Hundert Jahre arabischer Feminismus

A woman speaks into a megaphone at a demonstration, other women walk behind her.
In langer Tradition: Eine Frau mit der T-Shirt-Aufschrift „Feministinnen“ protestiert in Tunis (Foto: Picture Alliance / NurPhoto | C. Ben Ibrahim)

Von Tunesien bis Saudi-Arabien: Seit Jahrzehnten streiten arabische Frauen für ihre Rechte, wehren sich gegen Gewalt und fordern Selbstbestimmung über ihre Leben und Körper. In diesem Buch kommen sie selbst zu Wort.

Von Ceyda Nurtsch

„Wir wollen endlich für uns selbst sprechen. Wir sind nicht diese armen, unterdrückten Opfer, die vom Westen gerettet werden müssen“, erklärte die emiratische Autorin und Kolumnistin Dubai Abulhoul entschlossen und meinungsstark auf der Abu Dhabi Book Fair 2023. Ihre Forderung hat sich Claudia Mende, Autorin mit Schwerpunkt Naher Osten und Nordafrika und ehemalige Qantara-Redakteurin, zur Aufgabe gemacht. In ihrem Buch „Wir sind anders, als ihr denkt“ zeichnet sie den Kampf arabischer Frauen nach, denen es um Selbstbestimmung über ihr Leben geht und um das Ende männlicher Dominanz. 

Das Besondere ist, dass Mende Aktivistinnen, Anwältinnen, Genderforscherinnen, Soziologinnen, Journalistinnen, LGBTQ-Aktivistinnen, von Ägypten bis Tunesien, vom Libanon bis Saudi-Arabien, interviewt hat und sie selbst von ihren Anliegen erzählen lässt. Sie geben einen unmittelbaren Einblick in ihre Kämpfe, Herausforderungen und Errungenschaften. Die Autorin schafft es, ihren Leser*innen das Gefühl zu vermitteln, bei den Gesprächen, die sie mit Sozialarbeiterinnen, Frauenrechtlerinnen oder Unternehmensberaterinnen in Marrakesch, Rabat und Aman geführt hat, dabei zu sein.  

Buchcover von "Wir sind anders als ihr denkt", Westend Verlag
Buchcover: Westend Verlag 2024

Die thematische Bandbreite ist beeindruckend: die Rolle der arabischen Frauen im antikolonialen Kampf, ihre Auseinandersetzung mit dem Staatsfeminismus, die Entstehung des islamischen Feminismus, der Kampf von LGBTQs, Jungfräulichkeit, Abtreibung, Genitalverstümmelung, sexualisierte Gewalt gegen Frauen und vieles mehr. 

Schnell zeichnet sich ein differenziertes Bild der Vielfältigkeit des arabischen Feminismus ab, was gleichzeitig der westlichen Öffentlichkeit einen Spiegel vorhält: Wieso halten sich die Bilder des „frauenfeindlichen Islam“ und der „passiven, unterdrückten arabischen Frau“ so hartnäckig? Das Buch ist ein Appell, den nach wie vor einseitigen medialen Fokus auf Kopftuch, Zwangsehen und „Ehrenmorde“ endlich aufzubrechen.  

Und noch eine Anregung hält das Buch für europäische Leser*innen bereit: die Reflektion darüber, welche Rolle die eigenen puritanischen Vorstellungen spielen, die arabische Länder während der Kolonialzeit übernahmen. Etwa beim Thema gleichgeschlechtliche Liebe. Diese wurde in arabischen Gesellschaften historisch oftmals stillschweigend hingenommen, erst durch die Konfrontation mit europäischen Denkmustern wurde eine klare Linie zwischen erlaubter und verbotener Sexualität gezogen.

Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu westlichen feministischen Bewegungen

Claudia Mende zeigt, wie sich die Frauenbewegungen im politischen und gesellschaftlichen Kontext ihrer Zeit und ihres Landes entwickelten, und macht gleichzeitig auf Parallelen zur Entwicklung der westlichen Frauenbewegungen aufmerksam. Das gilt beispielsweise für die Anfänge der Bewegung, welche auf eine Gruppe von Frauen um Hoda Shaarawi aus der gehobenen ägyptischen Ober- und Mittelschicht in den 1920er Jahren zurückgehen. Erstmals formulierten diese Frauen Themen wie Verheiratung im Kindesalter oder die für Frauen damals faktisch unmögliche Scheidung.  

Diese Phase des feministischen Kampfes ging einher mit Kämpfen um die nationale Unabhängigkeit ihres Landes, aber auch mit anderen zentralen Fragen ihrer Zeit: Warum hinkt die islamische Welt Europa hinterher? Muss man die eigene Kultur ablegen, um misogyne Einstellungen zu überwinden? Ihre Forderungen formulierten sie dabei vor allem für sich, nicht etwa für benachteiligte Frauen wie Hausangestellte, Fabrikarbeiterinnen oder Landfrauen. Wie die Autorin zeigt, war dies eine Gemeinsamkeit mit der „ersten Welle“ der Frauenbewegungen in Europa und in den USA. 

