Die Geschichte der anderen

In einem gemeinsam erarbeiteten Schulbuch versuchen Israelis und Palästinenser, ihre 60 Jahre alte Feindschaft zu verstehen. Arnfrid Schenk stellt es vor.

​​Es ist eine Geschichte mit einer überraschenden Wendung, die Sami Adwan zu erzählen hat. Es ist seine eigene Geschichte. Die Kurzfassung geht so: Geboren 1954 in einem Dorf nahe Hebron im Westjordanland, aufgewachsen unter israelischer Besatzung.

Er ist emsig, schafft es an die Universität in Jordanien. Lange denkt er von den Israelis, was man in Palästina von Israelis denkt:

"Sie sind der Grund für meine ganze Misere, für all mein Leiden." Adwan denkt noch so, als er schon Erziehungswissenschaften in den USA studiert – er vermeidet Vorlesungen und Seminare, wenn er weiß, dass jüdische Studenten daran teilnehmen.

Sami Adwan – ein Brückenbauer

Gesprochen hat er bis dahin mit keinem Israeli, er kennt sie nicht als Zivilisten, nur als Soldaten an den Checkpoints. Er will nichts von ihnen wissen. Einige Jahre später ist Adwan Kodirektor eines israelisch-palästinensischen Friedensforschungsinstituts und erarbeitet zusammen mit jüdischen Lehrern und Historikern ein israelisch-palästinensisches Geschichtsbuch über den Nahostkonflikt. Er ist einer von den Leuten, die man gern als Brückenbauer bezeichnet. Wie ist es dazu gekommen?

Sami Adwan, Professor für Erziehungswissenschaften der Universität Bethlehem, erzählt weiter, er redet schnell, es ist ein später Frühlingsabend in Braunschweig, er hat einen langen Konferenztag am Georg-Eckert-Institut für internationale Schulbuchforschung hinter sich, an der Einrichtung, die das Buchprojekt von Anfang an berät und unterstützt. Er ist müde, aber es gibt noch so viel zu sagen.

Er kommt Ende der achtziger Jahre aus den USA zurück, lehrt an der Hebron-Universität, wird Mitglied von Fatah und wenig später von den Israelis verhaftet, Fatah galt damals noch als terroristische Vereinigung. In der ersten Woche in Haft erfährt er nicht, weswegen er angeklagt ist. Das Feindbild bleibt stimmig.

Aber dann geschieht etwas, was nicht in sein Weltbild passt. Er bekommt mit, wie zwei israelische Soldaten seinetwegen in Streit geraten. Es geht um ein Dokument, das er unterschreiben soll. Wir können ihn doch nicht zwingen, etwas zu unterschreiben, was er nicht versteht, sagte der eine.

Adwan verstand gerade genug Hebräisch, um zu begreifen, dass sich da ein Jude für seine Rechte einsetzte, für die Rechte eines Palästinensers. Einige Zeit später sieht er, dass ein israelischer Soldat den Gefangenen Wasser bringt, obwohl es der Vorgesetzte verboten hatte.

Alles für den Dialog

Dan Bar-On (rechts) und Sami Adwan; Foto: &copy Unacitta.it
Dan Bar-On (rechts) und Sami Adwan waren nicht so vermessen, zu versuchen, eine gemeinsame Lesart des Nahostkonflikts zu schreiben. Sie wollten nur die palästinensische Sicht neben die israelische stellen.

​​ "Diese Erfahrungen veränderten mein Leben." Ihm sei klar geworden, dass nicht alle gleich waren. Er wollte mehr über die Israelis erfahren. Er wollte mit ihnen reden. Als Sami Adwan 1993 nach einem halben Jahr aus dem Gefängnis kam, setzte er alles auf Dialog. Die Oslo-Verhandlungen zwischen Israel und den Palästinensern hatten begonnen, es war die Zeit, in der ein Frieden machbar schien.

Er traf sich mit israelischen Akademikern, lernte den Psychologen Dan Bar-On von der Ben-Gurion-Universität kennen. Bar-On hatte weltweit Aufsehen erregt, als er Nachkommen von Holocaust-Opfern mit Kindern von Nazitätern in Gesprächen zusammenbrachte.

Gemeinsam gründeten Bar-On und Adwan das Peace Research Institute in the Middle East (Prime) und setzten ihre Vorstellung von einem israelisch-palästinensischen Geschichtsbuch um. "Was in der Schule unterrichtet wird, kann einen Konflikt befeuern oder etwas zu seiner Lösung beitragen", sagt Adwan.

