„Al-Scharaa muss unter Druck gesetzt werden“

Frau Aldoughli, im Dezember 2024 stürzten Rebellenmilizen unter der Führung von Hai’at Tahrir al-Scham (HTS) den syrischen Machthaber Baschar al-Assad. Was ist seitdem gut gelaufen?
Unmittelbar nach dem Sturz Assads war der neue Präsident Ahmed al-Scharaa sehr beliebt, weil er etwas erreicht hatte, was viele für unmöglich gehalten hatten: einen weitgehend friedlichen Übergang ohne Blutvergießen. Al-Scharaa sandte eine starke Botschaft, in der er zu Inklusion und Verzicht auf Rache aufrief und allen Syrer:innen Sicherheit und Repräsentation versprach.
Der erste Monat weckte im Land und auch international Hoffnung. Die Vertreter:innen mehrerer Staaten sprachen vorsichtige Anerkennung aus, auch die Sicherheitslage und die lokale Regierungsführung verbesserte sich. Doch mit dem Aufbau des neuen Staates traten zunehmend auch interne Spaltungen zutage.

Eine der größten Herausforderungen stellen die mehr als einhundert bewaffneten Gruppen dar, die in den letzten 14 Jahren entstanden sind. In seiner »Siegesrede« am 29. Januar 2025 kündigte al-Scharaa an, dass sie alle in die Armee integriert werden sollen. Wie läuft das bisher?
Dieser Schritt war vor allem symbolisch und kam sehr abrupt. Es gab vorher keine Verhandlungen, keinen rechtlichen Rahmen für die Integration. Aus meiner Feldforschung weiß ich, dass die meisten Kommandeure – selbst die Anführer zentraler Gruppierungen – nicht darüber informiert wurden, dass ihre Gruppen aufgelöst werden sollten. Ein Befehlshaber der Miliz Maghawir al-Scham erzählte mir, dass sie zu der feierlichen Veranstaltung einbestellt wurden, ohne vorher zu wissen, dass dies das Ende ihres militärischen Kommandos bedeuten würde.
Das Ergebnis war nicht Zusammenhalt, sondern Verwirrung. Al-Scharaa behandelte bewaffnete Gruppen als monolithische Blöcke. Wie meine Recherchen jedoch zeigen, sind die Motivationen der Kämpfer komplex und vielschichtig. Für viele Mitglieder der von der Türkei unterstützten Syrischen Nationalarmee (SNA) reichen die Beweggründe von persönlichen Missständen, Traumata und revolutionären Idealen bis hin zu ethnischer Zugehörigkeit, Überlebenswillen und materieller Not.
Um diese Kämpfer zu integrieren, braucht es Verständnis dafür, worauf ihre Loyalität gründet, wie sie Würde definieren und welche politische Zukunft sie für sich selbst sehen.
Was hätte al-Scharaa anders machen können?
Erstens hätte ein nationaler Sicherheitsdialog mit gewählten Vertreter:innen aller Fraktionen – einschließlich der kurdischen Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF) und der südlichen Koalitionen – einberufen werden müssen, um eine gemeinsame Vision für das Militär zu entwickeln. Zweitens hätte eine Übergangs-Kommandostruktur eingeführt werden müssen, die die Würde der Kommandeure der mittleren Ränge wahrt und gleichzeitig zivile Kontrolle gewährleistet.
Drittens hätten Demobilisierungs- und Reintegrationspakete angeboten werden können, die die Motivationen der Kämpfer widerspiegeln. Schließlich hätte es symbolische Gesten der Inklusion gebraucht, wie öffentliche Garantien zum Schutz ehemaliger Regimesoldaten, die die Seiten wechseln, einen breiteren sozialen Vertrag rund um die Armee schaffen können.
Das derzeitige Chaos und die sektiererischen Spannungen zeigen deutlich, dass al-Scharaa nur sehr wenig Kontrolle über seine Truppen hat. In Zeiten der Spannungen führt das Fehlen einer zentralen Kommandostruktur zu Verstößen, wie wir sie in der Küstenregion und in Suwaida gesehen haben.
In Suwaida kam es im Juli zu Kämpfen zwischen Drusen und Beduinen. Hunderte, einigen Quellen zu Folge weit mehr als 1.000 Menschen wurden getötet, darunter viele Zivilist:innen. Auch Regierungstruppen sollen beteiligt gewesen sein. Was sind die Ursachen der Gewalt in Suwaida, aber auch der Angriffe auf Alawiten an der Küste im März?
Eine der Hauptursachen ist das Fehlen einer echten politischen Vision für Syrien nach Assad. Die Übergangsregierung agiert weniger wie ein Staat, sondern eher wie eine bewaffnete Gruppe, die zufällig die Macht ergriffen hat.
