"Die letzte Station vor der Hölle"
Es ist immer aufregend, bei Menschen, die man gut zu kennen glaubt, neue Qualitäten zu entdecken. Dies trifft etwa auf den iranischen Philosophen Ramin Jahanbegloo zu, der mit seiner packenden Autobiographie ein literarisches Talent seltener Intensität offenbart.
In "Time Will Say Nothing" erzählt er von der Zeit, die er in einem Teheraner Gefängnis verbrachte. Viele von uns kannten ihn schon seit einiger Zeit dank seiner aufschlussreichen Essays über Gewaltverzicht und seiner brillanten Bücher mit Gesprächen, die er mit großen Persönlichkeiten unserer Zeit geführt hatte, von denen das mit dem liberalen britischen Philosophen Isaiah Berlin wohl unerreicht bleiben wird.
Mit seinem neuen Buch überrascht Jahanbegloo uns nicht nur mit seiner Fähigkeit, mit größter Natürlichkeit zu erzählen, sondern auch mit einem erzählerischen Scharfsinn, der umso mehr erstaunt, als er ihn gerade bei der Beschreibung eines Lebensabschnitts an den Tag legt, der wohl zu den dramatischsten gehören dürfte, die man sich vorstellen kann.
Schon der Titel selbst, ein Vers aus einem Gedicht des Lyrikers W.H. Auden ("If I could tell you") ruft etwas hervor, das das Gewöhnliche transzendiert und uns in eine Sphäre entführt, in der sich das Unsagbare, das Absurde und die unausweichliche Rohheit der Realität vermischen und miteinander verschmelzen – ohne Sicherheitsnetz.
Gleichzeitig verweist der Buchtitel auf subtile Art und Weise auf eine innere Tiefe und Intensität, und damit auf das, woran sich der Autor klammerte, um die schreckliche Realität des Gefängnisses zu überleben. Auf diese doppelbödige Art geht Jahanbegloo seine Erzählung von einer Welt an, die urplötzlich in sich zusammenfällt. Damals im April 2006, als er auf dem Flughafen von Teheran festgenommen und in die Abteilung 209 des Evin-Gefängnisses gebracht wurde, der berüchtigten, als "Letzte Station vor der Hölle" bekannten Haftanstalt, in der die politische Polizei des Iran ihre Gefangenen unterbringt.
Zeit in Auflösung
Hier war es auch, wo sich die Zeit für Jahanbegloo aufzulösen begann. Und dank seines beachtlichen Talentes als Geschichtenerzähler geht es dem Leser genauso, findet der sich doch schon bald in einen beängstigenden Alptraum versetzt. Eingeschlossen ohne zu wissen, warum; eines Vergehens angeklagt, an das er noch nicht einmal gedacht hatte, es zu begehen; verurteilt einzig deshalb, weil das, was er geschrieben hatte, als Bedrohung für das System angesehen wurde.
Kafkaeske Angst dominiert deshalb den Beginn der Geschichte. Und obwohl es keinen Zweifel daran geben kann, dass man unter bestimmten Umständen von seinem Unterbewussten geleitet wird, so vermittelt uns doch der Anfang von "Time Will Say Nothing" das Gefühl einer unbedingten Gewissheit.
Das Innere ist das Einzige, an das der Mensch sich festhalten kann – inmitten des unkontrollierbaren Stroms des Lebens. Und hier schon offenbart sich auch der doppelte Sinn des Buchtitels: Natürlich ist es wahr, dass Jahanbegloo eine Familie hat, die ihn unterstützte – das Buch ist seiner Mutter gewidmet – eine Familie, die wir kennenlernen und der wir uns schon bald sehr verbunden fühlen.
Auch besitzt er international hoch angesehene Freunde, darunter den italienischen Diplomaten Roberto Toscano, zu jener Zeit italienischer Botschafter im Iran – Freunde, die eine ungeheure internationale Kampagne initiieren konnten, die auch zu seiner späteren Freilassung führen sollte.
Der wichtigste Faktor aber, den uns der Beginn der Geschichte vor Augen führt, ist die Bedeutung der inneren Dimension. Dies ist der Grundpfeiler. Sie erlaubt uns, Jahanbegloo zu verstehen, der uns befreit und die Freiheit als etwas darstellt, das zu wertvoll ist, um es wirklich erfahren zu können. Und auf diese Art, indem wir dort mit ihm sind – mit einer Kapuze über den Kopf gezogen; ohne Nachrichten von den Angehörigen, nicht einmal der eigenen Frau; inmitten der schrecklichen und surrealen Verhöre – stellen wir fest, dass man sich darin eben nicht verliert, sondern sich eher selbst wiederfindet.
