Politischer Islam, politisches Judentum

Israels neue nationalreligiöse Elite
Brigadegeneral Oren Solomon auf der Tagung "Zeit der Entscheidung" des "Forums der Kommandeure und Kämpfer der Reserve". Er gilt als der Verfasser eines Manifests, in dem zur Vertreibung der Palästinenser im Gazastreifen aufgerufen wird. (Foto: NDR Fernsehen)

Der Angriff der Hamas vom 7. Oktober hat in Israel eine Tendenz verstärkt, die vorher bereits virulent war. Nationalreligiöse Fanatiker gewinnen weiter an Einfluss. In Deutschland zieht man es vor, lieber nur von den Gefahren des Islamismus zu sprechen und schaut nicht so genau hin.

Essay von Stefan Buchen

Am 19. Juni versammelten sich mehrere hundert israelische Reserveoffiziere und -soldaten in Tel Aviv. Sie mieteten dafür einen Saal in den Messehallen an. Sie stellten die Veranstaltung unter das Motto "Zeit der Entscheidung". Eingeladen hatte das "Forum der Kommandeure und Kämpfer der Reserve", ein Zusammenschluss hochrangiger Offiziere der israelischen Armee, der organisatorisch eher lose, ideologisch dagegen umso fester auftritt.

Bei der Tagung wurde ein kleines Heft verteilt, als dessen Verfasser sich Brigadegeneral Oren Solomon, Mitglied des "Forums", zu erkennen gibt. Das Manifest trägt die Überschrift "Kernpunkte der erforderlichen Strategie im Gazastreifen". Auf dem Deckblatt wird der laufende Feldzug als "Krieg um Israels Existenz" charakterisiert.  

Der Angreifer wolle Israel vernichten. Er müsse dafür mit dem Verlust von Land und Häusern bezahlen. Den Arabern müsse folgendes Narrativ eingebläut werden: "Von der Nakba 1948 über die Naksa 1967 bis zur Kāriṯha (Katastrophe) 2023". Aus der nördlichen Hälfte des Gazastreifens bis zu dem Keil, mit dem die Armee das Palästinensergebiet geteilt hat, seien sofort sämtliche Bewohner zu "vertreiben", heißt es in dem Text.  

Brigadegeneral Hezi Nehama auf der Tagung
Der Gaza-Krieg als "Freudenfest": Der 7. Oktober fiel auf einen jüdischen Feiertag, simḥat tōra, das Freudenfest der Tora. Davon abgeleitet nannte Brigadegeneral Hezi Nehama bei einer früheren Gelegenheit den dadurch ausgelösten Krieg "milḥemet simḥat tōra", also “Krieg des Freudenfestes der Tora”. (Foto: NDR-Fernsehen)

Religiöse Radikalnationalisten in Uniform

In der Folge sei zu überlegen, ob gleiches auch in den südlichen Teilen des Gazastreifens erfolgen könne. Diese Vertreibungen würden eine Botschaft zu den Arabern im Westjordanland und im Libanon tragen: "Seht her, das ist der Preis des Krieges." 

Parallel sei ein Plan zur Wiederbebauung des Gazastreifens nötig, dessen Einzelheiten "in diesem Dokument" nicht erläutert würden, so Brigadegeneral der Reserve Solomon. Des Weiteren kritisiert er in dem Manifest die bisherige Kriegsführung der Armee als nicht entschlossen und nicht nachhaltig genug.  

Jedes Gebiet, das erobert werde, müsse von den israelischen Soldaten auch gehalten werden, fordert Solomon. Die Schläge hätten "kontinuierlicher" und "aus mehreren Richtungen gleichzeitig" zu erfolgen. Der Hamas dürfe nicht die Gelegenheit gegeben werden, sich zu erholen. Der Feldzug gegen alle Teile des Gazastreifens habe mit erhöhter Feuerkraft und frischen Kampfeinheiten von vorne zu beginnen.  

Das "Forum der Kommandeure und Kämpfer der Reserve" ist Teil der Armee ("Fleisch von ihrem Fleische", wie sie selbst sagen), aber gleichzeitig sieht es sich als deren geistige und politische Elite. Seine Mitglieder sind religiöse Radikalnationalisten in Uniform. 

Sie streben nach Macht und Einfluss im Staat. Sie stehen dafür, was im Militär, in der Politik und in der Gesellschaft Israels passiert. Es ist das Resultat einer jahrzehntelangen Entwicklung, die nach dem Junikrieg von 1967 und der Eroberung von Sinai, Gazastreifen und Westjordanland einschließlich Ostjerusalems begann.   

