Fehlende Selbstkritik
Bahnt sich bald eine positive Wende im Irak-Konflikt an? Kann das Vertrauen zwischen Sunniten und Schiiten, das aus jahrhundertelangem Zusammenleben gewachsen ist, wiederhergestellt werden? Diese Fragen wirft der Journalist und Schriftsteller Slaheddine Jourchi auf.
Eine Delegation des "Bundes der muslimischen Rechtsgelehrten" machte sich auf dem Weg nach Teheran. Unter den Gesandten befanden sich drei Persönlichkeiten, die sowohl für ihre organisatorische Unabhängigkeit als auch für ihre Zugehörigkeit zum Mainstream in der islamistischen Bewegung in der arabischen Region bekannt sind.
Gemeinsam mit den iranischen Vertretern aus Religion und Politik wollte die Delegation die Zukunft der sunnitisch-schiitischen Beziehungen erörtern. Grund dafür sind die im Irak, aber auch anderswo wachsenden Spannungen und Aggressionen zwischen Sunniten und Schiiten.
Nach der Zusammenkunft reisten die Delegationsteilnehmer mit positiven Eindrücken und gegenseitigen Versprechen wieder ab.
Nationalistisch-islamistische Konferenz
Diese Initiative war das Ergebnis zweier wichtiger Konferenzen, die im Laufe der letzten zwei Monaten in Doha (Katar) stattgefunden haben. Die erste Konferenz besuchten im Dezember 2006 Nationalisten und Islamisten.
Die Anhänger beider Ideologien hatten sich in der Nasser-Ära und der Baath-Zeit einen blutigen Verdrängungskampf geliefert. Deshalb ergriff das "Zentrum für Studien zur Arabischen Einheit" die Initiative, Intellektuelle aus dem Lager der arabischen Nationalisten und dem der Islamisten regelmäßig zu Veranstaltungen einzuladen.
Während zahlreiche arabische Länder die Zusammenarbeit mit Nationalisten und Islamisten ablehnen und sie neben vielen Gruppierungen als Urheber von politischen Krisen und religiösem Fundamentalismus ansehen, erklärte sich Katar bereit, die sechste nationalistisch-islamistische Konferenz auszurichten, an der 240 Vertreter der wichtigsten Bewegungen teilnahmen.
Islamisten und Nationalisten schlagen Alarm
Auf der Konferenz beschäftigten sich die Teilnehmer mit zwei Kernthemen. Das erste betraf Palästina. Die Mehrheit der Konferenzteilnehmer bekundete ihre Solidarität mit der Hamas-Regierung, die ebenfalls durch eine hochkarätige Delegation auf der Konferenz vertreten war und vom Vorsitzenden der Hamas-Bewegung, Khalid Mashaal, angeführt wurde.
Die Konferenzteilnehmer verteidigten die Legitimität der palästinensischen Autonomieregierung und deren Politik, die am Recht auf Widerstand festhält und die internationalen Bedingungen ablehnt.
Das zweite Kernthema betraf den Irak. Einmütig verurteilten die Konferenzteilnehmer die amerikanische Besatzung und sprachen sich für eine Legitimierung des bewaffneten Widerstands aus.
Die am Rande der Konferenz und in einigen Diskussionsrunden von den Nationalisten und Islamisten aufgeworfenen Fragen zur Rolle Irans im Irak, spiegelten zum ersten Mal die Sorgen der sunnitischen Teilnehmer wider. Daher wurde zum Abschluss der Konferenz der Vorschlag gemacht, eine Delegation für einen Besuch in Teheran zusammenzustellen.
Sunniten und Schiiten: Dialog mit Emotionen
Knapp einen Monat später wurde bereits die zweite Konferenz, ebenfalls in Doha, abgehalten. Dieses Mal sollte sich das Kernthema "der Annäherung zwischen den islamischen Religionsgemeinschaften" widmen.
Danach hätte es sich mit der Situation aller sechs großen islamischen Religionsgemeinschaften befassen sollen. Stattdessen kam es während der gesamten Konferenz zu einer Art Abrechnung zwischen Sunniten und Schiiten und damit zu einer Neuauflage der alten Konflikte zwischen den beiden Religionsgemeinschaften.
Scheich Yusuf al-Qaradawi rief zu einem offenen, vorbehaltlosen und verantwortungsbewussten Dialog auf. Al-Qaradawi, der eine einflussreiche Stellung in den Reihen der Sunniten und insbesondere in den islamistischen Bewegungen genießt, machte die jetzige Krise an drei Streitpunkten fest.
Religiöse Differenzen als Streitursache
Im ersten Punkt machte er deutlich, dass die Streitursache nicht dem islamischen Rechtsverständnis, sondern dem Glauben selbst zugrunde liege. Der schiitische und der sunnitische Glaube unterscheiden sich laut al-Qaradawi in den Grundfragen und nicht in den Details.
Er veranschaulichte anhand von Beispielen die Brisanz dieses Problems und führte an, dass die Sunniten ausnahmslos alle Gefährten des Propheten respektierten, während die Schiiten Abu Baker, Omar Ibn Al-Khattab und Mohammeds Ehefrau, Aischa, verfluchten, weil diese mit Ali Ibn Abi Taleb in der Frage der Nachfolge des Propheten uneins gewesen sei.
Der zweite Punkt betraf die Missionierungsarbeit der Schiiten in den sunnitisch dominierten Regionen. Den Schiiten sei es in einigen Fällen gelungen, eine Reihe von schiitischen Zentren in zahlreichen Ländern wie Ägypten, dem Sudan, Marokko, Tunesien und dem Jemen zu gründen. Diese Zentren verursachten große Spannungen zwischen Sunniten und Schiiten, so al-Qaradawi.
