Religiöse Neuerung und gesellschaftlicher Wandel

Afrikas islamische Reformbewegungen befinden sich nicht zuletzt wegen ihres Engagements im Sozial- und Bildungswesen heute im Aufwind. Jedoch haben sie vielerorts einen politischen Charakter angenommen, wie Roman Loimeier berichtet.

Afrikas jüngere islamische Reformbewegungen befinden sich nicht zuletzt wegen ihres Engagements im Sozial- und Bildungswesen heute im Aufwind. Jedoch haben sie vielerorts einen politischen Charakter angenommen und kultivieren verstärkt einen Diskurs gegen Verwestlichung, Korruption und moralischen Verfall. Von Roman Loimeier

Jugendliche spielen Fußball vor einer Moschee in Lagos; Foto: AP
Fußball ist ein wichtiges Merkmal der sozialen Organisation der islamischen Reformbewegung in vielen afrikanischen Ländern geworden.

​​Im Zuge der Modernisierungskrisen des 20. Jahrhunderts entwickelten sich in vielen subsaharisch-afrikanischen Ländern islamische Reformbewegungen, die sich um eine Reform der unterschiedlichen islamischen Gemeinden und Gemeinschaften bemühten.

Dabei bezogen sie sich häufig auf nordafrikanische, arabische, aber auch auf indo-pakistanische Reformtraditionen wie etwa die von Muhammad 'Abduh geprägte Salafîya, die Bewegung der Muslimbrüder, die saudi-arabische Wahhâbîya oder die Schriften von Gelehrten wie Sayyid Qutb und Abul-'A'lâ al-Maudûdî.

Zwischen Modernisierung und Anti-Imperialismus

Doch bilden die jüngeren islamischen Reformbewegungen Afrikas kein einheitliches Bild. Und die Entwicklung islamischer Reformbewegungen hat auch nicht zu einer Vereinheitlichung der muslimischen Gesellschaften Afrikas geführt. Bis heute stellen sie ein buntes Spektrum unterschiedlichster und konkurrierender Interpretationen islamischer Gemeinschafts- und Gesellschaftskonzepte dar.

Diese Komplexität islamischer Reformbemühungen wird noch zusätzlich dadurch gesteigert, dass auch Sufi-Bruderschaften Träger von "modernen" Reformbewegungen sein konnten. Dies gilt etwa für die Bewegung von Ibrahim Niass in Westafrika seit den 1930er Jahren, für die Reformbemühungen der Alawi-Gelehrten in Ostafrika seit den 1890er Jahren, wie auch die der Qâdiriyya-Nâsiriyya in Nordnigeria seit den 1950er Jahren.

Zudem muss die unterschiedliche Geschwindigkeit der Entwicklung muslimischer Reformbewegungen berücksichtigt werden. So gibt es Regionen mit einer langen Tradition von Reformbewegungen, wie etwa Senegal, Nordnigeria, Sansibar, und Regionen, in denen muslimische Reformbewegungen bisher nur eine marginale Rolle spielen wie in Côte d'Ivoire oder Äthiopien.

Die islamischen Reformbewegungen Afrikas sind kein neuartiges Phänomen. Vielmehr schauen auch sie auf eine lange Geschichte und mehrere Entwicklungsphasen zurück, die wiederum stark von lokalen Gegebenheiten beeinflusst waren.

Bestanden in den 1960er und 1970er Jahren noch zeitweilig Interessensidentitäten zwischen den Reformbewegungen und der Staatsmacht in einigen afrikanischen Ländern, wurde diese Kooperation von der jüngeren Generation muslimischer Reformer wieder in Frage gestellt.

Moscheen als Plattform für Regimekritik

Diese jüngste Generation muslimischer Reformorganisationen, etwa die Dschamâ'at 'Ibâd ar-Rahmân (unter der Führung von Sidi Khali Lô) in Senegal, das Islamic Movement (unter der Führung von Ibrahim az-Zakzaki und Yakubu Yahya) in Nordnigeria oder die unterschiedlichen Gruppierungen der Ansâr as-Sunna in Ostafrika stehen dem säkular/laizistischen Staat wieder kritischer gegenüber und haben ihn zum Teil sogar zum Hauptziel ihrer Kritik erhoben.

Autoritäre Regime wie in Kenia unter Daniel Arap Moi, Militärregime wie in Nigeria nach 1966 oder die Monopolstellung von Einheitsparteien wie in Tansania boten in der Regel eine gute Grundlage für die Entwicklung einer sich religiös gebenden Opposition, die die Moscheen als Plattform ihrer Regimekritik nutzte.

