Auf den Spuren der Revolution

»Dreams come true«, »Träume werden wahr« – ein Schriftzug wie ein später Triumph an einem Mauerrest am Ortsrand von Kafranbel, weiße Farbe auf schwarz verrußter Wand. Er erinnert an eine Zeit, als Freiheit in Syrien eine ferne Vision war, als die Angst vor Folter und Bombenangriffen wie ein Albtraum über dem Land lagen.
In Kafranbel kennen sich die Menschen mit beidem aus – mit Wunsch- wie mit Albträumen. Das gilt auch für Ahmad al-Dschalal, einen 43-jährigen Zahntechniker, der in seinem früheren Leben Aktivist und Karikaturist war. Ab 2011 zeichnete al-Dschalal politische Plakate für die syrische Revolution, später floh er vor den Bomben des Assad-Regimes und Russlands an die türkische Grenze.
An einem Freitag Ende April 2025 ist er zu Besuch in seinem alten Heimatort im Süden der Provinz Idlib. Die Kleinstadt ist weitflächig zerstört und wirkt wie ausgestorben. Der schmale Mann, der inzwischen in Azaz, einer Stadt ganz im Norden des Landes, lebt, mutet wie ein sanfter, in die Jahre gekommener Revolutionär an – Vollbart und schwarze Lederjacke, die dunklen Locken nach hinten gekämmt, in den Augen mischen sich Freude und Trauer.
Kafranbel steht für kreativen zivilen Widerstand
Sein erster Besuch in Kafranbel ist zu diesem Zeitpunkt schon Monate her. Am 8. Dezember 2024, als Machthaber Baschar al-Assad nach Moskau floh und Syrien endlich frei war, fuhr al-Dschalal mit einigen Freunden zurück in seine Heimatstadt. »Es war sehr emotional«, erinnert sich der frühere Aktivist. In die Begeisterung über die Befreiung mischte sich Entsetzen über das Ausmaß der Zerstörung.
Auch der Verlust ihrer getöteten Mitstreiter, die diesen Moment nicht mehr erleben durften, wiege schwer, erzählt er. Drei von ihnen, Persönlichkeiten wie Raed Fares, Hamud al-Jneid und Khaled al-Issa, sind in Mosaikporträts an einer Felswand am Rande des Sportplatzes von Kafranbel verewigt – jenem Ort, an dem die Menschen jahrelang demonstriert und ihre Botschaften in die Welt gesendet hatten.

Zu Beginn der Revolution 2011 hatte sich in der Provinzstadt eine ganz eigene, kreative Form des zivilen Widerstands entwickelt, für den Kafranbel mittlerweile symbolisch steht. Vor dem Krieg kannte kaum jemand das 50.000-Einwohner-Städtchen im südlichen Idlib. Doch ab Frühjahr 2011 machte eine Gruppe von Aktivistinnen und Aktivisten dort von sich reden.
Mit ihren englischsprachigen Bannern, scharfsinnigen Slogans und bunten sarkastischen Karikaturen wurden sie weltweit bekannt. Darauf forderten sie Flugverbotszonen, kritisierten den damaligen US-Präsidenten Barack Obama für seine zögerliche Unterstützung, erklärten westlichen Friedensaktivisten, warum sie als Syrer gegen den Krieg, aber für eine Intervention waren, und solidarisierten sich nach der Krim-Annektion durch Russland 2014 mit den »ukrainischen Brüdern«.
»Die Revolution ist eine Idee, und Ideen sterben nicht.«
Die Kleinstadt wurde zur Ikone des Aufstands. Treibende Kraft vor Ort war Raed Fares, ein ehemaliger Immobilienmakler, der zu einem führenden Kopf der Revolution aufstieg. In Syriens dunkelsten Zeiten prägte er den Satz: »Die Revolution ist eine Idee, und Ideen sterben nicht.« Wie überall im Land wurden Aktivisten wie Fares brutal bekämpft – bis lokale Aufständische die Truppen des Regimes im Jahr 2013 vertrieben.
