aber eben nur in Ansätzen.

Muslime im Schmollwinkel

Diese zaghaften Ansätze werden gänzlich überlagert von einer unreflektierten, schrillen und gewaltbereiten Protesthaltung auf muslimischer Seite, die in einem besonders bequemen Schmollwinkel zu sitzen scheint und deren permanentes "Beleidigtsein" zu einer Beleidigungsmüdigkeit in der westlichen Öffentlichkeit geführt hat.

Die Meinungsfreiheit ist das Rückgrat jeder demokratischen Gesellschaft. Doch die Meinungsfreiheit ist keine Versicherung gegen rassistische Ideologien, gegen Ressentiments und Verzerrungen.

Die Bilder in den Köpfen sind in unserer von Bildern überfluteten Welt inzwischen so etwas wie ein kaltes Waffenarsenal, das nicht minder gefährlich ist als die Kriegsgeräte in den Kasernen.

Wie aber rüstet man ab? Eine Abrüstung des Geistes ist viel komplizierter als militärische Abrüstung. Waffen kann man verschrotten. Die Bilder und Worte aber bleiben für immer. Sie lassen sich aus Büchern nicht tilgen und aus den Köpfen nur schwer entfernen.

Die Stigmatisierung des Anderen

In der gegenwärtigen Auseinandersetzung um kulturelle Empfindsamkeiten werden diese Belange kaum berücksichtigt. Es drängt sich der Verdacht auf, dass die törichten, ja primitiven muslimischen Reaktionen auf Provokationen oder dumme Inszenierungen von Ressentiments auch eine willkommene Entlastung darstellen, um sich mit den eigenen ausgrenzenden und diffamierenden abendländischen Kulturtraditionen nicht beschäftigen zu müssen.

Dieses Eigene nämlich ist die alte Tradition der Stigmatisierung des Anderen. Sie setzt den Unwillen voraus, sich mit dem Anderen ernsthaft und selbstkritisch beschäftigen zu wollen.

Stattdessen werden immer öfter gängige Typisierungen entworfen, Klischees, die nicht einfach nur eine Beleidigung darstellen, sondern die eine notwendige Verzerrung für rassistische und kulturalistische Denkmuster sind.

Zafer Şenocak

© Qantara.de 2006

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