Das Geschichtsbuch soll die gegenseitigen Vorurteile abbauen. Bar-On und Adwan waren nicht so vermessen, zu versuchen, eine gemeinsame Lesart des Nahostkonflikts zu schreiben.

Sie wollten nur die palästinensische Sicht neben die israelische stellen. Der anderen Seite so die Augen öffnen. Nicht nur Wissenschaftler sollten die Texte verfassen, sondern auch Lehrer, schließlich waren sie es, die sie vor den Schülern vertreten mussten.

So sehen die drei Bände nun aus: Auf der linken Seite steht die israelische Sicht der Dinge, auf der rechten Seite die palästinensische. In der Mitte ist Raum für Notizen, Platz für die Gedanken der Schüler. So handelt das Buch die israelisch-palästinensische Geschichte des 20. Jahrhunderts ab.

Dazu gehören etwa die Balfour-Deklaration von 1917, die den Juden einen eigenen Staat versprach, die Intifada genannte Zeit des Aufstands gegen die Besatzer, die Kriege von 1948, 1967.

Verschiedene Sicht der Dinge

Die Fakten sind ein und dieselben, nur gibt es eben zwei Sichtweisen dazu. Das Jahr 1948 etwa bedeutet für die Israelis Unabhängigkeitskrieg und Staatsgründung, für die Palästinenser ist es das Jahr der Katastrophe, der nakba, der Vertreibung aus ihrer Heimat.

Palästinensische Flüchtlinge; Foto: &copy peace-with-justice.org
Zwei verschiedene Erfahrungen, zwei verschiedene Perspektiven: Für die Israelis war 1948 das Jahr des Unabhängigkeitskrieges und der Staatsgründung, für die Palästinenser das der Vertreibung.

​​ Es war nicht schwierig, sich auf die Daten zu einigen, es war schwierig, die Interpretation der anderen zu akzeptieren. "Was für die einen Terroristen waren, waren für die anderen Helden", sagt Adwan. Dem im Herbst 2008 gestorbenen Dan Bar-On ging es um die "Entwaffnung der Geschichte".

Dass die in der Schule beginnen muss, hat Adwan während seiner Analysen palästinensischer und israelischer Geschichtsbücher zur Genüge festgestellt. Er sagt:

"Es gibt darin keine Anerkennung für die Leiden der anderen. Keine Anerkennung ihrer Rechte, ihrer Geschichte, ihrer Kultur. Der Holocaust taucht in den palästinensischen Büchern kaum auf, das Trauma der Vertreibung der Palästinenser wird auf israelischer Seite ignoriert. In den Karten sind die Städte und Dörfer der anderen nicht zu finden."

Keiner wisse etwas über den anderen. "So ist die Schulbildung Teil des Problems", sagt Adwan, "und nicht Teil der Lösung."

Learning each other's historical narrative, so heißt das neue Schulbuch, richtet sich an Oberstufenschüler. Jeweils ein Dutzend Lehrer arbeiten mit den Texten an ausgewählten Schulen in Israel und im Westjordanland.

Nicht während des regulären Unterrichts, das Geschichtsbuch ist nicht Teil der offiziellen Lehrpläne, die jeweiligen Ministerien ignorieren oder tolerieren es. Finanziert wird das Projekt unter anderem mit Geldern von amerikanischen Stiftungen, der EU und dem Auswärtigen Amt.

Es war nicht leicht, die Treffen der Verfasser zu organisieren, man konnte nie wissen, ob alle Teilnehmer rechtzeitig durch die Checkpoints kommen würden. Das Georg-Eckert-Institut in Braunschweig bot schließlich den neutralen Boden, auf dem die palästinensischen und israelischen Lehrer und Wissenschaftler regelmäßig zu mehrtägigen Seminaren zusammenkommen konnten.

Neue Freundschaften

​​ Bevor die Arbeit am Inhalt begann, erzählten sich die Lehrer gegenseitig aus ihrem Alltag. Von der Furcht vor Selbstmordanschlägen die einen, von den Demütigungen der Besatzung die anderen.

Was treibt die Lehrer an? Da ist zum Beispiel Maysoon Husseini al Tal. Sie trägt ein weißes Kopftuch mit schwarzen Ornamenten. Sie unterrichtet Geschichte an einer Mädchenschule in Ostjerusalem.

