Hunger in Gaza – Made in Germany

Plötzlich sind sie da: die Bilder abgemagerter Kinder, mit leeren Blicken und eingefallenen Gesichtern. Endlich finden die Fotos aus dem Gazastreifen ihren Weg in die breite deutsche Öffentlichkeit – nicht nur auf Twitter, sondern in große Tageszeitungen und Nachrichtensendungen.
Der Hunger in Gaza ist katastrophal. Nur: Das ist alles andere als neu. Seit Monaten, ja seit über eineinhalb Jahren schlagen die UN und Hilfsorganisationen Alarm. Schon Anfang 2024 litten Hunderttausende in Gaza unter „katastrophalem Hunger“. Das ist die höchste Warnstufe auf dem IPC-Index für Ernährungsunsicherheit. Bereits damals kam es zu tödlichen Massenanstürmen verzweifelter Menschen auf Hilfskonvois.
Ernstgenommen wurde das in Deutschland nicht. Stattdessen unterstützte die Bundesregierung die israelische Politik des Aushungerns, indem sie weiter Waffen lieferte und klarmachte: Wirkliche Konsequenzen zieht sie nicht. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Hunger in Gaza – made in Germany: Dafür ist Deutschland in der Welt mittlerweile so bekannt wie für BMW und Bayern München.
In Deutschland wird gestritten
International weniger bekannt ist: In Deutschland wird gestritten – und die kritischen Stimmen werden lauter. Die Bundestagsfraktion der SPD, Juniorpartner in der Regierungskoalition, hat vergangene Woche ein Ende des Krieges und eine Aussetzung des EU-Assoziierungsabkommens mit Israel gefordert. Es gebe keinen „politischen Interpretationsspielraum“ mehr.
Auch im CDU-geführten Außenministerium formiert sich Protest: Rund 130 vor allem jüngere Diplomatinnen und Diplomaten haben sich zusammengetan, um ihren Chef, Außenminister Johann Wadephul, zu einem härteren Kurs zu bewegen – ein ungewöhnlicher Vorgang. „Aufstand im Auswärtigen Amt“, schrieb das Magazin Spiegel.
Großen Teilen der deutschen Öffentlichkeit ist spätestens mit Trumps grotesker Ansage, Gaza in eine „Riviera des Nahen Ostens“ verwandeln zu wollen, und der fast dreimonatigen Totalblockade Gazas zwischen Februar und Mai klargeworden, mit wem man es beim US-Präsidenten und seinem Verbündeten Netanjahu zu tun hat.
In diesem Krieg geht es längst nicht mehr um Verteidigung. Oder glaubt irgendwer, dass die eigentlichen Kriegsziele – Vernichtung der Hamas und Befreiung der israelischen Geiseln – auf diese Weise noch erreicht werden?

Tauschhandel und Kaffeeersatz
In Gaza herrscht Hunger. Während einige Palästinenser:innen versuchen, Hilfe von der umstrittenen Gaza Humanitarian Foundation zu erhalten, greifen andere zu verzweifelten Mitteln. Ein Bericht aus Gaza.
Doch greifbare Folgen hat das Umdenken in Deutschland bislang nicht gehabt. Wie die Scholz'sche Vorgängerregierung wirkt auch die aktuelle Bundesregierung wie ein Hund, der nicht weiß, ob er Herrchen oder Frauchen hinterherrennen soll: auf der einen Seite eine als blinde Solidarität falsch verstandene Staatsräson, auf der anderen Seite ein zielloser Krieg mit zehntausenden Toten und einer absichtlich herbeigeführten Hungerkrise.
Dabei haben Kanzler Friedrich Merz und Außenminister Wadephul selbst schon erstaunlich kritische Worte gefunden. Merz nannte das israelische Vorgehen mehrfach „inakzeptabel“. Wadephul legte letzte Woche nach; das „Sterben“ sei „unerträglich“.
Eine Regierung, die zu dieser Einschätzung kommt, muss handeln. Dass die israelische Armee ab sofort humanitäre Pausen in Teilen des Küstengebiets einlegen will, ist gut, muss aber der Anfang des endgültigen Endes der Politik des Aushungerns sein.
Ein Hebel, der bewegt werden muss
Die Bundesregierung muss, solange das Aushungern und sinnlose Töten nicht aufhören, einen Stopp von Waffenlieferungen verhängen. In Israel machen Rüstungsimporte aus Deutschland rund 30 Prozent der eingeführten Rüstungsgüter aus; Deutschland ist zweitgrößter Waffenlieferant der rechtsextremen Regierung in Jerusalem. Der Hebel ist also nicht ganz kurz.
Verbinden sollte Berlin diesen überfälligen Schritt mit klaren und schnell umsetzbaren Forderungen, vor allem nach langfristig ungehindertem Zugang humanitärer Hilfe in Gaza. Es ist zu hoffen, dass es der konservativen, CDU-geführten Regierung leichter fällt, endlich konkret zu werden, als der Mitte-Links-Vorgängerregierung. Auch Deutschlands Atomausstieg wurde schließlich von einer CDU-Kanzlerin durchgesetzt.
Es braucht einen Exit aus diesem Krieg – und Druck, damit alle Beteiligten die Ausgangstür finden. Das wäre auch der einzige Weg, die noch lebenden israelischen Geiseln doch noch aus den Fängen der Hamas zu retten. Der Nahostkonflikt ist komplex, aber die Einsicht, dass verhungernde Kinder – direkt vor Europas Haustür – kein Kollateralschaden sind, ist simpel. Was in Gaza passiert, ist eine menschengemachte humanitäre Katastrophe, für die Deutschland ein großes Maß an Mitverantwortung trägt.
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