Nach wie vor gibt es keine ernsthaften Bemühungen, die militärische Logik hinter sich zu lassen und zu einer inklusiven Regierungsführung überzugehen. Ein Konsultationsprozess müsste die verschiedenen Gemeinschaften Syriens zusammenbringen, damit sie konkurrierende Visionen für den Staat diskutieren, sei es zentralistisch, föderalistisch oder anders.
Stattdessen hat die Führung ein starres sicherheitsorientiertes Modell durchgesetzt. Die Zukunft Syriens kann aber nicht durch Ausgrenzung oder Zwang aufgebaut werden. Die Syrer:innen brauchen einen Raum, um über die Form, Identität und Autorität ihres zukünftigen Staates zu verhandeln.
Jahrzehntelang hetzte das Assad-Regime konfessionelle Gruppen gegeneinander auf. Wie kann das Vertrauen zwischen den verschiedenen Gemeinschaften wieder hergestellt werden?
Während der Kämpfe in Suwaida gab es beispielsweise Dutzende von Initiativen der Zivilgesellschaft, sowohl aus drusischen als auch aus beduinischen Gemeinschaften. Sie arbeiteten zusammen, um Familien zu evakuieren und Zivilist:innen zu schützen. Sie trauerten gemeinsam und entschuldigten sich sogar beieinander für das Töten. Auf solche Initiativen muss der Staat sich konzentrieren. Er sollte nicht versuchen, sie zu kontrollieren oder zu übernehmen, sondern sie stärken.

Assads langer Schatten
In Syrien war Minderheitenschutz schon immer ein Vorwand, um religiöse und ethnische Gruppen gegeneinander auszuspielen. Wir Syrer müssen uns gegen die Instrumentalisierung unserer Identitäten wehren – denn auch die neue Regierung setzt auf Spaltung.
Gleichzeitig muss es der Staat vermeiden, in den Medien und in offiziellen Erklärungen sektiererische Narrative zu verwenden. Es gab schon immer Rivalitäten zwischen verschiedenen Gemeinschaften. Aber es liegt in der Verantwortung der politischen Führung, diese einzuhegen, anstatt eine Partei gegen die andere auszuspielen.
Im Februar 2025 hatte al-Scharaa zu einem »Nationalen Dialog« eingeladen. Dort plädierte er für die Einheit des Landes. Nur Symbolpolitik?
Der Nationale Dialog war eine verpasste Chance. Er schloss wichtige Akteure wie die drusische Führung, die SDF und Vertreter:innen der Zivilgesellschaft aus ehemaligen Oppositionsgebieten aus. Das war kein wirklicher Versuch, sich mit dem Pluralismus Syriens auseinanderzusetzen, geschweige denn unterschiedliche Präferenzen hinsichtlich der Regierungsform zu berücksichtigen. Das Ergebnis ist eine politische Landschaft, in der Missstände schwelen, Dialog oberflächlich bleibt und Macht eher aufgezwungen als ausgehandelt wird.
Wo zeigt sich das noch?
Wir sehen, dass verschiedene staatliche Ausschüsse überwiegend aus ehemaligen Mitgliedern der HTS bestehen. Das lässt die Menschen in Syrien daran zweifeln, dass diese Regierung wirklich bereit ist, unterschiedliche Meinungen einzubeziehen.
Syrer:innen, die eine inklusivere Regierung fordern, meinen damit nicht nur die Vertretung von Minderheiten. Es geht nicht darum, sie je nach Konfession in Gruppen einzuteilen, sondern um unterschiedliche politische Wahrnehmungen.
Wie sieht es mit politischen Parteien aus?
Ein großer Fehler, den al-Scharaa begangen hat und der mitverantwortlich für den jüngsten Ausbruch der Gewalt ist, war die Auflösung aller politischen Parteien. Bis heute sind keine Parteien zugelassen.
Das ist jedoch notwendig, da die Menschen sonst nur mit Waffen ihre politischen Ansichten zum Ausdruck bringen können. Die Regierung muss Kanäle schaffen, über die sich die Menschen politisch organisieren können.
Wie ist die Lage der staatlichen Institutionen wie Polizei und Justiz?
Die Polizei ist nach wie vor schwach, unzureichend ausgebildet und genießt kein Vertrauen in der Bevölkerung. Ein Großteil des ursprünglichen Personals hat nach dem Sturz des Regimes den Dienst quittiert. Die neu eingestellten Beamt:innen sind unerfahren.
Die Justiz war etwa sechs Monate lang nicht funktionsfähig und hat erst im Juli ihren Betrieb teilweise wieder aufgenommen. Das System zur Strafverfolgung funktioniert derzeit nicht. Es gibt keinen umfassenden institutionellen Fahrplan, keine Vision für Übergangsjustiz oder Rechtsreformen, sodass die meisten Justizmechanismen weiter ausgesetzt sind oder nur symbolischen Charakter haben.
