Deutschland hat keine Vorstellung vom Leid in Gaza

Eine Menschenmenge in warmer Kleidung vor einem Bürogebäude. Eine Frau steht erhöht und ruft etwas.
Pro-palästinensische Aktivist:innen vor dem Gebäude der Axel Springer Stiftung in Berlin, Februar 2024 (Foto: Picture Alliance/ZUMAPRESS.com | M. Kuenne)

Manche sehen in der Veröffentlichung von Bildern hungernder Kinder aus Gaza eine neue Empathie und einen möglichen Kurswechsel der deutschen Politik. Die palästinensische Journalistin Asmaa al-Ghoul argumentiert dagegen.

Kommentar von Asmaa al-Ghoul

Das eigene Land zu loben, wenn es gerade gut läuft, ist einfach. Schwieriger ist es in düsteren Zeiten. Das dachte ich, während ich den Artikel von Jannis Hagmann vom 28. Juli las. „Hunger in Gaza – Made in Germany“, heißt die Überschrift. In einem ruhigen Ton kritisiert Hagmann die deutsche Unterstützung der israelischen Position durch die Regierung und die Medien. Und er geht darauf ein, wie sich der Diskurs durch den Höhepunkt der Hungersnot in Gaza änderte. 

Denn plötzlich waren in deutschen Zeitungen Bilder abgemagerter Kinder zu sehen. Zu diesen Fotos könnte ich eine berufsethische Diskussion anstellen, an dieser Stelle möchte ich jedoch etwas anderes hinterfragen: Stimmt es, dass diese Bilder Zeichen eines Wandels in Politik und Medien sind? Um ehrlich zu sein, glaube ich das nicht. 

Die Veröffentlichung dieser Bilder bedeutet nichts. Es handelt sich lediglich um ein kurzes Aufbäumen des öffentlichen Gewissens, das schnell wieder verhallen wird. Denn sobald diese Bilder auftauchten und, wie Hagmann schreibt, einen weiten Teil der deutschen Öffentlichkeit erreichten, reagierten viele deutsche Zeitungen prompt mit Skepsis und stellten ihre Authentizität in Frage.

So veröffentlichte die Süddeutsche Zeitung am 3. August einen Artikel unter der Überschrift „Krieg und Medien: Wie echt sind die Bilder aus Gaza“. Da war das Gewissen schon wieder weg, und es folgten weitere Schlagzeilen, die die Bilder des Hungers und der Hungernden anzweifelten. 

Die Bild-Zeitung, die auflagenstärkste deutsche Tageszeitung, behauptete wenig später, viele der international publizierten Fotos seien inszeniert. Dabei bleibt die Zeitung einschlägige Beweise schuldig, der Artikel vom 5. August beruht lediglich auf den Einschätzungen der drei Autoren. Sie kommen unter anderem auf folgende, bemerkenswert widersprüchliche Schlussfolgerung: „Der Hunger ist (fast immer) echt – die Bilder aber oft nicht ganz.“ Sicherlich kein Ausdruck journalistischer Gewissenhaftigkeit, der Satz verdeutlicht vielmehr die argumentative Schwäche der Behauptungen.

Das also ist die Wende, auf die Jannis Hagmann in seinem Artikel so optimistisch hofft. Ich komme später noch einmal auf seine Analyse zurück – zunächst möchte ich einen Blick auf einen Bericht der Bild-Zeitung werfen, in dem palästinensischen Fotojournalisten Anas Fatiha vorgeworfen wird, Frauen und Kinder zwar beim Warten auf Essen fotografiert zu haben, aber nicht beim Essen selbst. 

Offensichtlich fehlt es der Zeitung an Kontakten vor Ort. Denn sonst würden sie wissen, dass es Hunderte gibt, die nach der Essensausgabe mit leeren Tellern zurückbleiben. Das Essen reicht nicht aus, nicht alle werden satt. Eigentlich sollten sich diese Menschen zuhause oder in ihren Zelten selbst etwas zubereiten können, anstatt in einer Schlage zu stehen und zu warten, bis ihre Teller gefüllt werden. 