Israelischer Wohnungsbau im Westjordanland (Archivbild)
Israelischer Wohnungsbau im Westjordanland: Die erste handfeste Organisation der neuen nationalreligiösen Bewegung, Guš Emūnīm, setzte sich für die Gründung jüdischer Siedlungen ein, ab der Amtsübernahme des ersten Likud-Premierministers Menahem Begin im Jahre 1977 mit steigendem Erfolg. Heute leben in den besetzten Gebieten Westjordanland und Ostjerusalem fast eine Million jüdische Siedler. (Archivbild) (Foto: Ariel Schalit/AP/picture alliance)

Umdeutung des Staates Israel

Im Westjordanland und in der Altstadt von Jerusalem herrschte der Staat Israel ab dem 10. Juni 1967 über Gebiete, in denen die Pioniere der nationalreligiösen Bewegung die Wiege des Judentums erkannten: Šḵem (arabisch Nablus), Jericho, Hebron und der Tempelberg.  

Die erste handfeste Organisation der neuen Bewegung, Guš Emūnīm, setzte sich für die Gründung jüdischer Siedlungen ein, ab der Amtsübernahme des ersten Likud-Premierministers Menahem Begin im Jahre 1977 mit steigendem Erfolg. Heute leben in den besetzten Gebieten Westjordanland und Ostjerusalem fast eine Million jüdische Siedler.  

Diese Entwicklung begann jedoch weniger mit dem militärischen Sieg von 1967 selbst als vielmehr mit der Interpretation der damaligen Eroberungen. Die nationalreligiösen Pioniere werteten diese als Zeichen der nahenden Erlösung. Sie fühlten sich von Gott beflügelt. Ihr Sendungsbewusstsein ging so weit, dass sie den Sinn und Zweck des Staates Israel umdeuteten.   

Täglich gehen Familienangehörige von Geiseln auf die Straße, um die israelische Regierung unter Druck zu setzen
Täglich gehen Familienangehörige von Geiseln auf die Straße, um für einen Deal zu demonstrieren. Manche Nationalreligiöse fordern, die Geiseln lieber als tot zu betrachten. Das vergrößere den Handlungsspielraum der Armee beim Vorgehen in Gaza. Wenn noch Geiseln befreit würden, dann nur mit Gewalt. Diese Meinung wird heute in nationalreligiösen Kreisen vertreten. (Foto: Tania Kraemer/DW)

Nationalreligiöse Umdeutung

Dieser Staat war von seinen Gründern als säkular und demokratisch konzipiert worden. Juden sollten dort - zumal nach den Schrecken des Massenmordes durch die Deutschen - sicher, selbstbestimmt und frei von Verfolgung leben können. 

Obwohl die politische Führung der arabischen Bewohner des Landes, also der Palästinenser, und die mit ihnen verbündeten Nachbarn einen Staat der Juden ablehnten und diesen bekämpften, also trotz des bitteren Krieges von 1947- 48, war Israel ursprünglich nicht darauf ausgerichtet, einen ewigen Kampf gegen die arabischen Nachbarn im Innern und Äußern zu führen. 

Eine Chance auf Koexistenz war vielmehr im ursprünglichen Staat Israel angelegt. Als größtes Hindernis erwiesen sich die hunderttausenden vertriebenen Palästinenser von 1948, die "nach Hause" wollten. Der Weg blieb ihnen versperrt. Stattdessen wanderten hunderttausende Juden aus den arabischen Staaten - von Marokko bis zum Irak - nach Israel ein. 

Die nationalreligiöse Umdeutung nach den Eroberungen von 1967 hob den eher irdischen Staat Israel auf die Ebene eines Werkzeuges in der Hand des Allmächtigen. Die junge Bewegung fühlte sich als Vollstreckerin des göttlichen Willens, wenn sie den Standpunkt vertrat, dass nur Juden ein Recht auf das Land zwischen Mittelmeer und Jordan hätten. 

Dabei betrieben die Nationalreligiösen von Anfang an nicht bloß die physische Besatzung von erobertem Land. Sie wollten auch den inneren Charakter des Staates verändern weg von einem säkularen und hin zu einem vom jüdischen Religionsgesetz (ihrer Lesart!) geprägten Gottesstaat. Die säkularen Zionisten wurden als nützliche Esel betrachtet, die unbewusst das Werk Gottes vorbereitet hatten, deren Zeit aber nun abgelaufen sei.  