Kafranbel galt als »befreit«. Es folgten Jahre der Selbstorganisation. Raed Fares leitete das örtliche Medienzentrum und gründete 2013 Radio Fresh, einen der ersten unabhängigen Radiosender Syriens. Daneben baute er die Union der lokalen Revolutionsbüros auf, einen Zusammenschluss zivilgesellschaftlicher Initiativen.
Die Spuren dieses Engagements finden sich heute wenige Schritte vom Sportplatz entfernt. Halb verfallene Gebäude, in denen Radio Fresh sein Studio und die Union ihre Büros hatten, Mauerreste mit verblassten Namenszügen, von Gestrüpp überwuchert. Auch die Wand mit dem »Dreams come true«-Satz steht hier – wie ein sorgfältig kuratiertes Mahnmal inmitten eines Freiluftmuseums der syrischen Revolution.

Für die zivile Arbeit jener Zeit brauchte es Mut, denn die Aktivistinnen und Aktivisten hatten zwei brutale, mächtige Feinde: zum einen das Assad-Regime, das sie verfolgte und bombardierte; zum anderen extremistische Milizen, die ihnen das Leben schwer machten, darunter auch die islamistische Nusra-Front und das daraus hervorgegangene Bündnis Hai'at Tahrir al-Scham (HTS) unter Führung des heutigen Übergangspräsidenten Ahmed al-Scharaa. Ein Zweifrontenkrieg, den viele mit dem Leben bezahlten – auch Raed Fares, Hamud al-Jneid und Khaled al-Issa.
Die Islamisten störten sich an den freiheitlich-demokratischen Idealen von Radio Fresh, aber ihre Versuche, den Sender zu kontrollieren, liefen ins Leere. Als sie forderten, keine Frauenstimmen mehr im Programm zu senden, verzerrten Fares und seine Kollegen die Stimmen so, dass kein Unterschied zwischen den Geschlechtern zu erkennen war. Und als ihnen das Spielen von Musik verboten wurde, liefen bei Radio Fresh vorübergehend Tiergeräusche.
Doch die Gewalt nahm zu. 2014 überlebte Fares ein Attentat, das er der Terrororganisation Islamischer Staat (IS) zuschrieb, knapp. Bei einem Angriff im November 2018 kam jedoch jede Hilfe zu spät. Fares und sein Kollege al-Jneid wurden von Unbekannten im Auto erschossen. Der Mord wurde nie aufgeklärt. Auch Ahmad al-Dschalal, der Karikaturist der Gruppe, wurde damals bedroht. Er floh nach Azaz, einer Stadt, die nördlich von Aleppo in einem Gebiet liegt, das von den Söldnertruppen der Türkei und nicht von HTS kontrolliert wurde. HTS habe damals nach ihm gesucht, sagt er.
Als das Regime 2019 mit russischer und iranischer Unterstützung seine letzte große Offensive startete und den Süden der Provinz Idlib zurückeroberte, flohen die verbliebenen Einwohnerinnen und Einwohner in den Norden Richtung türkischer Grenze. Orte wie Kafranbel wurden in Schutt und Asche gelegt und in den darauffolgenden Jahren von Assads Soldaten und iranischen Milizionären als Militärposten genutzt. Die Frontlinie lag nur wenige Kilometer nördlich und wurde vermint.

Osman al-Sweid gehörte zu den Letzten, die Kafranbel Ende 2019 verließen. »Wir haben uns noch um die Feigenernte gekümmert, dann sind wir weg«, erzählt der kräftig gebaute Familienvater mit dem vollen Haar. Er ist zum dritten Mal seit seiner Flucht zu Besuch hier an diesem Freitag im April.
Auf dem Platz am Ortseingang trifft er Freunde, Nachbarn, alte Weggefährten. Man tauscht sich aus, überlegt, wie es weitergehen könnte, schmiedet Pläne. Ein kleiner Krämerladen verkauft Baumaterial – Nägel und Schrauben, Rohre, Schläuche, Plastikfolien. Doch nur wenige sind bisher zurückgezogen, etwa 200 Familien, schätzt al-Sweid.