Zudem hat die Unfähigkeit zahlreicher afrikanischer Staaten, sinnvolle Entwicklungsstrategien zu entwickeln oder Standards im Erziehungs- Gesundheits- und sozialen Sicherungswesen bereitzustellen, dazu geführt, dass diese meist säkular definierten Regime in den Jahrzehnten nach der Unabhängigkeit an Legitimität verloren haben.

Zugleich gewann die religiöse Opposition an Legitimität und gesellschaftlichem Einfluss. Die jüngeren islamischen Reformbewegungen haben in Folge dieser Entwicklung einen ausgesprochen politischen Charakter angenommen.

Die neue Reformer-Generation besitzt im Gegensatz zu den führenden Vertretern früherer Generationen muslimischer Reform wie Cheikh Touré, Abubakar Gumi oder 'Abdallâh Sâlih al-Farsî meist keine Ausbildung mehr als religiöse Gelehrte. Sie sind in der Regel Absolventen eines meist westlich und säkular geprägten staatlichen Bildungswesens.

So sind viele der führenden Vertreter dieser Bewegungen Lehrer, Bürokraten, Ingenieure, Techniker, Naturwissenschaftler oder Ärzte und sie definieren sich konsequenterweise auch nicht mehr als 'ulamâ' (islamische Rechtsgelehrte), sondern als muslimische Intellektuelle oder als "Professoren" und Lehrer.

Reform des Erziehungs- und Bildungswesens

Wie ihre Vorgänger, so hat auch die jüngste Generation islamischer Reformbewegungen das Bildungswesen als ein zentrales Feld des gesellschaftlichen Wettbewerbs mit anderen sozialen und religiösen Gruppierungen erkannt.

In Nordnigeria und Senegal, in Sansibar und Kenia, in Mali und Teilen Südafrikas, also überall dort, wo sich muslimische Reformbewegungen zu einer wichtigen gesellschaftlichen Kraft entwickeln konnten, kam es zu einem wahren Boom neuer "islamischer" Schulen. Diese modernen "Islamiyya"-Schulen konnten sich angesichts des Versagens des Staates sogar als Alternative zum staatlichen (säkularen) Erziehungswesen präsentieren.

Um die Erstarrung der islamischen Gesellschaften in ihren Traditionen zu überwinden, betonen die Reformer die Vorrangigkeit des Korans und der Prophetenüberlieferungen und das Studium der Sprachwissenschaften, in der Überzeugung, dass alleine die gute Beherrschung der arabischen Sprache jeden Muslim dazu in die Lage versetzen würden, den Koran und die Prophetenüberlieferungen ohne weitere Vermittlung zu verstehen.

Ein weiteres wichtiges Kennzeichen jüngerer wie auch früherer islamischer Reformbewegungen ist die Betonung der afrikanischen Sprachen als Medium der Kommunikation und des religiösen Diskurses. In der Folge unterstützten die Reformer verstärkt die Übersetzung der heiligen Texte ins Kiswahili, ins Hausa, Fulfulde, Wolof, Bambara und Yoruba.

Diese Popularisierung findet ebenso im Bereich anderer Medien statt, etwa im Bereich des öffentlichen und halb-öffentlichen Predigtwesens, in der Produktion von Kassetten und Videos, in Radio und Fernsehen und den Internet-chat-rooms. Dabei wird das Arabische immer mehr von den afrikanischen Sprachen und selbst durch das Englische und Französische verdrängt.

Dieser Ansatz, jedem des Lesens und Schreibens fähigen Muslim einen individuellen und autonomen Zugang zu den heiligen Texten zu geben, hat im Laufe der letzten Jahrzehnte die Grundlagen für ein neues Verständnis des Glaubens geschaffen, in welchem die Vermittlung des religiösen Wissens durch etablierte Experten, der 'ulamâ', als zunehmend überflüssig betrachtet wird.

Anti-spirituelle Wende

Wie ihre Vorgänger, so sind auch die jüngeren islamischen Reformbewegungen schließlich jeglicher Form von Spiritualismus und Mystizismus abgeneigt und verachten viele Aspekte islamischer Volksgläubigkeit, etwa die Meditationsrituale der Sufi-Bruderschaften oder die zum Teil ekstatischen Feierlichkeiten anlässlich des Prophetengeburtstages, als "unislamische Neuerungen" (bida').