Gemeinsamkeiten mit dem politischen Islam

Der große französische Soziologe und Zeithistoriker Gilles Kepel sprach von einer "Rejudaïsation par le haut" (Rejudaisierung von oben). Als erster europäischer Forscher hat Kepel die Anfänge dieser Wandlung bereits 1991 eindringlich beschrieben. Sein Buch trug den markanten Titel "La Revanche de Dieu" (Die Rache Gottes).  

Es zeigt Parallelen zwischen der von politischen Ambitionen getragenen Rückkehr zur Religion in der jüdischen und islamischen Welt (ohne die christliche zu vergessen) auf. So stellte Kepel etwa Gemeinsamkeiten zwischen den Anhängern der Islamischen Revolution im Iran und der nationalreligiösen Bewegung in Israel fest. Der politische Islam ist seitdem in aller Munde. Vom politischen Judentum spricht indes niemand.  

Kepels frühe Analyse der israelischen Gesellschaft und Politik ist vom weiteren Lauf der Geschichte, also in den vergangenen gut dreißig Jahren, bestätigt worden. Man muss sogar sagen, dass die Realität die erkannten Tendenzen und die damit verbundenen Konflikte noch übertroffen hat.   

Oren Solomon auf der Tagung
Den Arabern müsse folgendes Narrativ eingebläut werden: "Von der Nakba 1948 über die Naksa 1967 bis zur Kāriṯha (Katastrophe) 2023", schreibt Brigadegeneral Oren Solomon in einem Manifest, das auf der Tagung "Zeit der Entscheidung" in Tel Aviv verteilt wurde. (Foto: NDR Fernsehen)

Netanjahu als Geisel der Nationalreligiösen

Das nationalreligiöse Lager in Israel ist demografisch enorm gewachsen und politisch expandiert. Seine Vertreter sitzen nicht nur im Kabinett, sie bestimmen die Linien der Politik, vor allem seit Bildung der aktuellen Regierung unter Premierminister Benjamin Netanjahu am 29. Dezember 2022. Dieser ist heute ihre politische Geisel. 

Sollte in der gegenwärtigen Kriegssituation diese Regierung stürzen und eine Neuwahl fällig werden, dann werden wir es, wie der Journalist Amos Har’el von der säkular orientierten und regierungskritischen Zeitung Ha’aretz warnt, mit der radikalsten geschäftsführenden Regierung der israelischen Geschichte zu tun haben. 

Damit ist gemeint, dass vor einer dann eigentlich anstehenden Neuwahl vieles passieren kann, womöglich die endgültige Abschaffung der heftig wackelnden israelischen Demokratie.  

"Radikale Siedler", "nationalreligiöse Parteien", "Ultraorthodoxe" - diese Begriffe werden durchaus von deutschen Politikern und Medien benutzt, um entsprechende Akteure und Gruppen zu bezeichnen. Es sind vorsichtige Versuche einer Annäherung an die Realität. Doch diese Schlagwörter wirken letztlich bloß als Maske, hinter der Wesentliches verborgen bleibt.   

Sie feiern die Gewalt

Durch das aggressive Handeln der nationalreligiösen Bewegung in Israel ist das Judentum als Ganzes in eine neue historische Phase eingetreten. Eine fanatische, zahlenmäßig wachsende und einflussreiche Politsekte ist entstanden, die das Judentum insgesamt in Mitleidenschaft zieht und die Existenz des Staates Israel gefährdet.  

Ihre Protagonisten geben vor, zu den Wurzeln der Religion zurückzukehren und deren eigentliche Bestimmung zu verwirklichen. In Wahrheit jedoch verachten sie die jüdische Tradition und treten sie mit Füßen. Die eigene Geschichte deuten sie mit einer ideologischen Tendenz, die dahin geht, enthemmte Gewalt nicht bloß zu rechtfertigen, sondern zu feiern. Ihr Hass richtet sich gegen demokratisch denkende Israelis, die sie mit dem Schimpfwort "Linke" (smōlanīm) abkanzeln, vor allem aber gegen die Araber und den Islam.  

Am 7. Oktober 2023 haben Bewaffnete der ebenfalls nationalreligiösen palästinensischen Hamas und ihre Verbündeten in Israel ein blutiges und sadistisches Massaker an Juden angerichtet. Für die israelische Gesellschaft war es ein Schock, der Angstbilder von der Shoa vor achtzig Jahren in Europa weckte.  

Der Krieg als "Freudenfest"

Aber wie denken nationalreligiöse Israelis über den mörderischen Angriff? Der 7. Oktober fiel auf einen jüdischen Feiertag, simḥat tōra, das Freudenfest der Tora. Davon abgeleitet nennen sie den dadurch ausgelösten Krieg "milḥemet simḥat tōra", also “Krieg des Freudenfestes der Tora”. 