Wenn es in diesem exzellenten Buch einen Aspekt geben sollte, der uns am ehesten ein Gefühl der Verbundenheit und Nähe zum Autor vermittelt, dann geschieht dies, indem wir mit ihm gemeinsam ergründen, dass wenn jemand ganz allein auf sich selbst gestellt ist, es genau diese Umstände sind, die universell gültige Werte in uns wachrufen. Erst sie verbinden uns mit der Welt. Und ohne sie wäre es wohl unmöglich, uns selbst als menschliche Wesen anzusehen. Im meisterhaften Erkunden dieses Faktors liegt vielleicht der originellste Aspekt von Jahanbegloos Gefängnis-Erzählung.
Bizarrer Initiationsritus
"Time Will Say Nothing" ist eine Geschichte, die eine geradezu dantesche Dimension erreicht. Es ist überaus bewegend zu sehen, wie es Jahanbegloo gelingt, angesichts des Verlusts jeglicher Gewissheiten, konfrontiert mit der Brutalität der Gefängniswärter, all diesen Schmerz noch als eine Art Initiationsritus anzusehen.
In einem prägnant gehaltenen kritischen Dialog mit den kulturellen und religiösen Traditionen seines Landes und mit all seiner Erfahrung als international bedeutender Philosoph entwickelt Jahanbegloo seine Gedanken in einer Erzählung, die historisch, persönlich, philosophisch und ethisch zugleich ist.
Die große Liebe, die er trotz allem noch für sein Heimatland empfindet, die Macht der Ideale, die ihm von seiner Mutter und seinem Vater vermittelt wurden, all sein rastloses intellektuelles Wandern zwischen West und Ost sind die Elemente, die er miteinander verbindet, ohne dabei sentimental oder banal zu wirken und damit den Leser zu ermüden.
Im Gegenteil: Sein persönlicher Stil, gespickt sowohl mit einer Fülle kultureller Referenzen aus Literatur und Film, Dichtung und Philosophie der westlichen wie östlichen Tradition, als auch seine Dialoge mit einigen der wichtigsten Persönlichkeiten unserer Zeit – vom Dalai Lama zu Vaclav Havel –, in denen er historische wie aktuelle Themen behandelt, tragen zur Kontinuität bei und erleichtern das Lesen.
Auf der Suche nach dem dritten Weg
Im Verlauf seines Gefängnisaufenthalts gelingt es Jahanbegloo, nicht nur ein überzeugendes historisches, kulturelles und politisches Bild des Iran zu zeichnen, sondern auch all seine persönlichen und intellektuellen Lebenspfade zusammenzuführen.
Es ist eine Geschichte, die ihren Höhepunkt erreicht, als der Autor im August 2006 wieder freigelassen wird. Hier überrascht uns Jahanbegloo auf andere Weise: mit seiner zuweilen entwaffnenden Offenheit und damit, dass er oft einfach nur den Ablauf von Ereignissen wiedergibt, ohne uns argumentativ auf seine Seite ziehen zu wollen.
Er schreibt von seiner Müdigkeit, seinem Lebenswillen, seiner Ethik, seiner Suche nach einem dritten Weg. Die Widersprüche, die sich auf diesen Seiten finden und die zu den eindringlichsten im Buch gehören, sind nicht immer leicht nachzuvollziehen, da er, vor dem Hintergrund einer internationalen Solidaritätskampagne zu seiner Freilassung in Form einer Petition von mehr als 400 Intellektuellen – von Noam Chomsky bis Amartya Sen –, letztlich gezwungen war, der Forderung des iranischen Regimes nach einem "Geständnis" nachgeben musste.
Dieser Teil des Buches ist nicht leicht zu lesen, da offenbar wird, dass die Durchlässigkeit des Evin-Gefängnisses, die Dimension zwischen dem Unsagbaren und der Rohheit, sich auch auf einen Mann wie Jahanbegloo auswirken musste. Jahanbegloos Humanität wandelt sich hier und die heroischen Aspekte, die man zuvor geneigt war, überall in seiner Erzählung zu finden, verblassen ein wenig zugunsten einer anderen Art der Selbstbeobachtung, in denen allgemein-menschliche Faktoren die Oberhand gewinnen.
Was dabei entsteht, ist ein Sensorium für eine unauflösbare moralische Spannung und Zerrissenheit des Autors. Nicht ohne ein ungewöhnliches Maß an Offenheit gibt er zu, dass er in seinen späteren Jahren im kanadischen Exil unter Depression litt. Doch auch wenn dies der Preis dafür sein mag, wenn die Lebensläufe einen Menschen solch schweren Prüfungen ausgesetzt sind, so steht fest, dass diese hellsichtige Analyse seiner Freilassung uns einen Mann zurückbringt, dem nichts von seiner Humanität genommen werden konnte.
In "Time Will Say Nothing" wird der Leser auch die intensivsten und konstruktivsten Momente eines Buches erfahren, das uns niemals aus der Pflicht entlässt, uns immer wieder die Komplexität und Unausweichlichkeit unserer ethischen Verantwortung selbst vor Augen zu führen. Denn auch wenn "die Zeit nur sagt, ich hab' es ja gewusst", so können wir doch der Zeit noch sehr viel sagen.
Fabrizio Petri
© Resetdoc 2014
Übersetzt aus dem Englischen von Daniel Kiecol