Der dritte Streitpunkt löste heftige Reaktionen bei den Konferenzteilnehmern aus. Er bezog sich auf die irakischen Sunniten, die Hinrichtungen und religiös motivierten Morden und Vertreibungen zum Opfer fallen. Dafür sieht al-Qaradawi die Verantwortung beim Iran.
Die Delegierten störte die Behauptung al-Qaradawis, die Schiiten hätten über Jahrhunderte in Frieden und Sicherheit unter dem Schutz der sunnitischen Mehrheit gelebt. Einige der Teilnehmer verstanden seine Ausführung als religiöse Ausgrenzung, die die Zugehörigkeit der schiitischen Minderheit zum arabischen Raum infrage stelle.
Gemäßigte Reaktionen seitens der Schiiten
Die schiitischen Gelehrten hingegen überraschte der scharfe Ton der Redner. Ihre Reaktionen fielen jedoch ruhiger aus, allen voran die Reaktionen des Ayatollah al-Tasskhiri, der für seine Bemühungen zur Überwindung geschichtlich-religiöser Streitigkeiten bekannt ist. Dieser Aufgabe geht er als Präsident der Vereinigung für die Annäherung zwischen den islamischen Religionsgemeinschaften nach, die ihren Sitz in Teheran hat.
Die schiitische Seite erklärte ihrerseits, dass Provokationen aus beiden Lagern vermieden werden sollten. Sie forderte einerseits von den Schiiten, die Gefährten des Propheten nicht länger zu diskreditieren.
Andererseits rief sie die sunnitischen Fanatiker auf, die Schiiten nicht mehr als Ungläubige oder Nichtmuslime zu bezeichnen und die Angriffe auf die Gräber schiitischer Geistlicher zu unterbinden. Sie wies zudem auf den radikalen Flügel hin, der unterschiedslos eine Kampagne gegen die Schiiten führt.
Darüber hinaus befürwortete sie die Beendigung der Missionierungsarbeit in vollständig sunnitisch dominierten Ländern. Dies gelte wiederum auch für das Verbreiten des sunnitischen Glaubens im Iran.
Irak-Konflikt politisch motiviert
Zur Lage im Irak betonten die schiitischen Vertreter, dass der dortige Kampf ein politischer sei, der unter dem Deckmantel des Glaubens geführt werde. Hierzu führten sie die Rolle des Terrornetzwerkes Al-Qaida an, das Zwietracht zwischen den islamischen Religionsgemeinschaften säen wolle.
Die schiitischen Konferenzteilnehmer zitierten eine von einer offiziellen irakischen Stelle geführte Statistik, nach der 70 Prozent der Opfer des religiös motivierten Mordens Schiiten seien.
Die schiitischen Vertreter bezeichneten einige Äußerungen der Gegenseite als Fehlinformationen bzw. falsche Interpretation von Fakten. Doch ungeachtet dieser Erläuterungen hielten die sunnitischen Delegierten um al-Qaradawi weiter an ihrer kritischen Haltung gegenüber dem Iran und den Schiiten fest.
Dies rief bei den anderen Teilnehmern Unmut hervor, und die Stimmung drohte ins Negative umzuschlagen, was nach Einschätzungen einiger Beobachter Folgen in einem in der gesamten Geschichte der sunnitisch-schiitischen Beziehungen noch nie da gewesenen Ausmaß haben würde.
Irak: eine Zeitbombe mit Folgen für alle
Die Delegationsreise des "Bundes der muslimischen Rechtsgelehrten" nach Teheran war der Versuch, dem negativen Trend in den sunnitisch-schiitischen Beziehungen entgegenzuwirken. Die Delegierten wollten die iranischen Vertreter davon überzeugen, dass schnelles Handeln notwendig sei, um die religiös motivierten Unruhen zu beenden und die Ursachen für Misstrauen und Aggression zu bekämpfen, die in den letzten Monaten die gesamte Region erfassten.
Bahnt sich bald eine positive Wende bei den unkontrollierten Unruhen im Irak an? Kann das Vertrauen zwischen Sunniten und Schiiten, das aus jahrhundertelangem Zusammenleben gewachsen ist, wiederhergestellt werden?
Scheich Hasan Nasrallah, der Vorsitzende der Hisbollah, rief die Sunniten auf, nicht alle Schiiten über einen Kamm zu scheren. Denn er hatte festgestellt, dass die Situation im Irak einen negativen Einfluss auf das Image der Partei außerhalb des Libanon, aber auch im Inneren des Landes habe.
Auch kluge Köpfe im Iran haben zunehmend festgestellt, dass sich zum Konflikt im Irak ein weiteres Problem hinzugesellt. Er schadet nämlich dem Image Irans in der Region und läuft den Bestrebungen der iranischen Diplomatie seit der Ära Rafsandschani und Khatami zuwider.
Sie hatten sich zum Ziel gesetzt, Vertrauen zu den Nachbarstaaten – vornehmlich den Golfstaaten – herzustellen, was zusehends dringlicher wird, seitdem das iranische Atomprogramm sich in einer kritischen Phase befindet. Es sollte oberste Priorität haben in einer Zeit, in der die Spannungen zunehmen und einen möglichen Ausbruch eines erneuten Krieges in der Region prophezeien.
Von Slaheddine Jourchi
Aus dem Arabischen von Raoua Allaoui
© Qantara.de 2007
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