Schöner Text: Neue Geschichten aus Tausendundeiner Nacht : Was würde Scharasad heute sagen?

Wie in einem literarischen Salon arbeitet die Übersetzerin Claudia Ott mit einem Kreis von Zuhörern an der Übertragung von neuen, spät entdeckten Geschichten aus Tausendundeiner Nacht ins Deutsche. Ein Werkstattbesuch. Von Reinhard J. Brembeck

Scharasad ist die Erzählerin, die tausendundeine Nacht lang erfolgreich mit Sex- und Fantasygeschichten gegen ihre Hinrichtung kämpft. Der Königsgatte hat sie verurteilt, der Frauen für notorisch untreu hält. Aber Scharasad ist dabei nicht allein, sie hat zwei Schwestern. Die eine, Dinarasad, ist ihre treue Begleiterin beim Erzählmarathon durch die weltberühmte arabische Geschichtensammlung "Tausendundeine Nacht", die von Erotika über Seefahrerabenteuer bis zu Märchen, Geistergeschichten und Zoten so ziemlich alles enthält, was Menschen freut.

Die dritte Schwester wird in den alten arabischen Handschriften mit keinem Wort erwähnt. Vielleicht, weil sie sehr viel jünger ist als die anderen beiden und zudem den für eine orientalische Prinzessin ungewöhnlichen deutschen Namen Claudia Ott trägt. Im Arabischen gibt es kein "o", man müsste ihren Nachnamen also mit einem "u" schreiben: Utt. Das bedeutet auf Arabisch "Kater". Komisch. Die energische Frau Ott hat in Jerusalem und Kairo Arabisch gelernt, wohnt aber in dem niedersächsischen Bauerndorf Beedenbostel, das mit seinen Fachwerkhäusern durchaus nicht orientalisch wirkt. Der Muslimbekämpfer Karl der Große hat hier eine germanische Thingstätte zu einer Urpfarrei umgewidmet, in deren Umgebung heutzutage sieben Wolfsrudel frei herumlaufen.

Als Übersetzerin und Arabistin hat Claudia Ott schon zwei Bände voll Geschichten aus "Tausendundeine Nacht" aus den ältesten Quellen neu übertragen. Damit liegen der Anfang und der Schluss der Sammlung nach den ältesten Quellen und zugleich in der jüngsten Übertragung vor. Derzeit füllt Ott die Lücke zwischen den Bänden "Tausendundeine Nacht - Wie alles begann" und "Tausendundeine Nacht - das glückliche Ende", sie arbeitet an einem Band, der nächstes Jahr erscheinen wird: "Tausendundeine Nacht - Das Buch der Liebe". Und sie arbeitet nicht allein. Für ihr neues Projekt hat sie sich jeden Sonntagabend mit einer Gruppe "1001"-Süchtiger getroffen und ihnen vorgelesen, was sie in der Woche davor übersetzt hat. Bei einem der letzten Treffen liest sie aus dem Finale des neuen Bandes, aus der großen Schlussgeschichte "Sul und Schumul".

Leben und lebensnah sind zwei von Otts Lieblingswörtern

Sie spricht in hellem Sopran-Singsang, Ott leitet auch einen Chor und ein kleines Renaissancevokalensemble. An diesem Sonntagabend handelt ihre Geschichte davon, wie der Held, Dichter und Beduine Sul auf der Suche nach seiner von einem Drachen entführten Liebsten Schumul ist und zuletzt sogar an den Teufel, arabisch Iblis, in der Unterwelt gerät. Reisen in die Unterwelt gibt es im "Gilgamesch-Epos" und der griechischen Literatur (Odysseus, Orpheus, Herakles), aber in der arabischen Welt ist das einzigartig, sagt Ott. Genauso verblüffend wie das Happy End, das jetzt nicht verraten wird.

Claudia Ott sitzt vor ihren hölzernen Lesepulten und handgebundenen Heften und Büchern am großen Esstisch ihres Beedenbosteler Fachwerkhauses aus dem 18. Jahrhundert. Ihre zweischnabelige Teekanne, ein erstaunliches Unikat, entzückt die Zuhörer, die alle zwei Wochen zu den "Sul"-Lesungen gekommen sind. Die wenigsten können Arabisch, aber alle sind einschlägig gebildet und belesen in deutschsprachiger Literatur.

Da ist der Pastor von Celle, den Ott vor dreißig Jahren beim Studium in Jerusalem kennengelernt hat mit seiner Jerusalemer Frau, die einzige arabische Muttersprachlerin an diesem Abend. Gegenüber eine Juristin und zwei Lehrer, ein Akustiker, der bei Ott seit Jahren Arabischunterricht hat, ein Förster und seine Frau. Am Tischende sitzt Claudia Otts Lebensgefährte Martin Praetorius, ein Handwerksmeister, der historische Holzblasinstrumente baut. Und neben ihr der Journalist, der sich in dieser Dorfgemeinschaft gleich wie daheim in Kairo fühlt. Alles beginnt mit einem großen Palaver, alle stellen sich vor. "So ein Publikum", konstatiert Claudia Ott freudestrahlend: "Das pure Leben!" Leben und lebensnah sind zwei von Otts Lieblingswörtern.