Kafranbel wirkt deshalb noch immer wie eine Geisterstadt. Die Straßen sind voller Schlaglöcher, die Gebäude ausgebrannt und verfallen. Nach den Bombardierungen haben Assads Schergen die Stadt geplündert, sagt al-Sweid. »Türen, Fenster, Rohre, Waschbecken, Kacheln – alles, was sie zu Geld machen konnten, haben sie mitgenommen.«
Ein bekanntes Muster. Sämtliche Gebiete, die das Regime zurückeroberte, sei es im Umland von Damaskus, in Daraa, Homs, Hama, Idlib oder Aleppo, wurden nicht nur mit Raketen und Fassbomben beschossen, sondern auch ausgeschlachtet. Laut UN-Angaben sind ein Drittel der syrischen Wohneinheiten zerstört oder schwer beschädigt.
In diesem Zustand ist Kafranbel eigentlich unbewohnbar. Allein für die Instandsetzung der Infrastruktur bräuchte es 2,5 Millionen Dollar, hat das Molham Volunteering Team ausgerechnet, eine NGO, die seit Jahren humanitäre Hilfe im Nordwesten Syriens organisiert. Sie betreibt Schulen und Gesundheitszentren und hat nach dem Erdbeben im Februar 2023 mehrere Wohnanlagen für Witwen und Waisen gebaut.
Aktuell untersucht Molham den Grad der Zerstörung in verschiedenen Gebieten, um eine geordnete Rückkehr von Binnenvertriebenen zu ermöglichen. Die Idee klingt überzeugend: Statt überall gleichzeitig ein bisschen wiederaufzubauen, schafft man Ort für Ort zunächst die grundlegende Infrastruktur, damit die jeweiligen Bewohner dann zeitgleich die Lager im Norden verlassen und in ihre Dörfer zurückkehren können.
Viele Gebiete sind noch immer vermint
Bisher machen sich vor allem jene auf den Weg, die in der Heimat ein Haus mit Dach haben und sich die Renovierung leisten können. Alle anderen, darunter vor allem Witwen mit Kindern, bleiben in den Lagern zurück – verlassen und vergessen von der Welt. Denn viele Hilfsorganisationen verlegen ihr Engagement ins Landesinnere, um den Rückkehrenden zu helfen. Für eine dauerhafte Versorgung der Zurückgebliebenen fehlt ihnen dann das Geld.
Dennoch wird Osman al-Sweid mit seiner Frau und den Kindern bis auf Weiteres im Lager in Barischa im Norden der Provinz bleiben. Gerade ist er zum sechsten Mal Vater geworden. Für die Kleinen sei die Lage in Kafranbel noch zu gefährlich, sagt al-Sweid. »Die Umgebung hier ist voller Minen und Blindgänger, von denen niemand weiß, wo sie liegen«, erklärt er. Das Problem ist landesweit groß. Von den geschätzt mehr als eine Million Sprengkörpern, die Experten zufolge seit 2011 eingesetzt wurden, sind vermutlich bis zu dreißig Prozent nicht explodiert.
Nach 14 Jahren Krieg zählt Syrien somit zu den am stärksten mit Sprengkörpern kontaminierten Ländern der Welt, aber Unterstützung gibt es kaum. Ein paar internationale NGOs wie Handicap International und Halo Trust arbeiten an der Minenräumung, kommen jedoch nur langsam voran. Angesichts von Hunderttausenden Binnenvertriebenen, die derzeit zurückkehren, rechnen Experten mit steigenden Opferzahlen. Bereits in den ersten fünf Monaten dieses Jahres registrierte Ärzte ohne Grenzen 470 Vorfälle mit nicht detonierten Sprengkörpern.
