Christliche Argumente gegen den Gazakrieg

Munther Isaacs bewegende Weihnachtsansprache unter dem Motto „Christ in the Rubble“ (Christus unter Trümmern) erlangte im Dezember 2023 vor allem in christlichen Kreisen viel Aufmerksamkeit. In seiner Kirche in Bethlehem hatte der palästinensische Pastor eine Christus-Krippe aufstellen lassen; die Jesus-Figur war in die palästinensische Kufiya gewickelt.
Nun hat der lutherisch-evangelischer Pastor unter dem gleichen Titel ein Buch herausgebracht, das unter anderem seine damalige Ansprache enthält und einen wichtigen Beitrag zur Debatte über Israel und Palästina leistet.
Munther Isaac, Pastor und Sachbuch-Autor, ist als palästinensischer Christ im Westjordanland unter den Bedingungen der israelischen Besatzung aufgewachsen. Von diesem Kontext wurde er in seinem theologischen und politischen Denken stark geprägt.
In seinem Buch diskutiert Isaac politische und religiöse Fragen rund um die dramatischen Geschehnisse in Gaza sowie den vorangegangenen Überfall am 7. Oktober 2023, bei dem Kämpfer aus dem Gazastreifen nach Israel eindrangen und militärische und zivile Ziele angriffen.
Konflikt mit Vorgeschichte
Isaac fragt nach der Vorgeschichte der Ereignisse vom 7. Oktober, ohne diese jedoch zu verharmlosen oder die Tragweite in Abrede zu stellen. Er führt durch die Geschichte Palästinas, bespricht Besatzung, Vertreibung und Krieg. Dabei bezieht er sich auf die neuesten Erkenntnisse israelischer und internationaler Forschung ebenso wie auf Veröffentlichungen der UN und israelischer sowie internationaler NGOs.
Die ersten drei Kapitel sind gespickt mit Begriffsklärungen, Informationen und Literaturverweisen, lesen sich jedoch trotz der hohen Informationsdichte flüssig. Das meiste dürfte denjenigen, die in der Materie belesen sind, bekannt sein. Insbesondere für Neueinsteiger:innen wird die Einführung aber von großem Mehrwert sein.
Mit Blick auf Gaza macht Isaac deutlich, dass sich der Großteil der Bevölkerung dort aus Familien zusammensetzt, die im Zuge der Staatsgründung Israels aus ihren angestammten Gebieten vertrieben wurden und denen bis heute das Rückkehrrecht verwehrt bleibt.

Geschichte und der Krieg in Gaza
Laut dem amerikanisch-palästinensischen Historiker Rashid Khalidi sind der Nahostkonflikt und der Krieg in Gaza in vielerlei Hinsicht eine Folge imperialer Interventionen. „Eine Lösung kann nur darauf beruhen, festgefahrene Strukturen der Vorherrschaft und Diskriminierung aufzubrechen", betont er. Nur so lasse sich eine Zwei-Staaten-Lösung realisieren.
Er erinnert auch an die Massaker der israelischen Armee in Gaza nach der kurzzeitigen Eroberung 1956, an die See-, Luft- und Landblockade des Gazastreifens durch die israelische Armee seit 2007 und an die vier Feldzüge Israels im Gazastreifen seit der Machtübernahme der Hamas: 2008, 2012, 2014 und 2021.
Dabei erkennt Isaac an, dass sich Israel und die Hamas gegenseitig die Schuld für diese Eskalationen zuweisen. Zugleich weist er auf die bestehende Asymmetrie in der Möglichkeit zur Gewaltanwendung hin, die eindeutig zugunsten Israels ausfalle.
Bestätigt sieht er dies durch die Opferzahlen seit Beginn der aktuellen israelischen Bodenoffensive, die Ende Juni 2025 nach palästinensischen Angaben bei über 56.000 getöteten Bewohnerinnen und Bewohnern Gazas lagen, davon über 13.000 Kinder, während auf israelischer Seite im gleichen Zeitraum rund 435 Soldat:innen getötet wurden. Eine aktuelle wissenschaftliche Studie legt nahe, dass die Zahl der palästinensischen Opfer in Wahrheit noch viel höher liegt.
Palästinensische Befreiungstheologie
Munther Isaac entstammt der Schule der palästinensischen Befreiungstheologie, die im Zuge der ersten palästinensischen Intifada 1987 bekannt wurde. Ausformuliert hat sie der evangelische Pastor Naim Atiq in seinem Buch „Justice, and only Justice: A Palestinian Theology for Liberation“, das 1989 erschien.
Auch nach Deutschland kamen die Ideen der palästinensischen Befreiungstheologie, insbesondere durch den Pastor Mitri Raheb. Dieser promovierte 1988 an der Universität Marburg in Theologie und baute nach seiner Rückkehr nach Palästina gemeinsam mit seinen Kolleg:innen verschiedene Wissensinstitutionen auf.
Insbesondere am „Bethlehem Bible College“ bauten sie die Ideen der Befreiungstheologie weiter aus und gaben sie weiter, unter anderem in Form der Jahreskonferenz „Christ at the Checkpoint“.
Als bekennender Christ und Pastor steht Isaac wohl kaum im Verdacht, Sympathisant der Hamas zu sein; so kritisiert er deren Staats- und Religionsverständnis. Gleichzeitig schreibt er einprägsame Sätze, die zum Nachdenken und zur Diskussion anregen, wie: „Wenn Menschen es ernst meinten, die Hamas zu zerstören, dann schlage ich vor, dass wir damit beginnen, uns von Besetzung und Apartheid zu befreien.“