Aus erster Hand weiß ich, dass die Menschen im Gazastreifen es nicht nötig haben, Bilder von Hungernden zu fälschen. Auf einem aktuellen Familienfoto habe ich meinen Vater kaum wiedererkannt. Er ist sichtlich ausgehungert, hat die Hälfte seines Gewichts verloren und die Sonne hatte seine Haut noch dunkler gefärbt. Ich konnte meinen Augen nicht glauben, aber mein Herz wusste, dass das mein Vater ist. Ich erkenne ihn, egal wie er aussieht. Auch mein Volk erkenne ich, unabhängig von seinem Zustand.

Moralische Orientierung setzt Empathie voraus

Es gibt durchaus Journalist:innen, die nach der „perfekten“ Tragödie lechzen, als wäre unser Leid nicht erschütternd genug. Die Tragödie zuzuspitzen gehört auch für die Hamas zu den medialen Strategien. Letztere hat sich darauf spezialisiert, Tragödien zu inszenieren, um anschließend darüber ihr Klagelied zu singen. 

Bei dieser Hungersnot und den zugehörigen Bildern ist das allerdings nicht der Fall. Für die Bild-Zeitung scheint es einfacher zu sein, die Fotos der Hungersnot zu diskreditieren, als Israels Schuld am Hunger in Gaza zu thematisieren. Doch selbst diese „Recherchen“, denen jeder Beleg fehlt, können Israel nicht von seiner Verantwortung entbinden.

Am Ende des Bild-Artikels betonen die Autoren: „Kaum jemand ist geschickter in der Propaganda als die Hamas und andere palästinensische Terror-Organisationen“. Diesen Zeilen folgt ein Bild des verstorbenen Jassir Arafat, aufgenommen in seinem von der israelischen Armee zwischen 2002 bis zu seinem Tod im November 2004 belagerten Hauptquartier. Das Foto zeigt ihn in seinem Amtssitz in Ramallah bei Kerzenlicht.

Die Bild-Autoren behaupten, palästinensische Journalist:innen könne man nicht trauen, denn wie sie es möglich, jemanden im Kerzenlicht zu fotografieren, wo doch jede Kamera einen Scheinwerfer habe! Ich habe in meinem Leben noch nie eine so schlechte und oberflächliche Interpretation der palästinensischen Geschichte gelesen wie diese naiven Zeilen.

Der moralische Kompass, hörte ich einmal, hänge wesentlich von der Vorstellungskraft ab; davon, ob man sich in die Lage der Unterdrückten hineinversetzen kann. Aus dieser Vorstellungskraft erwächst das Aufbegehren gegen die Unterdrücker und der Wunsch nach Veränderung. Es scheint, dass die deutsche Rechte und alle, die sie in Presse, Politik und Religion repräsentieren, ebenso fantasielos ist wie alle anderen Extremist:innen auf der Welt.

Hier möchte ich auf Jannis Hagmanns Artikel zurückkommen, in dem er Anzeichen eines positiven Wandels nennt. Zum Beispiel die Äußerungen des Bundesaußenministers Wadephul, der die humanitäre Lage im Gazastreifen als inakzeptabel bezeichnete oder den Protest von etwa 130 Diplomat:innen im Auswärtigen Amt, die sich für einen Kurswechsel einsetzen. 

Was Hagmann jedoch auslässt, ist die Repression gegen Demonstrierende – und der reflexhafte Antisemitismusvorwurf, der auf jeden Ausdruck der Solidarität mit den Menschen in Gaza folgt. Hinzu kommt die Angst vieler aus Gaza stammender Geflüchteter in Deutschland: Wer seine Stimme erhebt und seine Landsleute öffentlich unterstützt, läuft Gefahr, pauschal als Unterstützer:in der Hamas oder des Terrorismus abgestempelt zu werden.

Das Verhalten der Bundesregierung seit Beginn des Vernichtungskriegs im Gazastreifen ist eine Schande. Die Repression und Einschüchterung von Demonstrierenden und die Vorverurteilung aller Bewohner:innen Gazas, als sei ihnen das Wort Hamas seit Geburt auf die Stirn geschrieben – auch das ist eine Schande. Ich selbst lebte bis 2016 in Gaza. Bevor ich ging, sah ich mehr und mehr Hass auf die Hamas, heute ist dieser auf einem Höchststand. Er ist jedoch vermischt mit Angst.

