"Wenn die ISAF-Truppen weggehen, haben wir wieder Bürgerkrieg …"
"Nach 23 Jahren Krieg hat sich die Situation in Kabul deutlich verbessert, der Aufbau des Landes hat begonnen. Die Kinder gehen zur Schule, und das ist eine Hoffnung für uns. Ich schätze, dass die ISAF-Truppen mindestens zehn Jahre in Afghanistan bleiben können“, sagt Naqibullah, der Dolmetscher der Bundeswehrsoldaten in Afghanistan. Er begleitet die Einsatzkräfte auf ihren täglichen Patrouillen-Fahrten durch Kabul. Und er arbeitet mit deutschen Journalisten zusammen, die sich vor Ort einen eigenen Eindruck von der Situation verschaffen wollen, die Beweise dafür suchen, dass Afghanistan auf dem Weg zu einem Rechtsstaat ist.
Auf diese zentrale Zielsetzung hatten sich Vertreter der politisch relevanten Gruppen Afghanistans auf der Petersberger Konferenz vom November 2001 geeinigt. Naqibullah, der davon lebt, die Alltagserfahrungen der Afghanen, ihre Hoffnungen, Klagen und Enttäuschungen in deutsche Worte zu fassen, weiß aber auch, dass den Menschen in Kabul die Angst im Nacken sitzt: "Wenn die ISAF- Truppen aus Afghanistan weggehen, dann haben wir vielleicht wieder Bürgerkrieg."
Vom Abzug der ISAF-Truppen ist derzeit nicht die Rede, vielmehr mehren sich die Stimmen, die eine Ausweitung des Mandats über die Hauptstadt Kabul hinaus verlangen. Die afghanische Regierung hat sich inzwischen mit einer entsprechenden Bitte an die Bundesregierung gewandt. Deutschland übergibt im August die ISAF-Führung an die NATO, dadurch werden Kapazitäten frei, 700 bis 1.000 Mann.
„Nicht nur auf Kabul beschränken“
Oberstleutnant Paul Vosseler, der frühere Leiter des Presseinformationszentrums der Bundeswehr in Kabul, sieht darin eine Chance: "Meine persönliche Meinung ist, dass die internationale Gemeinschaft sich anstrengen und sich ins Land hinein ausdehnen muss. Nicht nur mit NGO-Kräften, sondern auch mit entsprechenden Machtmitteln. Weil der ganze Prozess der Stabilisierung des Landes nur dann Erfolge bringen kann, wenn man sich nicht nur auf Kabul beschränkt, sondern auch die Möglichkeit bietet, dass gesamtstaatliche Funktionen sich auch auf die Provinzen ausdehnen."
Nur wenn die Rolle der Zentralregierung gestärkt werde, so der afghanische Außenminister Abdullah Abdullah, werde es möglich sein, die Sicherheitslage in allen Teilen des Landes soweit zu stabilisieren, dass die für Juni 2004 geplanten ersten freien Wahlen auch durchgeführt werden können.
Polizei-Akademie unter deutscher Führung
Bis dahin gilt es, die Milizen der Provinz-Gouverneure zu entwaffnen und eine nationale Polizei-Truppe auf die Beine zu stellen. Die unter deutscher Führung aufgebaute Polizei-Akademie muss hier Detailarbeit leisten. "Wir bilden die Polizei aus und vermitteln dabei bestimmte Basisverhaltensweisen“, so Oberstleutnant Vosseler. „Wie führt man eine Streife durch? Wie kontrolliert man Personen? Wie schreibt man einen Bericht? Das sind ganz einfache Dinge. Es gibt schon erhebliche Polizeikräfte, aber das sind überwiegend ehemalige Mudschahedin-Kräfte, die außer dem Kampf nichts kennen, und denen natürlich das Verständnis fehlt, wie man mit der Bevölkerung in einem rechtsstaatlichen System umgeht."
Staatskunde im weitesten Sinne ist der Schlüssel zum Aufbau eines demokratischen Systems. Die deutsche Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ), die in Afghanistan schon die erste Große Ratsversammlung im vergangenen Jahr unterstützend begleitet hat, bemüht sich jetzt in Workshops landesweit um die Vermittlung von politischer Bildung und neuen Werten. So muss zum Beispiel der Begriff "Partei" erst wieder neu definiert werden. Denn nach der Zeit der sowjetischen Besatzung verbinden viele damit immer noch die kommunistische Partei.
Demokratisierungsprozess wird dauern
Naqibullah, der Dolmetscher, weiß, dass die Zeit viele Wunden heilen kann. "Wir haben früher, bis 1979, eine ganz hohe Kultur gehabt“, erzählt er, „also können wir auch eine gute Demokratie haben. Aber weil die Menschen durch die Taliban unterdrückt wurden - fünf Jahre lang, von 1996 bis Ende 2001 - wird dieser Demokratisierungsprozess jetzt ein bisschen dauern. Alle haben Vertrauen, aber das muss ein bisschen vertieft werden."
Und die Sicherheitslage muss verbessert werden. UN-Generalsekretär Kofi Annan hat sich unlängst besorgt über wachsende Terror-Aktivitäten vor allem im Süden und Osten des Landes geäußert. Anschläge gegen internationale Hilfsorganisationen mehren sich. Oberstleutnant Vosseler schätzt die Lage zwar als instabil, aber dennoch als grundsätzlich beherrschbar ein, allerdings mit einer gravierenden Einschränkung: "Gegen Selbstmord-Anschläge ist kein Kraut gewachsen, weil der Attentäter den Ort bestimmen kann, die Wahl der Mittel und den Zeitpunkt."
Rückkehr der Frauen ins öffentliche Leben
Im Oktober wird eine weitere Loja Dschirga in Kabul tagen, um eine Verfassung zu verabschieden. Unter den 500 Ratsmitgliedern werden auch 64 Frauen sein. Viele Afghaninnen, die es immer noch nicht wagen, die Burka abzulegen, hoffen, dass auch spezielle Gesetze zum Schutz der Frauen in die Verfassung aufgenommen werden. Naqibullah sieht, dass zumindest in Kabul die Frauen wieder ins öffentliche Leben zurückkehren:
"Nach dem Abzug der Taliban genießen die Frauen eine neue Freiheit. Die Frauen können in verschiedenen staatlichen Einrichtungen arbeiten, sie können auch für die Präsidentschaft kandidieren. Frauen arbeiten auch in verschiedenen NGO's als Dolmetscherinnen. Das ist eine große Entwicklung für uns, dass Frauen als Dolmetscherinnen arbeiten können. Man kann nicht an einem Tag alles machen."
Und es ist noch viel zu tun. Amnesty International zufolge geht derzeit nur ein Drittel der Mädchen zur Schule, das durchschnittliche Heiratsalter der Afghaninnen liegt bei 15 Jahren, Zwangsheiraten sind auf dem Land die Regel.
Die Europäische Union hat Ende Juli die ersten 80 Millionen Euro aus einem Gesamtpaket in Höhe von 400 Millionen freigegeben. Das Geld soll zur Unterstützung des Wiederaufbaus eingesetzt werden. Ein Beitrag zur Verwirklichung dessen, was sich Naqibullah sehnlich wünscht: "Für mich und für mein Volk wünsche ich mir, dass auf der ganzen Welt Frieden kommt, besonders in Afghanistan …, und bessere Lebensbedingungen."
Mirjam Gehrke
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