In Kafranbel versuchen die Einheimischen selbst, die Blindgänger und Minen zu finden und unschädlich zu machen, erklärt Osman al-Sweid. Immer wieder gebe es Verletzte und Tote. »Neulich sind drei Kinder derselben Familie auf eine Mine getreten und gestorben«, sagt er. Die beiden Brüder und ihr Cousin hatten Anfang März in der Nähe von Kafranbel Schafe gehütet.
Ein schrecklicher Unfall, an den sich auch Mohammed al-Mahruq, der ehrenamtliche Vorsteher der Nur-al-Din-Zenki-Moschee, noch gut erinnert. Er hat gerade das Freitagsgebet geleitet, etwa drei Dutzend Männer kommen aus dem Gotteshaus direkt am Hauptplatz. Die meisten von ihnen sind wie Osman al-Sweid und Ahmad al-Dschalal nur zu Besuch in der Stadt.
An dem Loch, das eine Rakete ins Dach des Gebetsraumes geschlagen hat, scheint sich niemand zu stören. Al-Mahruq trägt eine dunkelgrüne Dschallabia, die grauen Haare und den Bart kurz geschoren. Als Mitglied im Lokalen Rat war er früher Teil der Selbstverwaltung von Kafranbel.

Heute freut sich al-Mahruq über jeden Rückkehrenden, versteht aber auch diejenigen, die zögern. Wer Land besitzt, könne zwar etwas davon verkaufen, um sein Haus wiederaufzubauen, sagt der Moscheevorsteher; andere bekämen Unterstützung von Familienmitgliedern, die für eine NGO arbeiten oder im Ausland leben.
Aber für die Infrastruktur – Wasser, Strom, medizinische Versorgung und Bildung – brauche es massive Hilfe von außen. »Würden die Schulen wiedereröffnen, könnten vierzig Prozent der Geflüchteten zurückkommen, deren Häuser beschädigt, aber reparabel sind«, meint al-Mahruq.
Ahmad al-Dschalal, der ehemalige Aktivist und Karikaturist, gehört nicht dazu; das Haus seiner Familie ist fast vollständig zerstört. Er wird bis auf Weiteres in Azaz bleiben, wo er Zahntechnik studiert hat und jetzt in der Praxis eines Freundes arbeitet. Einige seiner politischen Plakate sind noch erhalten und wurden kürzlich bei einer Ausstellung in Damaskus gezeigt. Die Erinnerung an die Revolution wach zu halten, findet al-Dschalal wichtig, auch wenn es in Syrien gerade Dringenderes zu tun gebe als Gedenkstätten einzurichten, wie er sagt.
Mit den neuen Machthabern haben sich die Aktivisten aus Kafranbel arrangiert. Die HTS sei in den letzten Jahren pragmatischer geworden, so der Ex-Revolutionär. Inzwischen regiert Ahmed al-Scharaa in ganz Syrien, die HTS wurde aufgelöst, die USA haben die Gruppe von ihrer Terrorliste gestrichen und al-Scharaa rehabilitiert. Dieser spricht davon, alle Bevölkerungsgruppen einbinden zu wollen.
Aber den Hass und den Wunsch nach Rache, die nach 14 Jahren Krieg und 54 Jahren Diktatur weit verbreitet sind, kann er nicht kontrollieren. Immer wieder kommt es zu Mordanschlägen und Massakern, Extremisten begehen Gräueltaten und versuchen, die Gesellschaft weiter zu spalten.
Umso dringender scheint es, an die Ziele der syrischen Revolution zu erinnern – ein Leben in Würde und Freiheit, ohne Angst und mit gleichen Rechten für alle. Dieser Traum ist bislang nicht für alle Syrerinnen und Syrer in Erfüllung gegangen, viele sind enttäuscht. Die Geschichte von Raed Fares und seinen Mitstreitern könnte dabei helfen, die Hoffnung auf das »neue Syrien« nicht zu verlieren – auch weil sie in den Ruinen am Ortsrand weiterlebt.
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