Hart ins Gericht geht Isaac schließlich auch mit westlichen Christ:innen, die sich dem modernen Nationalstaat Israel verschrieben haben und diesen mit dem biblischen Volk Israel gleichsetzen.
Diese Ansichten des sogenannten „christlichen Zionismus“ gehen laut Isaac auf „schlechte Theologie“ zurück, denn die Bibel spreche von Israel als historischem Volk, nicht von einem „säkularen Staat des 21. Jahrhunderts“.
An dieser Stelle bringt Isaac sein umfangreiches theologisches Wissen ein und präsentiert den Lesenden seine Interpretation der Bibel. Er sieht dort einen Gott beschrieben, der gerecht ist und nicht aufgrund von Rasse oder Ethnie einzelne Völker favorisiert und andere von seiner Güte und seiner Botschaft ausschließt.
Deutlich widerspricht er einer Instrumentalisierung der Bibel im Sinne der „imperialen“ Interessen der USA oder der Unterdrückung derjenigen, die sich ihren Machtinteressen widersetzen. Besonders palästinensische Christ:innen seien zutiefst verstört, wenn die Bibel für die Rechtfertigung ihrer Unterdrückung herangezogen werde.
Isaac formuliert seinen Zorn sowie die tiefsitzende Enttäuschung über die westlichen Kirchen, die sich überwiegend einer einseitig pro-israelischen Position verschrieben hätten und von denen sich Isaac und andere palästinensische Christ:innen verraten fühlen.
„Christliche Zionisten möchten, dass wir akzeptieren, dass ein Jude, der in Brooklyn, New York, geboren ist, Kraft seines Judentums berechtigt ist, in Palästina zu siedeln und mehr Rechte zu genießen als Palästinenser; ja, sogar Palästinenser umzusiedeln, wenn es notwendig ist, weil ‚die Bibel es so sagt‘“.
Isaacs Theologie ist moralisch eindeutig
Mit seinem aufrüttelnden und eindringlichen Werk, dem es nicht an pointierter Sprache mangelt, richtet sich der Autor insbesondere an ein westliches Publikum, vor allem an ein christliches. Gaza, schreibt Isaac, sei zum „moralischen Kompass“ der Welt geworden und habe die Welt in dieser Hinsicht geteilt – nicht auf der Basis von Religion, Ethnie oder Politik, sondern moralisch.

Wer Isaac gelesen hat, wird nicht behaupten können, in Bezug auf Gaza nichts von den dort begangenen Kriegsverbrechen und vom Leid der Menschen gewusst zu haben. Die Fakten, die er präsentiert, sind solide und evident.
Seine Theologie ist moralisch eindeutig und klar positioniert, ebenso die Anklage gegen die westlichen Kirchen, denen er durch ihr Schweigen eine Komplizenschaft am „Genozid“, wie Isaac mit Verweis auf diverse Quellen das Vorgehen der israelischen Armee in Gaza nennt, vorwirft.
Die Beschäftigung mit Isaac, als einer bedeutenden intellektuellen Stimme aus dem besetzten Westjordanland, ist gerade in diesen Zeiten unausweichlich. Er polarisiert, aber nicht auf destruktive Art. Er fordert seine Leserschaft zum Nachdenken und zum Hinterfragen eingefahrener Denkmuster und vermeintlicher Wahrheiten auf. Die Beschäftigung mit seiner Theologie lohnt, sein Werk wird auch in Deutschland und besonders unter Christ:innen einen Beitrag zur Debatte leisten.
„Christ in the Rubble. Faith, the Bible, and the Genozide in Gaza” (Englisch)
Munther Isaac (mit einem Vorwort von Willie James Jennings)
März 2025
Wm. B. Eerdmans Publishing Co.
279 Seiten
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