So drückt sich etwa Brigadegeneral Ḥezī Neḥama, ein Wortführer des "Forums der Kommandeure und Kämpfer" aus. Was soll damit gesagt werden? Der Krieg ist ein Freudenfest. Die Attacke der Hamas war ein Geschenk Gottes, denn sie hat einen segensreichen heilsgeschichtlichen Sprung nach vorne ermöglicht. Es gilt jetzt nur, dieses Zeichen zu verstehen und entschlossen das Richtige zu tun.  

Was für diese fanatische Sekte das Richtige ist, steht auf einem unsignierten Flugblatt, das auch am 19. Juni auf der Offizierstagung "Zeit der Entscheidung" in Tel Aviv herumgereicht wurde. Es geht weiter als das eingangs zitierte Manifest. "Der Krieg darf erst beendet werden, wenn es keine Araber mehr im Gazastreifen gibt", ist da zu lesen. 

Zwei praktische Wege zu diesem Kriegsziel werden vorgeschlagen: Erstens: Die arabischen Bewohner werden von Osten nach Westen an den Strand von Gaza getrieben. Dort werden tausende Schlauchboote bereitgestellt. "Das Ergebnis werden wir dann im Hafen von Port Said (Anm.: in Ägypten) und in Europa sehen," heißt es.

Zweitens sollen sich die Einwohner von Gaza vor ihren zerstörten Häusern filmen und den Wunsch äußern, dass Israel sie mit Kreuzfahrtschiffen nach Europa bringen solle. Israel werde Tausende dieser Videos dann weltweit verbreiten. Der Geheimdienst könne diese Aktion organisieren. Egal welcher der beiden Wege beschritten werde, das Ziel, so endet das Flugblatt, sei klar: Transfer!  

Premier Benjamin Netanjahu (l.) und Finanzminister Bezalei Smotrich (Archivbild)
Premierminister Benjamin Netanjahu (links) sei eine politische Geisel der Nationalreligiösen in seinem Kabinett, schreibt Stefan Buchen. Auf dem Bild mit Finanzminister Bezalei Smotrich (Archivbild) (Foto: Ronen Zvulun/Pool Reuters/AP/dpa)

Eine fanatische Sekte unterwandert Israel

Es klingt wie der Abklatsch einer billigen Brunnenvergiftungslegende aus dem europäischen Mittelalter. Aber es ist die ideologische Wirklichkeit in Israel im Jahr 2024. Die deutschen Politiker von Olaf Scholz bis Annalena Baerbock scheinen keinen blassen Schimmer davon zu haben. Stattdessen schwadronieren sie von der "einzigen Demokratie im Nahen Osten". 

Es gehört zum guten Ton für deutsche Politiker, dass sie beteuern, wie gründlich sie aus der eigenen Geschichte gelernt haben. Sie übertragen dieses Lernen in eine uneingeschränkte Solidarität mit der israelischen Regierung, egal wer dort amtiert und wie regiert wird. 

Es ergibt sich ein Verdacht: So gut scheinen die wohlmeinenden deutschen Politiker die eigene Geschichte gar nicht zu kennen. Wer waren die Opfer der Shoa? Wer waren die ermordeten Juden? Wer das Judentum und seine Geschichte nicht kennt, kann auch die Monstrosität der Abweichung, in die eine fanatische Sekte den Staat Israel stürzt, nicht ermessen.  

Aus der Zeit der Kreuzzüge hat sich ein interessantes Dokument erhalten. Es stammt aus Ägypten und bezieht sich auf Juden, die von einer der Kriegsparteien als Geiseln genommen worden waren. Das Schriftstück geht auf Moše ben Maymōn (1135-1204, arabisch: Mūsā ibn Maymūn, griechisch-lateinisch: Maimonides) zurück, der nicht nur ein Gelehrter, sondern auch eine politische Autorität in der Welt der jüdischen Gemeinden war.   

Moše ben Maymōn befand, dass es oberste Priorität sei, die Geiseln freizukaufen und forderte die Gemeinden auf, Geld für diesen Zweck zu sammeln. Als Rechtsmeinung zum "Freikauf von Geiseln" (pidayon švuyīm) ist dieses Dokument in die jüdische Geschichte eingegangen. 

Anstatt um die Freilassung der israelischen Geiseln, die in Gaza von der Hamas festgehalten und gequält werden, zu verhandeln, sei es besser, diese als tot zu betrachten. Das vergrößere den Handlungsspielraum der Armee beim Vorgehen in Gaza. Wenn noch Geiseln befreit würden, dann nur mit Gewalt. Diese Meinung wird heute in nationalreligiösen Kreisen vertreten. 