Diese anti-spirituelle Wende islamischer Reformbemühungen hat einen säkularisierenden Charakter, weil sie für eine "Entzauberung der Welt" und für eine schrittweise Rationalisierung von Religion und Gesellschaft steht, in der alle Formen von Magie als Aberglaube zurückgewiesen werden.

Die anti-spirituelle Wende erscheint jedoch als nicht besonders konsistent, denn eine Reihe der jüngeren islamischen Reformbewegungen hat sich gegenwärtig dazu durchgerungen, ihre anti-sufistischen Positionen zu relativieren und dafür die Notwendigkeit der Einheit aller Muslime gegenüber dem säkularen und repressiven Staat zu betonen, der im Moment als das Hauptziel vieler jüngerer islamistischer Bewegungen angesehen wird.

Gleichzeitig kultivieren die jüngeren islamischen Reformgruppierungen einen moralistischen Diskurs, in welchem die Verurteilung von westlichem Imperialismus, Zionismus, christlicher Mission und Freimaurerei, von häretischen Bewegungen wie der indo-pakistanischen Ahmadiyya, Drogenmissbrauch, Prostitution und andere Formen moralischen Verfalls im Vordergrund stehen, die ihrer Ansicht nach die muslimischen Gesellschaften korrumpieren.

Dieser moralistische Diskurs ist aber nicht nur gegen den "Westen" gerichtet, sondern ebenso sehr gegen die eigenen Eliten, die häufig beschuldigt werden, eine blinde Politik der Nachahmung des Westens zu betreiben.

Soziale Organisation der islamischen Reformer

In ihren Bestrebungen haben die jüngeren islamischen Reformbewegungen in Afrika besonders großen Erfolg unter den Jugendlichen und den Frauen. In der Tat müssen viele islamische Reformbewegungen in Afrika geradezu als Versuch der Jugendlichen und Frauen gedeutet werden, sich mit Hilfe der religiös legitimierenden Rückendeckung der Reformer aus bestehenden gesellschaftlichen Zwängen zu befreien.

Dabei stehen die Bemühungen islamischer Reformbewegungen im Vordergrund, neue Formen sozialer Organisation zu entwickeln und zwar nicht nur im Bereich eines modernen islamischen Bildungswesens, sondern auch in Bezug auf scheinbar banale Aspekte des alltäglichen Lebens - wie etwa Sport und die Gestaltung der "Freizeit".

So hat heute praktisch jede Madrasa in Sansibar einen eigene Fußballmannschaft und das Fußballteam der größten Madrasa Sansibars, die Madrasa al-Nûr in Ukutani/Zanzibar, konnte in den 1990er Jahren sogar die nationale Fußballmeisterschaft Sansibars gewinnen.

Fußball ist auch ein wichtiges Merkmal der sozialen Organisation der islamischen Reformbewegung Kenias geworden, insbesondere in Lamu, wo die lokalen Gegenspieler der Reformer, die Sufi-Bruderschaften, rasch auf die Fußballbegeisterung der Jugend reagiert haben, indem sie eigene Fußballmannschaften gegründet haben.

Dasselbe gilt für Nordnigeria, wo die 'Yan Izala seit den 1980er Jahren die Gründung von 'Yan-Izala-Fußballmannschaften unterstützt haben und so in der Lage waren, sich in der Hochburg der Sufi-Bruderschaften der Qâdiriyya und der Tijâniyy in der Altstadt von Kano zu etablieren. In der Folge begannen auch dort die Jugendlichen, zu den Fußballspielen der 'Yan Izala zu gehen, anstatt in den Moscheen an den Zeremonien der Sufi-Gelehrten teilzunehmen.

Es bleibt also festzuhalten, dass alle islamischen Reformbewegungen versuchen, in ihren jeweiligen nationalen Gesellschaften eine gerechte und angemessene Rolle für alle Muslime zu beanspruchen.

Dies soll es ihnen erlauben, in einer Welt, die von den Prozessen der Modernisierung, der Urbanisierung, der Industrialisierung und, in den Augen vieler Muslime, auch der "Verwestlichung", gekennzeichnet ist, ein Leben nach den Vorschriften des Glaubens zu führen.

Roman Loimeier

© Qantara.de 2006

Dr. Roman Loimeier ist Islamwissenschaftler an der Universität Bayreuth mit dem Forschungsschwerpunkt islamische Gesellschaften der Gegenwart, Sufi-Bruderschaften, Staat und Muslime in Afrika.

Qantara.de

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