Berlin: Israelis und Palästinenser vereint durch Musik
"Das erste was ich gedacht habe, war tatsächlich: Wie wird es sein mit unseren Studierenden? Wie werden sie damit umgehen? Wie entwickelt sich das hier?" Michael Barenboim, der Dekan der Barenboim-Said-Akademie, war in Wien, als die Hamas Israel am 7. Oktober angriff. Am Folgetag kehrte er an die Musikakademie zurück - im Wissen, dass die laufenden Entwicklungen seine Studierenden direkt betreffen würden. Viele von ihnen sind Israelis oder Palästinenser.
"Die Spannung war schon greifbar", erinnert er sich an seine ersten Eindrücke nach der Rückkehr an die Akademie. Nur zehn Tage nach dem Angriff sollte das neue Semester beginnen. Neue Studierende waren bereits für eine Orientierungswoche anwesend. Sie hatten sich nun gleich auf zwei Weisen zu orientieren: Einerseits versuchten sie, herauszufinden, was bei ihnen zu Hause passierte, während sie sich parallel an ihre neue Umgebung in Berlin anpassen mussten.
Ungefähr zwei Wochen später, am 23. Oktober, würde das junge Orchester der Akademie sein erstes Konzert des Semesters im Pierre Boulez Saal geben.
Junge israelische und arabische Musiker zusammenbringen
Die Barenboim-Said-Akademie ist anders als jede andere Einrichtung dieser Welt. Zum Wintersemester 2016/2017 wurde sie von Michael Barenboims Vater, dem Stardirigenten und Pianisten Daniel Barenboim eröffnet - als Fortsetzung der Mission, die Barenboim mit dem verstorbenen US-amerikanischen Literaturtheoretiker palästinensischer Herkunft Edward Said und dem West-Eastern Divan Orchestra begonnen hatte. Das Orchester bringt seit 1999 junge arabische und israelische Musiker zusammen.
Der Lehrplan der Musikakademie legt auch einen Schwerpunkt auf geisteswissenschaftliche Studien. Zusätzlich zu ihren musikalischen Proben kommen die Studierenden zusammen, um Philosophie und Geschichte in Anlehnung an Edward Saids Annahme zu lernen, dass "Humanismus (...) die einzige, genauer, die letzte Verteidigungslinie (ist), die wir haben, um uns gegen die unmenschlichen Exzesse und Ungerechtigkeiten zu wehren, die unsere Menschheitsgeschichte verunstalten".
Heute bringt die Musikakademie Israelis und Palästinenser sowie junge Musikerinnen und Musiker aus Iran, Libanon und Syrien zusammen. Weitere 20 bis 25 Prozent der 80 Studierenden kommen nicht aus dem Nahen Osten, sie bilden einen Pool junger Talente "aus 27 Nationen", stellt die Rektorin der Akademie, Regula Rapp, heraus.
Einen geschützten Raum schaffen
Zu Beginn des aktuellen Semesters bemerkten die Studierenden, dass sie mehr als den geplanten Unterricht benötigen, um über die Ereignisse zu diskutieren. "Es gibt ganz viele Emotionen. Es gibt Trauer und Wut, es gibt wahnsinnig viel Angst" - Angst um Familien und Freunde, um das Zuhause und um ihre Zukunft, erklärt Rapp. "Es entwickelt sich alles von Tag zu Tag."
Die Studierenden organisierten zügig Meetings, sodass sie ihre Ansichten regelmäßig austauschen konnten. Die Akademie hat außerdem eine psychologische Beratung eingerichtet und Therapeuten gefunden, die Sitzungen auf Hebräisch und Arabisch anbieten.