"Exotisieren oder domestizieren", die alte Übersetzerfrage, steht im Raum

Diese Zuhörer nennt Ott ihre "Übersetzerwerkstatt". Es ist ein literarischer Salon wie im 19. Jahrhundert. Ihre Übersetzergehilfen weisen sie auf Unstimmigkeiten hin, sie ergänzen Textlücken, diskutieren einzelne Ausdrücke. Die Juristin ist bei den nicht seltenen juristischen Passagen hilfreich, der Pfarrer bei den nicht weniger häufigen theologischen Stellen, und die beiden Lehrer wissen natürlich um die aberwitzigsten Sonderlichkeiten. Oft geht es um Details. Ein Scheich sagt zu Sul "Mein Kind", man einigt sich auf "Mein Junge". Einmal ist von einem Gewand aus Tierblasen die Rede, gemeint sind Harnblasen. Der arabische Text ist eindeutig, die Hörer bleiben verwundert ob dieses Rätselbildes. Dabei handelt es sich doch nur um einen Fluganzug, mit dessen Hilfe ein Zauberer den Helden über weite Strecken durch die Luft transportieren wird.

Viele Einwände aus der Übersetzerwerkstatt sind pragmatisch, sie zielen auf Otts "Lebensnähe" und werden von der Übersetzerin begeistert aufgegriffen. Andere Stellen ziehen ausführliche Diskussionen nach sich. Einmal ist im Text von "Maghrebs und Maschriqs" die Rede, der Plural ist ungewöhnlich. Maghreb meint in der Geographie die nordwestafrikanischen Länder bis Marokko, den "arabischen Okzident", Mashriq ist das Gegenstück, wörtlich der "Orient". Aber die konkrete Geografie ist in dem 600 Jahre alten Manuskript nicht gemeint, eher "bis zu den östlichsten und westlichsten Gefilden der Erde". Immer wieder nimmt Claudia Ott die Kopie der Originalhandschrift zur Hand, liest Passagen auf Arabisch vor, springt zurück ins Deutsche.

"Exotisieren oder domestizieren", die alte Übersetzerfrage, steht im Raum: ob das Fremde als fremd belassen werden soll, oder ob es besser ist, dem deutschen Leser, dem die arabische Welt unvertraut ist, sie so verständlich wie möglich zu machen. Ott neigt zum dezenten Domestizieren. Das Verbindende betonen. Schließlich bleibt immer noch viel Fremdes, Überaschendes.

Eine Parabel auf die Zähigkeit in der Liebe und die Urgewalt der Wiederholung

"Tausendundeine Nacht" ist als Buch eine Fiktion. Es gibt davon nicht einen verbindlichen Text, den eine Übersetzerin bloß aus dem Bücherregal ziehen und übertragen müsste. Von "Tausendundeine Nacht" gibt es gefühlt 1001 unterschiedliche Ausgaben. Die berühmteste ist die französische von Antoine Galland. Der sammelte in Konstantinopel Münzen und lernte im Orient Sprachen, auch Arabisch. Sein großer Moment aber kam 1701, als er ein dreibändiges arabisches Manuskript aus Syrien zugeschickt bekam: "Tausendundeine Nacht". Den Titel kannte damals kein Mensch im Okzident. Doch die nach ihm benannte Galland-Handschrift, eine der ältesten und hinreißendsten "Tausendundeine Nacht"-Versionen, ist unvollständig. Sie bricht mitten in der Geschichte des Königs Kamarassaman ab, am Ende der 282. Nacht. Seither suchen die Orientalisten nach den Folgebänden. Fündig wurden sie nicht. Vielleicht gab es gar keine Fortsetzung?

Galland behalf sich, indem er für seine von 1704 an erscheinende zwölfbändige Druckausgabe andere arabische Geschichten einpasste, umschrieb, erfand. Der Welterfolg war überwältigend. Marcel Prousts "À la recherche du temps perdu" ist durchtränkt von Gallands Entdeckung, Edgar Allan Poe und Théophile Gauthier haben die 1002. Nacht beschrieben. 1704 darf als Geburtsstunde des Orientalismus gelten, an dem es heute so viel zu kritisieren gibt.

Bei einer Lesung kam eine Zuhörerin zu Claudia Ott und schenkte ihr einen Originalband der Galland-Ausgabe, sie könne ihn ja doch nicht mit ins Grab nehmen. Jetzt steht diese Preziose in Otts Bibliothek voller Wörterbücher und "Tausendundeine Nacht"-Ausgaben. An der Wand hängen Rohrflöten, Ott gibt mit orientalischen Musikern zusammen Konzerte.

Der Klang ist ihr, der Musikerin, beim Übersetzen das oberste Gebot

In ihrem neuen Band wird Ott vier Liebesgeschichten versammeln. Die erste bringt die Erzählung vom König Kamarassaman zu Ende. Ott hat die Fortsetzung mit einer anderen Übersetzerwerkstatt in Stein am Rhein erarbeitet. "Sul und Schumul", die abschließende Erzählung des Bandes, ist eine Parabel auf die Macht der Dichtung, die Zähigkeit in der Liebe und die Urgewalt insistierender Wiederholung.