So äußerte sich etwa die Publizistin ʿIrīt Līnūr bei einer Diskussionsrunde auf Channel 14, dem einschlägig bekannten TV-Sender. 

Līnūr ist gar nicht religiös, aber darauf kommt es der Sekte, um die es hier geht, nicht an. Hauptsache, die Ideologie stimmt. Und die nationalreligiöse Ideologie schreckt vor dem Verrat am größten Gelehrten und Vorbild der postbiblischen jüdischen Geschichte nicht zurück.  

Maimonides hörte von Turbulenzen in der jüdischen Gemeinde in Jemen. Man sei dort von der nahen Erlösung, dem baldigen Erscheinen des Messias, überzeugt. Nachts würden die Menschen auf die Dächer steigen, um den Messias zu begrüßen. Von seinem Wohnsitz in Fuṣṭāṭ südlich von Kairo aus schickte Maimonides einen Brief an die bedrängten und offenbar verwirrten Glaubensbrüder in Jemen. 

Darin warnte er davor, das Ende der Zeiten zu berechnen, herbeizusehnen und zu meinen, man könne alles noch durch eigene Taten beschleunigen. Der Brief an die Gemeinde in Jemen aus dem Jahr 1172 ist ein Zeugnis geistiger Orientierung und politischer Führung in schwierigen Zeiten. Es ist die ultimative Warnung vor dem auf das Ende hineifernden Sektierertum.  

Zerstörungen in der Stadt Dschabalia im Norden des Gazastreifens
Mitleid mit palästinensischen Zivilisten? Fehlanzeige. Rabbi Eliahū Mālī, ein Wortführer der nationalreligiösen Bewegung, forderte jüngst, die palästinensischen Kinder zu töten, weil diese sonst künftig "uns" töten, und die Frauen, weil diese sonst künftige feindliche Kämpfer gebären würden. (Foto: Mahmoud Issa/Middle East Images/picture alliance)

Moše ben Maymōn ist über die Generationen Leitfigur eines rationalistischen und menschenfreundlichen Judentums geblieben. Er versöhnte Glauben und Vernunft. Den Aufstand des Aberglaubens gegen die Vernunft hat er bekämpft. Der Biochemiker, Philosoph und Friedensaktivist Yešaʿyāhū Leibowitz (1903-1994), der vor den Nazis aus Europa nach Palästina/Israel floh, berief sich auf ihn.  

Er sah sich, zusammen mit dem Arabisten Šlōmō Dov Fritz Goitein (1900-1985), als intellektueller Sachwalter Moše ben Maymōns im 20. Jahrhundert. Leibowitz hat die sektiererische Abweichung nach 1967 vorausgesehen. Er warnte davor, dass die Gewaltherrschaft über besetzte Gebiete die israelische Gesellschaft von innen zerstören werde.  

An diesem Punkt sind wir fast angekommen. Die Wehrhaftigkeit, die sich als zionistischer Konsens aus der katastrophalen Erfahrung der Shoa ableitete, ist von der nationalreligiösen Sekte in eine Ideologie der aggressiven, religiös begründeten Gewalt umgewandelt worden. Dabei haben die politisch-geographischen Grenzen an Bedeutung verloren.  

Es geht dieser Bewegung nicht mehr primär um einen neu definierten Staat Israel inklusive Gaza und Westjordanland. Es geht um ein Leben als Kampf und das Töten möglichst vieler Feinde. Der Rabbi Eliahū Mālī, ein Wortführer der Bewegung, spricht von "milḥemet mitsva", der jüdischen Version des Dschihad. Der Würdenträger forderte jüngst, die palästinensischen Kinder zu töten, weil diese sonst künftig "uns" töten, und die Frauen, weil diese sonst künftige feindliche Kämpfer gebären würden.  

Die soziopolitische und demografische Dynamik gibt der nationalreligiösen Politsekte weiter Auftrieb, zumal auf der anderen Seite der militärischen Front ein Feind steht, der, auch wenn er weniger Machtmittel zur Verfügung hat, von einem ähnlichen Vernichtungswillen beseelt ist. Neben der Bedrohung von außen war das Judentum immer mal wieder durch sektiererische Umtriebe von innen bedroht. Diese Gefahr war wohl noch nie so groß wie heute.  

Stefan Buchen 

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Der Autor arbeitet als Fernsehjournalist für den NDR. Er studierte von 1993 bis 96 arabische Sprache und Literatur an der Universität Tel Aviv.