Lehre des Salafismus
Als die ersten Salafisten in den Städten Westeuropas erschienen, lachten die Leute oft über sie, auch viele Glaubensbrüder. Denn die meist jungen Männer trugen ihre Hosenbeine so kurz, dass die nackten Knöchel sichtbar waren: Der Prophet Mohammed und seine Gefährten hatten es so gehalten.
Noch durch andere Manierismen fielen die Strenggläubigen auf. Sie essen mit drei Fingern, setzen während des Wassertrinkens drei Mal ab und putzen sich die Zähne nicht mit der konventionellen Bürste, sondern mit einem trockenen Zweig des Miswak-Baumes (botanisch Salvadora persica). Auch das hat ihnen Mohammed geboten. Eine Überlieferung lässt ihn sagen: "Vier Dinge sind den Propheten eigen, Beschneidung, Wohlgerüche, Miswak und Heirat."
Es ist erst etwa zwei Jahrzehnte her, dass die Salafisten öffentlich Aufsehen erregten. Bis dahin hatten nur Spezialisten von ihnen gewusst. Selbst anerkannte Nachschlagwerke über den Islam, die um die Jahrtausendwende erschienen, enthalten die Stichworte "Salafismus" und "Salafisten" noch nicht.
Dabei hatte es Versuche, zu den Lebensformen des Islam aus seiner Frühzeit zurückzukehren und den Glauben von späteren Verfälschungen zu reinigen, schon oft in der Geschichte gegeben. Die frommen Vorfahren (as-Salaf as-Saleh), nach denen die Salafisten sich ausrichten, sind der Prophet und seine Gefährten sowie die beiden ersten Generationen seiner Anhänger. "Ich bin euch der beste Salaf", lässt eine Überlieferung Mohammed sagen, welche die berühmte Hadith-Sammlung von Mohammed al-Buchari als gültig anerkennt.
Neuerungen als Ursache des islamischen Niedergangs
Alles, was die folgenden 1.300 Jahre dem Islam an Auslegung und Bräuchen hinzufügten, ist nach Meinung der Salafisten Irrtum. Es wird als "Neuerung" (Bidah) verworfen. Dazu zählen moderne Interpretationen des islamischen Rechts, die mystisch orientierten Sufi-Orden, die Verehrung von Heiligen und ihren Gräbern, weil der Gläubige keinen Vermittler zu Gott braucht, und die schiitische Richtung des Islam.
In der strikten Befolgung der Gebote sehen die Salafisten den Grund für die rasche Ausbreitung des Islam in seiner Frühzeit, in den "Neuerungen" die Ursache für den Niedergang der islamischen Welt. Nur durch Rückkehr zu den Prinzipien und Praktiken der ruhmreichen Epoche sei eine Renaissance möglich.
Von den etwa 1,3 Milliarden Muslimen auf Erden dürften weniger als ein Prozent, also etwa zehn Millionen, Salafisten sein. Trotz doktrinärer Strenge hat sich kein kohärentes Lehrgebäude salafistischer Gedanken entwickelt und schon gar keine haltbaren organisatorischen Strukturen. Es bestehen Rivalitäten und Feindschaften innerhalb des Salafismus. Zu anderen fundamentalistischen Richtungen im Islam, die sich wie die Wahabiten Saudi-Arabiens und die Muslim-Brüder zum Teil auf die gleichen Quellen berufen, gibt es Querverbindungen, Affinitäten, aber wiederum auch markante Unterschiede.
In innerer Emigration
Die Muslim-Brüder haben sich schon vor Jahrzehnten für die Teilnahme am politischen Leben und für den Marsch durch die Institutionen als den besseren Weg zur Durchsetzung ihrer Ideen entschieden – auch in der westlichen Welt. Sie tragen Krawatten, lancieren Bürger-Initiativen, gründen Parteien und streben nach Regierungsbeteiligung beziehungsweise legaler Übernahme der Macht.
Die Salafisten sind gespalten in ihrer Reaktion auf die Moderne. Alle lehnen nicht nur Ideologien wie Kapitalismus oder Sozialismus ab, sondern auch Grundelemente westlichen Gemeinschaftslebens wie Demokratie, Verfassungen, Parteien oder sogar entwickelte Volkswirtschaft.
Den Ur-Christen nicht unähnlich, leben sie in innerer Emigration. Einer ihrer Vordenker, Scheich Nasir du-Din al-Albani, lehrt: "Zur guten Politik gehört es heute, die Politik bleiben zu lassen."
Der im Westen wenig bekannte Scheich hatte seine albanische Heimat in den 1940er Jahren verlassen, ging nach Syrien, lehrte später an der speziell für Ausländer gegründeten Universität Medina, lebte im Libanon sowie in den Emiraten und starb 1999 in Amman, wo ein nach ihm benanntes Zentrum existiert.
Gemäß ihrer quietistischen Haltung blieben Salafisten Protesten von anderen Islamisten in der Regel fern. Ein Salafist wird eine Haftpflichtversicherung für sein Auto abschließen, denn er soll nicht zum Rebell werden – aber keinen Kasko-Vertrag, den seine Lehrer der verbotenen Lotterie gleichsetzen. Erst neuerdings wendet sich ein Teil der Salafisten der Politik zu. Wo dies schon seit Jahren geschieht wie in Kuwait verhalten sie sich nicht selten pragmatischer als die Muslim-Brüder.
"Ritter unter der Fahne des Propheten"
Auf der anderen Seite stehen die "Dschihad-Salafisten", so genannt vom französischen Islam-Wissenschaftler Gilles Kepel. Ein Text von Ayman as-Sawahiri, des Nachfolgers Osama Bin Ladens als Guru von al-Qaida, fordert "die Ritter unter der Fahne des Propheten" auf, den Dschihad in den Westen zu tragen, vor allem in die USA, um die westliche Unterstützung für gottlose arabische Regime zu schwächen. So werde deren Sturz gefördert und das Endziel eines islamischen Staates für die Umma, die gesamte Gemeinschaft der Gläubigen, rücke näher.
Für Dschihad-Salafisten ist auch die Tötung von Unbeteiligten erlaubt. Die Attentate auf Pariser Vorortszüge im Jahre 1995 sollten Frankreich für seine Unterstützung des algerischen Militärregimes strafen, das die Islamisten unterdrückte. Die Anschläge vom März 2004 in Madrid waren dazu bestimmt, Spanien zum Abzug seiner Truppen aus dem Irak zu pressen.
Über die Missionare unter den Salafisten haben sich westliche Sicherheitsdienste kaum aufgeregt, so lange sie unter den Millionen Muslimen in Europa nur Grüppchen überzeugen konnten. Die Lage ändert sich, wenn jeder brutale Gewalttäter islamischer Herkunft für sich das Etikett "Salafist" reklamiert.
Noch immer hört die große Mehrheit der Salafisten auf den saudischen Theologen Ibn Uthaymin, Mitglied des Komitees führender Glaubenslehrer des Landes. Von ihm stammt die berühmte Fatwa, in der es heißt: "Der Urheber eines Selbstmordanschlags wird für alle Ewigkeit in der Hölle sein."
Rudolph Chimelli
© Süddeutsche Zeitung 2012
Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de