Einen wichtigen Beitrag zur arabischen Frauenbewegung leisteten die führenden Vordenkerinnen eines liberalen, reformorientierten und feministischen Islam, auf die Claudia Mende ausführlich eingeht. Diese Strömung entstand nach der Niederlage gegen Israel im Sechstagekrieg 1967, denn mit der Niederlage verlor auch der säkulare Fortschrittsglaube, wie ihn die sozialistischen Regime in Ägypten, Syrien und Irak propagierten, an Überzeugungskraft.  

Es kam zu einem Rechtsruck in den arabischen Gesellschaften und zum Aufstieg des politischen Islam. Innerhalb dieser Bewegung entstand, als dessen „ungewolltes Kind“, so die iranische Forscherin Ziba Mir-Hosseini, der islamische Feminismus. Dieser hatte zwei Stoßrichtungen: Gegen die Bevormundung durch westliche Feministinnen und gegen eine frauenfeindliche Lesart des Koran, die dazu dient, patriarchale Strukturen zu rechtfertigen.  

Diese religiösen Frauen hatten ihre eigene Interpretation der heiligen Texte und leiteten aus ihnen Selbstbestimmung, Freiheit und Gleichheit ab. Gleichzeitig entdeckten diese Frauen – das Spektrum reicht von eher konservativen bis zu radikalen Stimmen – historische weibliche Religionsgelehrte wieder und arbeiteten daran, die ausschließlich von Männern vorgenommene islamische Rechtsprechung zu demokratisieren. Heute führen diesen Kampf vor allem islamische Feministinnen in den USA, Großbritannien und Südasien fort.

Das patriarchale System bröckelt

Kenntnisreich zeigt Claudia Mende in ihrem Buch, wie sich Lebensrealitäten, Geschlechterrollen und auch die Frauenbewegung über die Jahrzehnte veränderten, oftmals in schwierigem politischen Umfeld und in einem Spannungsfeld von traditioneller Vorstellung von Familie und Ehre auf der einen und moderner Rechtsauffassung auf der anderen Seite. 

Das Buch erzählt auch davon, wie Frauen bei der Arabellion 2011 eine weitaus größere Rolle einnahmen als gemeinhin angenommen. Es berichtet vom Engagement von Frauen wie der ägyptischen Aktivistin Asmaa Mahfouz, der mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichneten jemenitischen Journalistin und Aktivistin Tawakkol Karman und vielen weiteren. Und es erzählt davon, wie der westliche „weiße“ Feminismus aufgrund des kolonialen Erbes die Kämpfe vieler dieser Frauen, die im globalen Süden gegen Ungleichheiten kämpfen, nach wie vor nicht sieht.

Während des hundertjährigen Kampfes der Frauen haben sich ihre sozialen Realitäten verändert. Etwa aufgrund der wirtschaftlichen Situation, die Männer dazu zwingt, im Ausland zu arbeiten und die Frauen damit zu den Familienoberhäuptern macht. Das Buch zeigt die Kreativität, mit der Frauen den „Jungfrauentest“ umgehen, der mancherorts unter dem Vorwand, ihre voreheliche Jungfräulichkeit zu prüfen, durchgeführt wird. 

In Ägypten, Jordanien und Katar werden heute vierzig Prozent der Ehen geschieden. Die heutige Situation ist davon geprägt, dass das patriarchale System bröckelt. Die Gesetzeslage hinkt der gesellschaftlichen Entwicklung jedoch vielerorts noch hinterher. 

Eine neue Solidarität ist nötig

In ihrem Abschlusskapitel erinnert die Autorin mit deutlichen Worten daran, dass westliche Regierungen – geleitet von Wirtschaftsinteressen und Angst vor Migration – jene Regime unterstützen, die Frauen daran hindern, für ihre Rechte zu kämpfen. Aus feministischer Sicht müsse Solidarität mit arabischen Frauen auch ökonomische und politische Umstände und damit auch westliche Mitverantwortung bedenken, so die Autorin. 

In ihrer Argumentation geht sie unter anderem auf eine der aktuell größten humanitären Katastrophen ein: „Im Gaza-Krieg ist die Zahl der toten Frauen und Kinder besonders hoch, sie soll nach UN-Angaben bei 70 Prozent der gesamten Opfer liegen. Hier haben Palästinenserinnen zu Recht die internationale Solidarität lange vermisst. Feministische Solidarität muss hier bedeuten, das Leiden der Opfer auf allen Seiten anzuerkennen und nach gewaltfreien Lösungen für alle zu suchen“, so Mende. 

„Wir sind anders, als ihr denkt“ ist ein kenntnisreich und klar geschriebenes, wichtiges Buch, gerade in dieser Zeit, in der ein Rückzug in ein Schwarz-Weiß-Denken wieder verstärkt die Diskurse bestimmt. Eine Zeit, in der auch Frauen im Westen, etwa in den USA oder Polen, spüren, dass ihre errungenen Rechte und Freiheiten nach wie vor fragil sind und stets verteidigt werden müssen – auf Augenhöhe und gemeinsam.  

 

Wir sind anders, als ihr denkt 
Claudia Mende  
Westend Verlag 2024 
176 Seiten, 16,99 Euro 

 

© Qantara.de