Wachsender Antisemitismus in Berlin
Jüdische und israelische Studierende beobachten den wachsenden Antisemitismus in Berlin, berichtet Michael Barenboim. Zur gleichen Zeit, fügt er hinzu, sind auch die Palästinenser mit einer besonderen Situation in Deutschland konfrontiert, in der sie das Gefühl haben, "dass sie sich nicht ausdrücken dürfen, dass sie sich nicht versammeln dürfen", betont Barenboim. Damit nimmt er Bezug auf das in Berlin verhängte Demonstrationsverbot zur Unterstützung der im Gazastreifen eingeschlossenen Palästinenser. Die Behörden der deutschen Hauptstadt fürchten, bei den Zusammenkünften könnte es zu antisemitischen Parolen und anti-israelischer Hetze kommen.
Deshalb möchte die Akademie sicherstellen, "wenn die Studierenden hierher kommen, dass sie sich hier sicher fühlen, dass sie sich sicher und frei äußern können, was sie auch tun, und dass sie einfach einen Ort haben, an dem sie zusammen sein dürfen." Die Studierendenvereinigung und die Akademie-Leitung haben vereinbart, die Akademie als einen sicheren Ort für die Studierenden zu betrachten, sagen Rapp und Barenboim. Um den sicheren Ort zu schützen, haben sie beschlossen, den Medien keinen Zugang zu den Meetings der Studierenden zu gewähren und zusätzlich die Studierenden gebeten, Presse-Interviews zu vermeiden.
Vereint durch Musik und eine gemeinsame Vision
Was die Interpretation der Ereignisse durch die Studierenden betrifft, so stellt Barenboim fest, dass die palästinensischen Studierenden den 7. Oktober eher als Teil eines größeren historischen Kontextes sehen, während für die Israelis die Terroranschläge der Hamas alles verändert haben. Das ist nur ein Beispiel, sagt er, das zeige, wie die Wahrnehmung ein- und desselben Ereignisses voneinander abweichen kann. "Und trotzdem sind wir uns alle, glaube ich, einig, dass wir hier bleiben wollen", fügt der Dekan hinzu.
In der Tat haben die Studierenden etwas, das sie vereint: die Musik. Sie können sich auf die Stücke konzentrieren, die sie einstudieren. "Gemeinsam etwas (zu) erarbeiten, also unsere tägliche Arbeit, hat, glaube ich, schon zu einem Zusammenhalt geführt", so Akademie-Rektorin Regula Rapp. Zudem seien sie geleitet von der Utopie, die zur Gründung der Akademie führte.
Die Studierenden schrieben in einem Statement im Programmheft ihres Konzerts vom 23. Oktober, das mit einer Schweigeminute begann: "Für viele von uns ist es sehr schwierig, gerade jetzt ein Konzert zu spielen. Doch selbst in diesen dunkelsten Momenten folgen wir dem Beispiel unserer Gründer Daniel Barenboim und Edward Said."
"Unsere Friedensbotschaft muss lauter sein denn je"
Für Daniel Barenboim müssen diese Ideale verfolgt werden - heute mehr als je zuvor: "Unsere Friedensbotschaft muss lauter sein denn je. Die größte Gefahr ist doch, dass all die Menschen, die sich so sehnlichst Frieden wünschen, von Extremisten und Gewalt übertönt werden", schrieb er in einer Mitteilung, die vor dem Konzert verbreitet wurde. Und er fügte hinzu: "Beide Seiten müssen ihre Feinde als Menschen erkennen und versuchen, ihre Sichtweise, ihren Schmerz und ihre Not nachzuempfinden. Israelis müssen auch akzeptieren, dass die Besatzung Palästinas damit nicht vereinbar ist."
Wie Michael Barenboim herausstellt, gebe es wenige Orte weltweit, an denen Palästinenser und Israelis so eng zusammenarbeiten wie in der Barenboim-Said-Akademie. "Dieses Konzert wird natürlich keinen Frieden bringen, das denkt auch keiner", so Barenboim. "Aber es ist eine alternative Art, darüber nachzudenken, wie man in der Region zusammenleben kann, die eben nicht auf Bomben und Waffen beruht, sondern auf Zusammenarbeit, Dialog und Zuhören."
Zum Schluss zieht er das Fazit: "In der Musik ist es Wichtigste, einander zuzuhören."
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Adaption aus dem Englischen: Verena Greb