Nachdem Schumul vom Drachen geraubt wurde, erscheint sie Sul im Traum in einer Mönchskutte. Also zieht Sul von Christenkloster zu Christenkloster, durch Mesopotamienen, Syrien und Palästina, er kommt nach Palmyra, Homs, Aschkalon, Aleppo, und fragt in gesungenen Versen nach seiner Schumul. Die Christenmönche, alle beherrschen ein gepflegtes Hocharabisch, antworten im gleichen Versmaß, im gleichen Reim. Keiner weiß, wo sie ist. Und geben immer den gleichen Rat: Vergiss sie, nimm dir eine andere. Aber Sul sucht weiter. Einmal werfen ihn Räuber in einen Brunnen, er wird von Feenfrauen, Dschinninen, gerettet, einmal legt er ein Gemetzel hin, bei dem James Bond vor Neid erblassen würde. Ott fasst strahlend zusammen: Sul ist Held, Dichter, Robin Hood, Liebender und Jammerlappen, der stundenweise in Ohnmacht fällt. Immer wieder aber sind es Frauen, die ihm weiterhelfen.

Die Mischung aus Prosa und Versen ist typisch für die arabische Literatur. Claudia Ott hat sich bei ihren Lyrikübertragungen von dem Dichter, Meisterorientalisten und Übersetzermagier Friedrich Rückert inspirieren lassen, der sich an den sechzehn komplizierten arabischen Versmaßen und an der strengen Reimstruktur orientierte. Die Langzeilen arabischer Gedichte reimen immer aufs gleiche Wort oder den gleichen Buchstaben. Diese Kunstform im Deutschen nachzubilden, ist schwer, aber Ott ist findig. Der Klang ist ihr, der Musikerin, beim Übersetzen das oberste Gebot, und dann heißen ihre Reimwörter: Süden - ermüden - Blüten - Gemüten - bemühten - vergüten - glühten - bieten - behüten. Das alles bindet sie ein in einen Duktus, der beim Vorlesen so richtig aufblüht.

Weitere Entdeckungen warten. Von einigen der Schätze weiß nur sie allein

Vorleser gab es in der arabischen Welt zuhauf. Ihre Doktorarbeit hat Ott über diese Tradition geschrieben. Wer lesen konnte, war in der von der Buchreligion Islam geprägten arabischen Welt schon immer ein Held - oder eine Heldin. In diese Tradition gehört Claudia Ott, wenn sie an ihrem Dielentisch vorliest. Aber sie ist auch eine akribische Forscherin. "Sul und Schumul" erschien erstmals vor 100 Jahren in einer fragmentarischen Fassung als eine "unbekannte Erzählung" aus Tausendundeiner Nacht. Mittlerweile gibt es eine wissenschaftliche Edition. Auch wenn Ott jeden Buchstaben direkt aus den Handschriften übersetzt, wäre es, so sagt sie, ein grober Fehler, die neueste Forschung nicht zu berücksichtigen.

Zuerst klärt Ott anhand der Manuskriptkopien strittige Stellen und Wörter. Dann fertigt sie, immer handschriftlich, eine Vorübersetzung. Sie schreibt die Rohübersetzung in ein handgebundenes Buch, aus dem sie ihrer Übersetzerwerkstatt vorliest und wo sie deren Korrekturen mit grüner Tinte notiert. Am Schluss jeder Lesung lässt sie die Teilnehmer der Übersetzerwerkstatt mit ihren Namen unterzeichnen, damit sie sich erinnern kann, von wem die Hinweise kamen, die in den Text eingeflossen sind. Daraufhin tippt Ott ihr Manuskript in den Computer, der Text geht zum Verlag, und im letzten Schritt gleicht die Übersetzerin das Ergebnis der Lektoratsarbeit dann mit dem Original ab.

Mittlerweile dürfte das Manuskript des neuen Bands beim Lektor des Beck-Verlags in München liegen. Claudia Scharasad Ott aber, deren Wecker in Arbeitsphasen immer um 4.44 Uhr klingelt, plant längst weiter. In der Universitätsbibliothek Tübingen liegt noch eine andere "Tausendundeine Nacht"-Handschrift, es ist die einzige illustrierte. Und weitere Entdeckungen warten. Von einigen der Schätze weiß nur sie allein, andere sind der Wissenschaft seit Langem bekannt. Mehr will sie nicht verraten. Eines aber ist sicher. Wenn sie weitermacht, dann wird es auch wieder eine Übersetzerwerkstatt in Beedenbostel geben, wo aus der zweischnabeligen Teekanne ausgeschenkt wird, während draußen Scharrasad, die scharrfreudigste ihrer Hennen, und die anderen sieben Hühner die Katze verfolgen und womöglich einer der 49 Wölfe ganz in der Nähe heult.



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