Ratschläge aus der Vergangenheit
"So geht es einfach nicht", entscheidet Otabek Nayimow. Er sitzt an einem wie immer sonnigen Augustmorgen beim Frühstück. Aber er fühlt sich innerlich eher nach Herbst, kraftlos, ohne Motivation. Und weil er den Sommer über noch viel zu erledigen hat, ist ihm klar, dass es so nicht geht.
Also steigt er in seinen weißen Daewoo Kleinwagen und fährt los. Otabeks Wohnviertel, das ist Yunusobod, ein Vorort von Taschkent, dessen Bild von grauen Wohnblocks aus Sowjetzeiten beherrscht wird.
Ferusa Tadschiwa wohnt nur wenige Minuten entfernt. Sie hat Otabek nach kurzem Geplauder auf einem Polster Platz nehmen lassen. Nun sind beide sehr still.
Dann beginnt Ferusa zu murmeln, greift in die Luft, schüttelt ihre Gebetskette und klopft damit ihren Patienten ab. Schließlich holt sie ein großes, scharfes Messer hervor und scheint damit um Otabek herum eine Vielzahl unsichtbarer Dinge zu zerschneiden.
Ferusa ist eine "Otin", eine traditionelle usbekische Heilerin. Ihr Lebenslauf ist geradezu exemplarisch für eine Frau in ihrer Funktion.
Glaube an Geister
Wenige Monate nach der Geburt war sie sehr krank. Es ist diese temporäre Nähe zum Tod, die den "Otinen" ihre speziellen Kräfte gibt, wie man glaubt. Die ersten Anzeichen von Ferusas erwachenden Fähigkeiten kamen rund fünf Jahre später.
"Es war häufig so, dass ich abends im Bett noch wach lag, wenn schon alle schliefen. Und dann sah ich die Bilder an der Decke und den Wänden. Heroische und fantastische Gestalten, die sich dort bewegten."
Ferusas Mutter erklärte ihr, sie solle weniger Zeichentrickfilme schauen. Aber das half nicht. Mit acht Jahren stand nachts plötzlich Ferusas Urururgroßvater neben ihrem Bett, ein Hüne aus einem anderen Zeitalter mit schulterlangen Haaren.
Seitdem hört sie seine Stimme und lässt sich von seinen Worten leiten. Auch im Fall von Otabeks Antriebslosigkeit lauscht sie einfach nach innen und gibt die Ratschläge ihres Urahnen wieder.
Der Glaube an Geister und ihre Interaktion mit Menschen sitzt tief in der usbekischen Kultur. Und das, obwohl Usbekistan ein Land mit starker islamischer Tradition ist. Eine Tradition der hanafitischen Rechtsschule allerdings, die für ihre Toleranz gegenüber vorislamischen religiösen Praktiken bekannt ist.
Religiöser Synkretismus
Verschiedene Quellen speisen den usbekischen Geisterglauben: Da sind die alten Vorstellungen der nomadisierenden Turkvölker, das schamanistische Erbe. Und die untergegangene iranische Glaubenswelt mit ihrem Feuerkult, das zoroastrische Erbe.
Schließlich brachten die Araber auf ihrem Eroberungszug die Furcht vor den "Dschinnen" mit. Die "Dschinne", ein Wort aus dem Arabischen, sind Geister, die schon lange in der Vorstellung der Wüstenstämme existierten, um dann in die islamische Religion Eingang zu finden.
Sie sind Geschöpfe Gottes, aber anders als der Mensch nicht aus Lehm, sondern aus Feuer geschaffen, wie es im Koran heißt. Die zentralasiatische Dämonologie kennt sie zumeist als unangenehme Zeitgenossen.
Angst vor Dschinnen
Anwarali Aka ist ein "Domla", ein Korangelehrter, der von Menschen in Not aufgesucht wird. So auch von Geistbesessenen.
"Einmal hatte ich einen besonders schweren Fall, der Menschen mit Tierköpfen sah", erinnert er sich. "Einen menschlichen Leib und darauf den Kopf einer Kuh, einer Ziege, eines Esels oder Schafes. Manchmal mehrere Köpfe auf einmal." Um den "Dschinn" auszutreiben, empfahl er rituelle Waschungen und das Rezitieren des Glaubensbekenntnisses. So wurde der Besessene befreit.
Der Volksislam akzeptiert Geister als Teil des Alltags und behandelt sie auch dementsprechend. Gleich neben der großen "Kukaldasch"-Medresse – oder Koranschule – von Taschkent, am Eingang zum "Tschorsu"-Basar, wo es geschäftig wimmelt, finden sich eine Reihe von Ständen. Hier bekommt man fromme Kopfbedeckungen, Talismane gegen den bösen Blick und religiöse Literatur.
Wege, sich vor "Dschinnen und Teufeln zu schützen" heißt ein Ratgeber. Er klärt darüber auf, wo "Dschinne" anzutreffen sind, im Allgemeinen an schmutzigen Orten, wie Toiletten, aber auch am Schlafplatz von Kamelen.
Tritt man auf einen "Dschinn" oder begießt ihn versehentlich mit heißem Wasser, kann ihn das, dem Ratgeber zufolge, so wütend machen, dass er in den Unglücklichen hineinfährt. Auch bei einer Schlange auf dem eigenen Grundstück könne es sich um einen "Dschinn" handeln.
Die Augustsonne versinkt am Steppenhorizont und Dunkel legt sich über Taschkents Straßen. Nach dem Lesen einiger Koranverse fühlt Otabek sich schon kraftvoller. Ferusa und ihrem Urahnen sei dank.
Eines nach dem anderen erlöschen die Lichter in den Fenstern der Wohnblockreihen. Die menschlichen Bewohner Taschkents begeben sich zur Ruhe. Die dem Feuer Entstiegenen aber beginnen ihren Tanz durch die Nacht.
Jesko Schmoller
© Qantara.de 2007
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