Verleumdung macht Journalist:innen zur Zielscheibe

Was können wir als Schreibende und Journalist:innen also tun? Entweder ist unser Aufschrei so laut, dass unsere Texte die deutschen Politiker:innen buchstäblich um den Schlaf bringen. Das hieße auch, dass wir uns nicht damit begnügen, bei den kleinsten Zugeständnissen zu applaudieren. 

Wenn wir hingegen akzeptieren, dass Israel den Gazastreifen weiter bombardiert und nur das Aushungern kritisieren, sollten wir wohl aufhören zu schreiben. Eines Tages wird uns die Frage des moralischen Gewissens gestellt werden, unsere Kinder und Enkel:innen werden fragen: „Was habt ihr getan, als Gaza hungerte und seine Bewohner:innen vernichtet wurden?“

Der Aufruf, den Krieg zu stoppen, reicht nicht aus. Die Veröffentlichung von Bildern reicht nicht aus, auch das Lob für ein paar zaghafte Veränderungen reicht nicht aus. Was ist mit all den Monaten vor Beginn der Hungersnot, die sich so tief in die Körper der Menschen in Gaza eingegraben haben? Als all jene Zeitungen und Regierungen schwiegen, während Tausende Familien im Schutze der eigenen vier Wände getötet wurden?

Was wir gerade erleben, sind kurzlebige Reaktionen auf Bilder und Videos, in denen Mütter angesichts ihrer hungernden Kinder Tränen vergießen. Hat das in der Vergangenheit geholfen? Warum zählt ein Tod mehr als ein anderer? Warum erregt ein Kind, das durch amerikanische, norwegische, französische und deutsche Bomben seine Gliedmaßen verloren hat, weniger Mitgefühl als ein Kind, dessen Brustknochen hervorstehen und dessen Augen in den Augenhöhlen liegen? Sind Waffen in diesem Kontext legitim und Hunger nicht?

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Ich schreibe diesen Artikel, während auf dem Bildschirm vor mir die Nachricht vom Mord an Mitgliedern des Al-Jazeera-Teams in Gaza eingeblendet wird – darunter die Reporter Anas al-Sharif, Mohammed Qureiqa und drei weitere, am 10. August in Gaza-Stadt. Die Tötung von Journalist:innen durch die Besatzungsmacht wird auch durch Verleumdung ermöglicht. 

Hetze wie die der Bild-Zeitung, die den Journalisten Anas Fatiha diffamierte, weil er auf Instagram den Satz „Free Palestine“ gepostet hatte. Was wird da eigentlich erwartet? Dass er „Free Israel“ schreibt? Ein wenig Vernunft täte gut. Man kann nicht alles Palästinensische verurteilten, auch wenn das Gewicht der eigenen historischen Schuld auf einem lastet. 

Auch der getötete Al-Jazeera-Korrespondent Anas al-Sharif wurde vor und nach seinem Tod in der Bild-Zeitung und anderen deutschen Medien als „Terrorist“ bezeichnet, auf Basis von Statements der israelischen Armee. Dass Anas al-Sharif die Hamas in seinen Tweets mehrmals dazu aufrief, umgehend ein Friedensabkommen zu unterzeichnen und die völlige Missachtung des Leids der Zivilbevölkerung seitens der Hamas kritisierte, findet keine Beachtung.

Auf der anderen Seite werden Berichte von ausländischen und israelischen Journalist:innen in der deutschen Berichterstattung übernommen, die auf von der israelischen Armee organisierten Pressereisen basieren. Unter anderem aus Rafah – der Ort, an dem ich geboren wurde und meine Kindheit verbracht habe. Er ist heute vollständig zerstört und unbetretbar. Viele israelische Journalist:innen haben eine noch engere Bindung an das Militär: die meisten haben dort gedient, bevor sie mit der journalistischen Arbeit begannen. Ist von ihnen Objektivität und Sachlichkeit zu erwarten?

Angesichts dieser erdrückenden Voreingenommenheit des deutschen Diskurses erscheint mir die Argumentation von Jannis Hagmann doch recht blumig.

 

Dieser Artikel ist eine bearbeitete Übersetzung des arabischen Originals. Aus dem Arabischen von Serra Al-Deen.

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