In diesem institutionellen Vakuum haben verschiedene lokale Akteure und Fraktionen die Sicherheit in ihre eigenen Hände genommen, was die Fragmentierung weiter vertieft.

„Rechenschaft ist wichtiger als Bestrafung“
Wie schafft man Gerechtigkeit nach dem Schrecken? Der Soziologe Mohammed Bamyeh sieht Anzeichen, dass Syriens neue Führung die Vergangenheit aufarbeiten will, warnt aber vor Selektivjustiz.
Was hat die Verfassungserklärung vom März 2025 über den Kurs der neuen Regierung verraten?
Die Verfassungserklärung spiegelt den Fokus der neuen Regierung auf Zentralisierung und militärisch geprägte Regierungsführung wider. Sie enthält zwar bemerkenswerte Bestimmungen wie das Versprechen, Rechte auf der Grundlage internationaler Verträge zu garantieren, oder die Einrichtung einer Kommission für Übergangsjustiz.
Doch letztlich festigt sie die Macht des Präsidenten ohne eine nennenswerte Gewaltenteilung oder die Möglichkeit, ihn zur Rechenschaft zu ziehen. Entscheidend ist, dass die Erklärung keinen Fahrplan für die Ausarbeitung einer dauerhaften Verfassung enthält.
Das offenbart das Fehlen eines echten demokratischen Übergangs. Zwar signalisiert sie, dass Syrien mit seiner autoritären Vergangenheit abschließen will, versäumt es jedoch, den für die Bewältigung der politischen Vielfalt notwendigen inklusiven nationalen Dialog zu ermöglichen.
Wie sollte Europa Syrien unterstützen?
Die europäischen Regierungen sollten Syrien ausgewogen und prinzipiengeleitet unterstützen. Syriens derzeitige Regierung befindet sich im Übergang von einem zersplitterten nicht staatlichen Akteur, der durch Krieg und Sanktionen geprägt ist, hin zu einer zentralen Autorität, die versucht, sich als rationaler staatlicher Akteur neu zu konstituieren.
Dieser Wandel sollte gefördert werden, jedoch nicht bedingungslos. Al-Scharaa muss unter Druck gesetzt werden, die militaristische Logik seiner Bewegung aufzugeben und sich für einen inklusiven und transparenten politischen Prozess einzusetzen.
Die Unterstützung im Hinblick auf Gerechtigkeit und Versöhnung muss über symbolische Initiativen hinausgehen. Sie sollte in Mechanismen verankert sein, die verschiedene syrische Gemeinschaften einbeziehen, vergangenes Unrecht beseitigen und die Rechenschaftspflicht in der Übergangsphase gewährleisten, anstatt lediglich den Status quo zu stabilisieren.
Nach der anfänglichen Phase der Euphorie durchlebt Syrien jetzt eine sehr schwere Zeit. Ist die Chance für einen friedlichen Übergang bereits vertan?
Ich bin noch nicht bereit, diese Regierung aufzugeben. Trotz ihrer vielen Fehler hoffe ich, dass sie sich reformieren kann. Aber das Zeitfenster für einen friedlichen Übergang schließt sich rapide. Syrien ist gerade tief gespalten und sieht sich zunehmender regionaler Einmischung ausgesetzt.
Die jüngsten israelischen Angriffe, insbesondere im Süden, signalisieren eine gefährliche Wende. Die Syrer:innen werden zunehmend ihrer politischen Handlungsfähigkeit beraubt und sind gefangen zwischen einer reformresistenten Regierung und ausländischen Mächten, die ihnen ihre Agenda aufzwingen.
Wie viele andere bin ich hin- und hergerissen: Soll ich weiterhin eine Übergangsregierung unterstützen, die kaum Anzeichen für bedeutende Veränderungen zeigt, oder riskieren, dass Syrien auseinanderbricht? Dann würde Israel seinen Einfluss im Süden ausbauen, die Türkei sich im Norden festsetzen und keine inklusive nationale Vision mehr möglich sein.
Hier kommt die internationale Gemeinschaft ins Spiel, insbesondere die westlichen Akteure. Sie können einen inklusiveren, konsultativen politischen Prozess vorantreiben, der sowohl die Bestrebungen der Syrer als auch die strategischen Interessen des Westens wahrt.
Dieser Text erscheint in Kürze auch in einer gemeinsamen Ausgabe von Qantara und dem Magazin Kulturaustausch. Weitere Analysen, Interviews und Reportagen finden Sie in unserem Syrien-Schwerpunkt.
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