Als ein Kollege sie fragte, ob sie an dem Projekt mitarbeiten möchte, hatte sie noch nie mit einem Israeli gesprochen. Sie habe lange gezögert, erzählt sie. Ihre Gefühle sagten Nein, das kannst du nicht machen. Ihr Kopf sagte, das ist eine Möglichkeit, mit den Israelis zu sprechen, etwas zu bewegen, etwas zu ändern, mach mit. Sie machte mit, obwohl ihr Mann es nur schwer akzeptieren kann.

Yiftach Ron, der an einer israelischen Schule unterrichtet, sagt, er habe ein Problem damit, wie die israelische Gesellschaft mit Palästinensern umgehe. Die Mitarbeit an dem Projekt sei für ihn der beste Weg, dieses Problem zu lösen. Manche der palästinensischen Lehrer wiederum wurden von Eltern bedroht, als die erfuhren, was ihre Kinder in der Schule lernten.

Zwischen einigen Teilnehmern sind Freundschaften entstanden, so wie zwischen Adwan und Bar-On, manche sind ausgestiegen, weil sie die emotionale Belastung nicht mehr ertragen konnten.

Wie der Lehrer, dessen blinder Cousin mit einem Kiosk seinen Lebensunterhalt verdiente. Israelische Soldaten walzten seinen Kiosk mit Bulldozern nieder. Der Lehrer sagte: "Ich kann nicht mehr mit euch weiterarbeiten, sonst kann ich ihm nicht mehr ins Gesicht sehen." Ein anderer berichtet, dass einer seiner Schüler erschossen worden sei.

Nachahmer in anderen Konfliktregionen

Während des jüngsten Gazakrieges herrschte große Sprachlosigkeit auf beiden Seiten. Alle Arbeiten wurden eingefroren, Treffen abgesagt und Konferenzen verschoben. In der Zwischenzeit hat man sich wieder aufgerafft.

Und die Schüler? Maysoon Husseini und Yiftach Ron haben in ihren Klassen im Großen und Ganzen gute Erfahrungen gemacht. Andere erzählen, dass in Israel den Schülern die palästinensische Lesart oft zu emotional sei, nahe an der Propaganda. Viele palästinensische Schüler sagen, es werde sich kaum etwas an ihrer Lage ändern, wenn sie mehr Verständnis für die israelische Lesart der Geschichte entwickelten.

Die Evaluation läuft noch, Ende Juli wird das Projekt auf einer internationalen Konferenz vorgestellt. Adwan sagt, dass die meisten Schüler weniger pauschal in ihren Urteilen seien, vorsichtiger in ihren Einschätzungen der "anderen". Es ist ein Anfang. "Man kann nur hoffen", sagt Adwan.

Bevor es keine politische Lösung des Konflikts gibt, wird das Projekt aus seiner Nische nicht herauskommen. Aber dass die gemeinsame Arbeit überhaupt zustande und zum Abschluss gekommen ist, allen Eskalationen des Konflikts zum Trotz, ist schon ein Erfolg an sich. Und es macht Schule: Die Skopje-Universität in Makedonien hat ein albanisch-makedonisches Geschichtsbuch herausgegeben, das auf demselben Prinzip aufbaut.

Fragt man Eyal Naveh, Professor für Geschichte an der Universität von Tel Aviv, ob er denn daran glaube, dass das Geschichtsbuch einmal im regulären Unterricht eingesetzt werde, sagt er: "Nicht zu meinen Lebzeiten." Aber das hindert ihn nicht daran, die Sache weiter voranzutreiben.

Wie weit der Weg noch sein wird, zeigen die Schwierigkeiten, die man hatte, für die Abschlusskonferenz einen geeigneten Ort zu finden. Manche, die sich dafür interessierten, seien noch nicht so weit, dass sie sich mit Palästinensern beziehungsweise Israelis in einen Raum setzen würden, sagt Adwan.

Und viele würden vielleicht nicht rechtzeitig durch die Checkpoints kommen. Deshalb hat man sich für zwei Austragungsorte entschieden: Ramallah und Tel Aviv, verbunden durch eine Videoschaltung.

Arnfrid Schenk

© Qantara.de 2009

Qantara.de

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  • "Peace Research Institute in the Middle East"